MIGRATION 2: Politische und moralische Voraussetzungen einer linken Debatte

Das Wort „Moral“ hat in der marxistischen Linken einen schlechten Klang. Man will nur von Politik sprechen. Die aber wurde in einer ziemlich vulgären Auffassung stets als Vollzug historisch unumstößlicher Gesetze gesehen. Die „historischen Notwendigkeiten“ hätten mit Moral nichts zu tun. Das ist eine Art linkes TINA („There is no alternative“ – M. Thatcher). Aber jedes TINA ist von Grund auf konservativ, ja reaktionär. Denn in der menschlichen Entwicklung und in der Politik geht es immer um Alternativen, zwischen denen man sich zu entscheiden hat. Die Wahl zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten beruht aber immer auf Werturteilen. Wenn wir über Werte rational debattieren wollen, müssen wir offen an sie heran gehen.

Nicht zuletzt die Frage der Migration, der Zuwanderung, ist unentwirrbar mit politischen Werten verknüpft, dem Problem der Ungleichheit ebenso wie – bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung – mit identitären Fragen. In diesem Beitrag geht es mir darum, zumindest einige unserer politischen Grundlagen anzusprechen. Ohne das kommen wir beim Migrations-Problem nicht weiter.

(1) Jede Gesellschaft und ihr Staat hat das Recht, über den Eintritt anderer in sie selbst zu entscheiden, d. h. auch: über die Einwanderungspolitik.

Manchen Genossen stößt diese Grundsatzfrage sauer auf. Sie folgt direkt aus der Grundidee: Jede Gesellschaft hat über ihre eigene Entwicklung zu entscheiden, will sie diese nicht völlig unreguliert und unkontrolliert dem Spiel anonymer Mächte überlassen. Was ist wichtiger als der Ein- und Austritt aus der Gesellschaft? Dass es dabei gilt, individuelle Ansprüche und Rechte zu beachten, versteht sich von selbst. Aber das ist der nächste Schritt.

Geht man von einem Leitbild der Politik aus, welche die autonome Planung ihres Weges in irgend einer Form als Grundlage sieht, dann wird dies noch selbstverständlicher. Wenn wir schon die Ein- und Ausfuhr von Waren planen wollen, dann ist die Planung des eigentlichen Produktionsfaktors, der Arbeitskräfte, erst recht eine Basis dafür.

(2) Doch wir stehen auch auf dem Boden eines Universalismus. Was also ist mit der Welt­gesellschaft, der „Weltrevolution“? Bewusste politische Arbeit kann nicht oder nur marginal auf globaler Ebene stattfinden. Das gilt jedenfalls, wenn wir Demokratie, Basis-Orientierung und eine gewisse Alltags-Verbundenheit als wichtige Faktoren einschätzen, ganz egal, wie wir selbstpersönlich agieren. Die Lebenswelt der großen Mehrheit ist nicht global.

Ich gehe somit von der Notwendigkeit selbständiger, autonomer politischer Gemeinschaften aus. Das bedingt politische Grenzen. Die gegenwärtig (noch) sinnvolle Form dessen ist der Nationalstaat. Was in fünf Jahrzehnten sein wird, ist eine andere Frage.

(2.1) Einzelstaaten im Rahmen eines Weltsystems sind nicht nur pragmatische Angelegen­heiten. Sie sind auch die einzige gangbare Möglichkeit, Machtkonzentration und somit „Machtmissbrauch“ zu verhindern. Jede Machtausübung ist Macht“missbrauch“, weil damit – per Definition! – Menschen zu etwas gezwungen werden, was sie selbst nicht anstreben. Großgesellschaft kommt jedoch ohne Organisation, Koordination, somit: Machtausübung, nicht aus. Es geht darum, dies unter möglichst strikter Kontrolle der Bevölkerung zu halten. In diesem Sinn ist der abgegriffene und unter uns wenig beliebte Satz „Small is beautiful“ von grundlegender Bedeutung. Wir sollten auf den anarchistischen Impuls in der sozialistischen Bewegung nicht vergessen!

