„KEYNESIANISMUS“

Beruhigungspille für „Linksliberale“

Der längerfristige Blick auf Politik und Wirtschaft erfordert immer wieder einen Blick auf frühere Debatten. Seit einiger Zeit sehe ich mir, halb systematisch, halb zufällig, etwas ältere Publikationen an. Dabei geriet mir André Gorz: Wege ins Paradies, Rotbuch 1983, in die Hände. Da startet er von der Krise Ende der 1970er. Er versucht die Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist sehr interessant, nicht zuletzt seine Irrwege und Deffizienzen.

Sein Blick trifft auch den damaligen politischen Keynesianismus, gerade im Begriff, seine Wirkkraft einzubüßen. Einen fast tödlichen Schlag versetzte ihm die Politik der französischen Regierung nach dem Wahlsieg von Mitterand. Es ist jene Politik, die Hollande nach seinem Wahlsieg 2012 in furchtsamer und zögerlicher Weise wieder zu beleben suchte. Beide scheiterten in spektakulärer Weise. Hollande dürfte wohl ein „one-term“-Präsident werden, wie man jenseits des Atlantiks nüchtern und hämisch zugleich formuliert.

„Keynesianische Schemata“, so meint Gorz (25, auch auf anderen Seiten ähnlich) haben einige Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen waren schon damals nicht mehr gegeben. Wichtigste Grundlage wäre ein funktionierender Nationalstaat. Keynesianismus braucht einen Staat, der stark genug und, vor allem, dessen Regierung willens ist, in die konkreten Abläufe der Wirtschaft einzugreifen. Sie muss ihre politischen Ziele klar definieren und sie auch gegen Widerstand durchsetzen. Und – man ist versucht zu sagen: natürlich – solche staatlichen Maßnahmen funktionieren nur und ausschließlich auf einem ziemlich homogenen und übersehbar abgegrenzten Territorium mit einer effektiven Grenze nach außen.

Die alte „keynesianische Sozialdemokratie“ des Mitterand und Mauroy scheiterte. In Frank­reich war diese erste Bedingung nicht mehr gegeben. Der Nachfragestoß ging in die Importe, und die Leistungs-Bilanz kippte. Sie scheiterte mit Eklat: Die Sozialdemokratien rundum, nicht nur in Frankreich, wagten es am Ende der Nachkriegs-Aufbau-Periode nicht mehr, ihr keynesianisches Programm wirklich durchzusetzen.

Die EG hatte damals zwar noch nicht die umfassende Staats-Qualität von heute. Aber sie war in der Entgrenzung der Wirtschaftsräume bereits zu weit gekommen. Man diskutierte noch kaum über diese Thematik, auch nicht auf der Linken: Dazu zähle ich schon damals nicht mehr den PS. Die französischen Redensart, die selbst heute noch den PS in „die Linke“ ein­bezieht, ist völlig irreführend. Die Sozialdemokratie war längst ins Lager der Euro-Enthusias­ten eingeschwenkt. Sie versuchte immer stärker, den Teufel mit Belzebub auszutreiben; die Probleme der vorangetriebenen Globalisierung mit den Mitteln der Globalisierung zu lösen.

Doch ebenso wichtig war der zweite Punkt. Er hängt engst mit dem ersten zusammen. Die Sozialdemokratien versuchten ihre typische „Fünfer-und-Weggli“-Politik: Sie wollten das eine tun (Nachfragebelebung), aber das andere nicht lassen (Politik für die obern Einkom­mens-Schichten). Dafür waren sie bereit, den Staatsschuldenstand zu erhöhen. Aber dies nutzte nichts mehr, zumindest im furchtsamen Ausmaß, in dem es betrieben wurde. Es er­höhte mittelfristig nur den Steuerdruck. Der lief hauptsächlich über die regressive Mehrwert­steuer, die Unterschichten relativ stärker trifft als die Gutgestellten. Die Ergebnisse kamen sichtbar stärker den ohnehin schon Begünstigten zugute, nicht den Unterschichten. Der Aus­bau des Sozialstaats wurde vor allem eine Umverteilung hin zu den Mittelschichten, durch die Bildungs-Politik, auch die Familien-Politik und sonstige Politikfelder.

