EIN ANTIHEGEMONIALES PROJEKT: Die konsequente Linke und der „Sozialismus“

Das Ende der Geschichte lässt sich am deutlichsten an Deutschland, dem Kern des neolibera­len Europa beobachten. Da ist die Linke ganz und gar furchtsam geworden. Von „Sozialis­mus“ und einigen seinen zentralen Themen, von Gleichheit, Planung, usw., reden nur mehr versprengte Grüppchen. Radikale Opposition ist eine Rhetorik der weit rechts Stehenden geworden. Und in Österreich ist es nicht anders, vielleicht noch ein bisschen trister.

Am deutlichsten zeigt sich dies in der EU-Frage. Bis weit in die kargen Reste der radikalen Linken hinein wird „Europa“ beschworen. Die Genossen begreifen oft nicht einmal, dass dies nur ein abstraktes Wort für die EU ist, die als solche denn doch anrüchig geworden ist.

Ironischer Weise ist dies in den USA deutlich anders. Auf dortigen Universitäten sind „European Studies“ eindeutig ein konservatives intellektuelles Gegen-Pro-gramm zu „Subaltern Studies“, die es im Übrigen auch kaum mehr gibt.

Was kann man der bleiernen, erdrückenden Hegemonie entgegensetzen? Und wo? Vor vier Jahrzehnten, im Gefolge der Studenten-Bewegung, schien die intellektuelle Welt ganz auf Sozialismus orientiert. Aber mit dem Wort „Studenten-Bewegung“ ist auch klar: Das war eine Intellektuellen-Bewegung. Dagegen war Josef Bachmann, der Rudi Dutschke 1968 abschoss, ein junger Hilfsarbeiter.

 

Die Krisen und ihre harte Dialektik:

„Das Kapital [konnte] immer schon auf soziale Eingriffe in den Markt, die ihm zu weit gingen, mit Krisen reagieren“ (Streeck 2013, 94).

„Alle Krisen legen den Kern der Erscheinungen oder der Prozesse bloß. … Nichts offenbart so gut die wirklichen Beziehungen zwischen den Klassen, die wirkliche Natur der modernen Gesellschaft“ (Lenin, Werke 17, 175).

 

Gehen wir in die Gegenwart.

Das Volksbegehren für den EU-Austritt 2015 erhielt 261.000 Unterschriften, obwohl von einer fast sektenhaften Mikropartei organisiert. Das Volksbegehren gegen TTIP und CETA erhielt heuer 563.000 Unterschriften. Viele Menschen wollen sich organisieren, und wenn die Aktion institutionell noch so sinnlos ist, wie es Volksbegehren eben sind. Und beide Initiati­ven richteten sich gegen globalistische Kapitalismus-Projekte. Sie strebten beide keineswegs den Sozialismus an.

Sozialismus war im Sprachgebrauch der an der Sowjetunion orientierten Kommunistischen Parteien ein Leitbild zur Mobilisierung der Massen im Kampf um die politische Macht. Es war ein abstraktes Versprechen eines dauerhaft gesicherten guten Lebens – durchaus i. S. der antiken Moral-Philosophie – in einer fernen Zukunft. Es war, m. a W., ein Sorel’scher Mythos.

Die Konkretisierung dieses abstrakten Versprechens in der realen Politik folgte zwei Pfaden. Die Idealisierung des „realen Sozialismus“, nämlich der sozialen und politischen Strukturen in der Sowjetunion, war basal für die meisten der Kommunistischen Parteien; aber sie war in den 1920ern auch in einigen Sozialdemokratischen Parteien ansatzweise gegeben, auf der Ebene der Mitglieder jedenfalls, wenn schon nicht auf der Ebene der Führung. Daraus wurde abgeleitet eine kämpferische System-Opposition, welche die Grundzüge des herrschenden Systems attackierte und versuchte, sie in ihren Folgen für das Alltagsleben der Unterschichten begreiflich zu machen. Diese ständige politische Agitation und Kontestation machte diese Parteien und Gewerkschaften denn auch in einigen Ländern Westeuropas zu wesentlich progressiven Kräften.

Außerhalb Europas war dies weniger eindeutig. Da nannten sich einfach Entwicklungs-Diktaturen sozialistisch, wenn sie nur kritisch zur USA standen. So wurden derart blutige und schmutzige Regime wie das Äthiopien des Mengistu Haile Marjam zu „sozialistischen Staaten“. In ihrem Macht-Bereich unterdrückten sie jede sozialistische Regung systematisch auf das Brutalste und rotteten die Kommunisten aus, wenn sie ihrer habhaft werden konnten. Doch sie wurden konsequent unterstützt von der SU oder einem ihrem Satelliten – Äthiopien beispielsweise von der DDR.