(2.2) Ein Weltstaat bedeutete das unvermeidbare Abgleiten in einen Totalitarismus, gegen den sich die historischen Totalitarismen der Orientalischen Despotien oder des rezenten und gegenwärtigen Imperialismus menschenfreundlich ausmachen. Überdies wäre dies auch eine Sackgasse der Geschichte. Jede historische Entwicklung beruht auf Versuch und Irrtum. Dies wäre damit blockiert.

(2.3) Für den Großteil der Bevölkerung stellt die National-Gesellschaft und der Nationalstaat die Lebenswelt des Alltags dar. Wenn überhaupt was, hat er noch eine gewisse Übersichtlich­keit und damit die Möglichkeit, ihn zu beeinflussen. Er stellt einen brauchbaren Kompromiss dar zwischen den Notwendigkeiten der Großorganisation und ihrer Kontrolle in Selbstbe­stimmung. Es sind die Eliten und ihre Intellektuellen, welche den Weltstaat anstreben. Der wurde inzwischen denn auch zum eigentlichen Ziel der Oligarchie, wenn auch auf ihre Weise, als „Privatstaat“ der Reichen und Mächtigen.

(3) Die enormen Unterschiede im regionalen Wohlstand / Einkommen entstanden, als vor gut zwei Jahrhunderten zum ersten Mal realiter Weltgesellschaft hergestellt und politisch-militä­risch durchgesetzt wurde, im „klassischen“ Imperialismus. Heute proklamieren auch die Eliten mit viel rhetorischem Aufwand, dass diese riesige Divergenz abgebaut und die Schere geschlossen werden müsse. Es ist kein Zufall, dass diese Eliten in ihrer Rhetorik (Agenda 2030 der UNO) ausgerechnet jene Struktur dafür einsetzen wollen, welche das Problem erst erzeugt hat. Ihr Standpunkt ist reiner Zynismus. Doch die mainstream-Intellektuellen springen darauf an: Es ist eine unglaubliche Naivität, so sie die Bestrebungen der Eliten nicht teilen.

(3.1) Aus dieser Ecke kommt nun der implizite Gedanke, dieser Ausgleich könne durch ein verallgemeinertes Wanderungs-Geschehen erfolgen. Doch alle, die Augen haben, sehen: Diese globale Wanderung dient dazu, die regional-horizontale Ungleichheit in eine weltsystemisch-vertikale Ungleichheit überzuführen. Die Ungleichheit wird durch Wanderung nicht aufgehoben, sondern verstärkt. Ungeplante, ungelenkte und unkontrollierte Massen-Wanderung verschärft die Zentrum-Peripherie-Struktur. Sie ist keine Lösung, sondern ein wesentlicher Teil des Problems. Dazu sei noch auf Punkt 6 verwiesen.

(4) Das Problem der individuellen Wanderung – sofern man die umfangreichen Ströme so nennen kann – ist damit freilich nicht gelöst. Sich gegen Wanderung als politisch-ökonomi­sche Strategie auszusprechen, hilft uns nicht unbedingt weiter, um unsere Haltung zu den Migranten zu definieren. Ich will auch nicht behaupten, dass ich hier die Lösung gefunden und den Stein der Weisen anzubieten habe.

Trotzdem muss ganz am Beginn doch ein wesentlicher, wenn auch sehr abstrakter Punkt genannt werden:

(4.1) Die Abhängigkeiten der armen Länder durch die Politik ihrer Eliten einerseits und der Interventionismus der Metropolen und hier in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich; der USA steht an der Wurzel eines Großteils der Probleme, ja des Problems selbst. Ohne dies zu beheben, wird es schlichtweg unlösbar bleiben.