Dadurch begann die liberal-konservative Botschaft zu wirken: Wir können uns dies auf die Dauer nicht leisten. Zwar war damals das Vokabel „Sparen“ noch nicht so unbefragt ver­breitet wie heute. Aber der Gedankengang wirkte, und zwar nicht zuletzt auf die ältere Generation, die noch Erinnerungen an Inflations-Perioden hatte. Sie wird in der Zukunft durch das „Sparen – nämlich den Abbau von staatlichen Leistungen für sie selbst – am stärksten betroffen sein. Aber ihr Verzichts-Ethos war noch vorhanden. Noch gab es nicht den Slogan von der schwäbischen Hausfrau. Aber der Gedanke begann bereits zu wirken.

Die Bevölkerung sah das Versagen der angeblich keynesianischen Politik, das Versagen der Sozialdemokratie. Sie sah, dass sie selbst in ihrer Mehrheit durch diese Politik nichts gewann. Die Ängste vor unkontrollierten inflationären Ausgaben tat das Ihre. So bestrafte sie die Sozialdemokratien. Besonders deutlich ist dies in der BRD zu sehen. Aber auch in Österreich, wo doch diese Politik in den 1970ern vergleichsweise erfolgreich war, bekam die Sozialdemokratie die Ohrfeigen. Es wurde seit 1983 ein kontinuierlicher Abstieg daraus.

In Frankreich warteten die regierenden Sozialdemokraten diese Ohrfeigen gar nicht erst ab. Sie bekamen sie zwar bei den Regionalwahlen auch. Delors mit und seiner Partie reagierte im Auftrag von Mitterrand von vorneherein. Sie warfen das Steuer in neoliberale Richtung herum. Etwas später geschah genau dasselbe in Schweden. Die dortigen Sozialdemokraten waren in der Nachkriegszeit das Vorbild für Mitteleuropa geworden. Nun, spätestens Anfang der 1990er, wurden sie mit ihrer Politik zur Vorreitern von Blair und Schröder, obwohl sie noch eine andere Rhetorik führten. Damit starb der alte Keynesianismus endgültig.

Der alte politische Keynesianismus ist tot. Er drückte sich um das Hauptproblem herum: die Transformation des Systems – durchaus eine systemkonforme Transformation – und längerfristig der geplanten Aufbau einer stärker sozialisierten Wirtschaft. Was dies konkret bedeutet, darüber wird anderswo noch zu sprechen sein.

An seine Stelle trat der politische Monetarismus, der Neoliberalismus. Er war eine Zeitlang, von 1990 bis 2008, durchaus erfolgreich in seinem Sinn. Es war ein Alternativanbot zu keynesianischen Tendenzen. Dem Kapital sollten seine bisherigen leichten Zügel abgenom­men werden. Deregulierung hieß und heit die Devise. In der Praxis bedeutete dies u. a.: die Privatisierung der Restbestände staatlicher Anbote und Leistungen. Die „Kommandohöhen“ der Wirtschaft, soweit noch staatlich beeinflusst, wurden geräumt. In Österreich hat die Wiener Sozialdemokratie die Zentralsparkasse verkauft; andere staatlich beeinflussbare Posi­tionen wurden ebenfalls abgestoßen. Die andere Seite des politischen Proporzes verwandelte die Genossenschaften ERSTE und Raiffeisen in gewöhnliche Bank-Konzerne. Der spätere Ruin der BAWAG fügt sich in dieses Bild bestens ein. Kapitalistische Musterbetriebe in staatlicher Hand wie die AUA wurden mutwillig kaputt gemacht; der Verkauf der PSK gehört auch hierher, usw. Mit der Bahn hat es noch nicht so ganz funktioniert. Die fährt noch.

An die Stelle der Nachfragestärkung trat die „angebotsorientierte Politik“, d. h., ein Abbau von Steuerleistungen für Unternehmen und Hoch-Einkommen und eine bewusste Politik der Umverteilung nach oben. Dies wird ein wenig verdeckt, dass die als Sozialleistungen ausgewiesenen Summen noch steigen, wegen der demographischen Alterung. Aber wieso, bitte schön, ist eine Pension eine „Sozialleistung“?

Dies alles konnte nicht dem „guten Willen“ der Sozialdemokratie allein überlassen bleiben. Das wäre zu riskant, angesichts des weiteren formellen Bestehens von Wahlen. Es wurde obligatorisch unter EU-Regeln. Es wurde also vom übernationalen Staat im Aufbau gelenkt. Teils ging es gegen die Nationalstaaten. Im Großen und Ganzen aber war die Kollusion der nationalen Eliten gegeben: an erster Stelle den Sozialdemokraten. Die schwärmten dabei zynisch vom Internationalismus, der endlich verwirklicht würde. Die Alt-Konservativen hatten da durch ihre engen Verbindungen mit nationalen Kapitalgruppen und deren Wünschen oft mehr Schwierigkeiten.