Dass diese Art von „Sozialismus“ die kommunistische und sozialistische Ideen und Bewe­gungen schließlich von Grund auf diskreditierte, kann nicht verwundern. Wir weinen ihnen keine Träne nach, im Gegenteil. Wir bedauern bisweilen, dass sie nicht mehr existieren. Aber das hat einen ganz anderen Grund: Sie bildeten doch ein Gegengewicht gegen die USA und deren Satelliten und Unterstützer, u. a. die EU.

Aber wenn wir heute von Sozialismus sprechen, müssen wir tiefer schürfen. Sozialismus oder Kommunismus, der Mythos und der Bezugs auf die weltpolitische Erfahrung der Sowjetunion oder Chinas, kann heute für progressive, für sozialistische, für kommunistische Kräfte kein Ziel mehr sein. Sozialismus als Mythos ist ein Appell an den Irrationalismus. Der marxisti­sche Sozialismus war aber stets die konsequenteste Strömung und Praxis des historischen Rationalismus. Der Verlust des Pathos im postmodernen politischen Prozess hat überdies den Appell an diesen Mythos für einen Großteil der Bevölkerung völlig ineffektiv gemacht. Und mit Recht: Die Überschätzung der Politik und die Unterschätzung des Privaten war einer der Hauptmängel der Studenten-Bewegung. Es ist der Versuch, der Gesellschaft als Ganzes die Wertewelt von Intellektuellen aufzudrängen.

Aber verzichten können wir auf den Begriff nicht. Wir müssen im Gegenteil sein kontestatä­res Potenzial für jede ernsthafte und konsequente Opposition nützen. Und dazu müssen wir Sozialismus ohne Scheu vor den üblichen Anwürfen neu definieren. Dabei haben wir Vor- und Nachteile.

Wir Sozialisten sind alt geworden.

Aber wir Alten Sozialisten haben auch Einiges anzubieten. Und vieles davon stößt gerade heute wieder auf erhebliche Resonanz. Die journalistischen Sprachrohre der Eliten und der politischen Klasse, wie immer sie sich selbst punzieren, wundern sich: Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn, weit jenseits der 60, auch Luc Melenchon, etwas jünger, Stephan Hessel, der mit deutlich über 90 geschrieben hat, stoßen gerade bei jungen Leuten auf Begeisterung. In den letzten Jahrzehnten sind sie die einzigen Politiker, die aus der Tradition kommen, die überhaupt noch junge Menschen zu bewegen verstehen. Dabei ist ihr Geheimnis so einfach. Mit einer gewissen Authentizität vertreten sie („alt“-) bewährte Ideen und Thesen, die in den letzten Jahrzehnten von der Dampfwalze der hegemonialen Ideologie, ob konservativ, sozial­demokratisch oder grün, platt gefahren und beerdigt wurden. Und nun kommen auch Jüngere, die weniger von den Tabus des mainstreams belastet sind und stellen fest: Darum geht es uns doch in Wirklichkeit! Es geht um ein besseres Leben für Alle; es geht um mehr Gleichheit und weniger Profit; es geht um eine menschliche Zukunft.

Das so offenkundige Scheitern, die Verlogenheit der neoliberalen Versprechungen von stei­gendem Wohlstand, dem guten Leben und der Selbstbestimmung allein im Konsum macht den mainstream unglaubwürdig. Und nun reiben sich viele den Sand aus den Augen, welchen ihnen die Eliten und ihre Propagandisten hinein gestreut haben und weiter streuen.

Aber hat dies was mit Sozialismus zu tun? Ja. Denn Sozialismus ist sicher nicht eine fixe Struktur, ein- für alle Male entworfen und gültig.

Hier aber wird es dialektisch. Wir können nicht ständig Amerika neu entdecken. Wir brau­chen eine intellektuelle Tradition. Wir akzeptieren nicht dogmatisch alles, was Marx, Lenin und andere geschrieben haben. Aber wir können auf ihnen aufbauen. Dazu kommt, dass dies mittlerweile Symbol-Namen für die radikale Alternative sind. Es ist heute bereits eine politi­sche Aktion, Marx und vor allem Lenin zustimmend zu zitieren. Gerade Lenin ist als Person und Theoretiker der lebendige Widerspruch für die Gegenwart. Als Theoretiker war er in der Analyse genial. Zugegeben: Er ist gleichzeitig so dogmatisch, dass er für uns heute oft schwer lesbar ist, wenn wir von ihm strategische Auskunft wollen und ihn nicht nur als Figur der Ideen- und Dogmengeschichte, also akademisch, behandeln. Als Politiker war er in vieler Hinsicht die Vorurteilslosigkeit und die Innovation schlechthin. Doch er hat auch den Grund gelegt zur Diktatur über das Proletariat, auf dem Stalin weiterbauen konnte.

Was macht also heute Sozialisten, nicht Populisten, nicht linksliberalen Intellektuellen, aus?

Es sind aus meiner Sicht drei Züge, die im dritten Punkt zu vier werden:

(1) der Egalitarismus; (2) die Notwendigkeit der politischen Steuerung von Gesellschaft; (3) Selbstbestimmung und Demokratie im Rahmen hochkomplexer Gesellschaften; (3a) hier müssen wir über die politischen Institutionen sprechen: „Rätedemokratie“.