(5) Es geht also – vor dem Umbau des Weltsystems, den wir nicht so bald lösen werden – um einige vereinzelte Ansätze, die hoffentlich im weiteren Verlauf der Diskussion etwas systema­tischer und umfassender erkenntlich werden. Nochmals: Die folgenden paar Punkte sind als Beispiel gedacht, keineswegs als systematischer Ansatz. Ich möchte nur zwei Beispiele bringen und damit illustrieren, wie man m. E. auch an die Migration heran gehen könmnte:

(5.1) Solange es Armuts-Wanderung gibt, gilt es, zumindest die üblen Folgen dieser Wande­rung zu mildern. Es muss Entschädigungen für brain drain und „activity drain[1] geben. Wie dies zu gestalten ist, wäre sehr sorgfältig zu überlegen. Multilaterale Entwicklungshilfe ist sicher keine Lösung, das heißt den Teufel mit Belzebub austreiben; sie dient nur der Korruption der Eliten.

(5.2) In den Zielländern selbst muss der Anreiz beseitigt werden, Migranten als Lohndrücker einzusetzen. Strikteste Kontrolle und ein Malus-System für Unternehmen mit besonders hoh­en Anteilen von migrantischen Beschäftigten wäre ein möglicher Zugang. Eine Überlegung wäre auch, bei migrantischen Arbeitskräften, welchen die Unternehmen den vollen Lohn ohne jede Trickserei zu gewähren haben, eine Art (geringfügigen) Solidaritäts-Beitrag für die Herkunftsländer bzw. einen dementsprechenden Fonds einzuheben.

 

Handelsblatt, 30. September 2015: Das Blatt des Großkapitals lässt seine Leser sagen, was es selbst weniger gern so offen schreibt. Denn bereits gibt es in der BRD Forderungen, Migranten (gesagt wird: „Flüchtlinge“) vom Mindestlohn auszunehmen – nicht von irgend jemand, sondern von CDU-Ministerpräsidenten und ähnlichen Kalibern: „Wer mit geringer Wochenarbeitszeit und vollem Lohnausgleich, bezahltem Urlaub und hohem Stundenlohn sein Dasein bestreitet, muss Angst haben vor jedem, der mehr für weniger Geld arbeiten will. Somit dürfte die Herrschaft des ’nimmersatten Deutschen‘ bald vorbei sein.“

 

(6) Da hier, absichtlich und unabsichtlich, mit Sicherheit Missverständnisse kommen werden, zum Schluss dieses Beitrags – er wird nicht der letzte sein – noch ein Hinweis: Flucht vor Verfolgung und Asyl für Schutzbedürftige sind von diesen Überlegungen nur am Rand betroffen. Sie sind auf jeden Fall und möglichst großzügig zu gewähren. Quantitativ macht dies gewöhnlich sowieso nur einen kleinen Teil des Migrations-Geschehens aus. Das bedingt, nüchtern besehen, allerdings auch, diesen Kanal von jenen frei zu halten, die ihn für andere Zwecke nützen wollen. Dass Migranten ihn nützen wollen, ist verständlich, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen. Wir müssen uns nur klar sein, und es auch aussprechen: Das zerstört auf die Dauer den dringlich notwendigen Schutzweg. Wieso wir dafür Sympathien haben sollen, ist mir nicht einsichtig.

(7) Zum Abschluss schließlich: Was wir derzeit miterleben, ist der Beginn einer neuen Entwicklung. Ob es uns gefällt oder auch nicht: Das sozio-ökonomische und das politische Weltsystem tritt damit in eine neue Phase ein. Es ist eine Antwort von unten, unorganisiert, die Probleme verschärfend, auf die von oben forcierte Globalisierung. Die Verdammten dieser Erde versuchen, ihr Schicksal individuell in ihre eigenen Hände zu nehmen. Wir wissen, dass dies nicht funktioniert. Aber es ist ein Fanfarenstoß. Die Herrschenden haben dies ganz gut begriffen. Werden wir, wie so oft, dies nicht begreifen?

3.°Oktober 2015

[1] Ich verstehe darunter die Tatsache, dass es vor allem die jüngeren, motivierteren und damit tendenziell produktiveren Menschen sind, welche nachweisbar abwandern.