Die Finanzkrise 2008 brachte diese Politik vorläufig mit Eklat zum Scheitern.

Die Antwort der Eliten war zwiefach: Sie entwarfen eine neue Strategie: eine Verschiebung aller wichtigen Kompetenzen hin zur übernationalen Bürokratie. Sie war in einem Ausmaß politisch erfolgreich, welches man sich vor 2008 nicht hatte vorstellen können. Die zweite Antwort ist: Sie überantwortete die Kontrolle dieser Bürokratie in hohem Maß den Finanz-Eliten. Das sichtbarste institutionelle Beispiel ist die EZB und ihre Besetzung. Aber es gibt eine ganze Reihe von sonstigen Vorgehensweisen. Man denke nur an den „Lobbyismus“ in Brüssel.

Und nun kommen die alt gewordenen Wanderprediger des Keynesianismus wieder und wollen uns weismachen: Dort liegt die Lösung. Gleichzeitig wollen sie dieses System, nun­mehr ins Supranationale transformiert, nicht nur beibehalten, sondern noch ausbauen und perfektionieren. Es wirkt fast grotesk. Juncker macht sich den Witz und gibt ihnen scheinbar nach. Er entwirft ein Programm, das er mit 300 Mrd. beziffert, das in Wirklichkeit aber nur ein Hundertstel kostet. Die Idee ist offensichtlich: Schieben wir diesen Typen was zu, damit sie Ruhe geben. Was schon auf nationaler Ebene nicht mehr funktionierte, weil der politische Wille dafür nicht da war, soll nun mit einem politisch-bürokratischen Apparat erreicht werden, dessen genuine Ziele das exakte Gegenteil davon sind.

Die wirkliche Politik der EU-Bürokratie schaut anders aus. Das QE (quantitative easing, Geldschwemme) ist das genaue Gegen-Programm von Keynesianismus. Es ist eine neue Form von Supply side-Ökonomie, transponiert in die Welt des Finanzkapitalismus. Man schießt das Geld nicht mehr in die Realwirtschaft ein. Es wird den Banken zugeschoben und damit den Spekulanten. Die Börsenkurse sind heute höher als 2007. Den Weg in die Realwirtschaft findet es nicht, der ist dazu inzwischen zu lang. Geführt wird die Politik typischer Weise nicht von der Regierung (der Brüsseler Kommission), sondern von der Finanzbürokratie, der Frankfurter EZB.

Eines der Ziele ist übrigens, sich um das geltende Recht herum zu drücken und monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben. Denn ein Großteil der vorgesehenen Mittel geht in staatliche Anleihen (auf Sekundär-Märkten). Zugute kommt dies allerdings keineswegs jenen, die es am dringlichsten bräuchten, nämlich dem Oliven-Gürtel. Als das Programm zwei Tage vor den griechischen Wahlen angekündigt wurde, jubelte der griechische Finanzminister, damals noch von der ND. Der bescheidene Mann sagte nicht dazu: Die Bedingung war, dass das Austeritäts-Programm vorerst „erfolgreich“ auslaufen müsse, also die Verschiebung auf St. Nimmerlein. Die Spekulanten ließen sich denn auch überhaupt nicht beeindrucken. Es geschah – nichts. Die Wahlen aber gingen für ND trotzdem verloren. Das wäre nun eine Debatte für sich. Wir werden sie auch ein anderes Mal führen.

Sagen wir es in aller Deutlichkeit: Keynesianismus heute ist ein unrealisierbarer Politik-Vorschlag. Damit soll vermieden werden, die wirkliche Problematik zu benennen und zu diskutieren. Man will nicht über Umverteilung, nicht über Regulierung und noch weniger über gesellschaftliche Planung sprechen. Die dafür aufgewandten Gelder, etwa die real vielleicht 3 Milliarden, welche das Juncker-Programm kosten wird, ist reine Geldverschwendung. Es wird voraussichtlich in korrupte Kanäle versickern.

Dieser Ausweich-Charakter des neuesten Keynesianismus zeigt: Der Vorschlag ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Seien wir also lieber offen, konsequent und scheuen wir uns nicht, die Verhältnisse beim Namen zu nennen.

6.September 2015