Der Egalitarismus ist die Aussage, dass alle Menschen die Chance haben müssen, ihre Fähig­keiten umfassend zu entwickeln. Dazu bedürfen sie einer entsprechenden Ausstattung mit materiellen Ressourcen. Solange wir nicht in einer globalen Überfluss-Gesellschaft leben, heiist dies auch, sich Gedanken machen, was im die Verteilungsfrage im Weltmaßstab bedeutet, und was dies für Folgen hat.

Die politische Steuerung ist die Einsicht in das labile „Gleichgewicht“ sozialer Prozesse mit dem Blick auf Macht und Ressourcen; sowie auch die Notwendigkeit bewusster Entscheidun­gen über die zukünftigen Entwicklungen. Es geht um Planung. Der erste Teil des Satzes be­deutet: Lässt man, als Paradigma, den Markt allein arbeiten, so beginnt denknotwendig und sofort ein kummulativer Prozess, der zur Ballung von Macht und Reichtum, zu skandalöser Ungleichheit, führt. Dem muss ein entsprechendes Institutionen-Gefüge gegenüber gestellt werden.

Der zweite Teil besagt: Selbst beim Risiko von Fehlentscheidungen über Entwicklungs-Rich­tungen ist es besser, solche Entscheidungen bewusst nach einer sorgfältigen und umfassenden gesellschaftlicher Debatte zu treffen, als sie einem anonymen Mechanismus zu überlassen.

Beide Feststellungen, die unverkennbar auf die Debatte über Plan und Markt zielen – das sei hier herausgestellt – , bedeuten keineswegs, dass Prozesse der Selbstregulierung („Markt“) ausgeschaltet werden müssen oder sollen.

Über Selbstbestimmung braucht man heute kaum sprechen. Sie ist scheinbar selbstverständ­lich geworden – scheinbar! Aber Demokratie bedeutet auch das Denken in Institutionen. Demokratie erschöpft sich keineswegs in Parlamentarismus – obwohl funktionierender Parlamentarismus ein historischer Fortschritt sondergleichen ist, Scheinparlamentarismus wie in der EU mit ihrem EP aber ein massiver Rückschritt zum bürokratischen Autoritarismus.

Dass inzwischen die bisherigen Institutionen der Partizipation, insbesondere der pure Parlamentarismus, fragwürdig wurden, springt allen in die Augen. Der völligen Ablösung politischer Repräsentanten von ihrer Grundlage ist mit einem neuen Institutionen-Verbund begegnet werden. Ausgangspunkt für eine fruchtbare Debatte könnten die seinerzeitigen Überlegungen zur Räte-Demokratie werden: die Möglichkeit der Festlegung eines Auftrags, also des imperativen Mandats ebenso wie die Möglichkeit einer Widerrufbarkeit des Mandats.

Hier haben wir den Ansatzpunkt zu einem Bündnis mit anderen Kräften. Bürgerliche Anti-EU-Kräfte sind nicht sozialistisch. Sie sind nicht selten sogar konservativ. Aber sie wehren sich gegen den Abbau jeder Möglichkeit zur Selbstbestimmung, Damit sind sie ein Ansprech-Partner. Das ist, m. E., die eine Richtung einer möglichen politischen Arbeit.

Daneben aber können wir auf die intellektuelle Debatte nicht verzichten, auf die Debatte mit der Mehrzahl der Intellektuellen, welche aus dem hegemonialen Hauptstrom kommt. Der ist heute globalistisch-liberal. Das ist also die zweite Richtung, in welche sich politische Aktivität bewegen muss.

Ich möchte hier zwei Bemerkungen anhängen, eine taktisch-allgemeine und eine persönliche.

Beide Richtungen einzuschlagen, birgt einen Widerspruch in sich. Wir müssen uns klar sein: Die bürgerlich-konservativen Anti-EU-Kräfte werden von den liberalen Intellektuellen gehasst und verachtet. Auf sie zuzugehen heißt fast automatisch, sich bei den Intellektuellen ins Out zu stellen.

Was aber die bürgerlich-liberalen Intellektuellen, also die Leute von Attac Österreich, die akademisch etablierten und saturierten Bobos oder auch die reuigen Gefolgsleute von Wien andas und ähnlichen Organisationsversuchen betrifft: so betrachte ich sie persönlich nicht als meine Ansprech-Partner, obwohl ich die unbedingte politische Notwendigkeit sehe. Aber nicht jeder Mensch ist für Alles geeignet. Ich persönlich sehe meine Rolle eher als undogma­tischer Dogmatiker, welcher stets auf die Kernanliegen einer linken Politik in der Tradition des altlinken Sozialismus hinweisen wird. Denn auch das ist notwendig.

Albert F. Reiterer, 30. September 2017