Die EU-Bürokratie plant die Zukunft des Imperiums: Der „Fünf-Präsidentenbericht“ und sein Inhalt

Wie die Programm-Texte der EU gewöhnlich, ist auch der Fünf-Präsidenten-Bericht eine durchaus nicht angenehme Lektüre. Fünf Präsidenten? Es ist ein Juncker-Bericht, der offenbar auch formell mit Draghi und auch mit Dijsellblom gesprochen und dann höflicher Weise auch Tusk und Schulz kontaktiert hat.

Die Flachheit und die Trivialität des Stils ödet an und macht das Durcharbeiten peinsam. Aber es ist notwendig. Der Bericht steht in der Tradition der Berichte von Werner über Tindemans und Delors, und die sind bekanntlich durchaus “historisch” geworden. Als sie veröffentlicht wurden, hielten sie viele für rhetorische Pflichtübungen. Man ist stets versucht, die Bürokratie und ihre Zähigkeit zu unterschätzen. Das ist umso weniger verzeihlich, als es gerade zu den Charakteristiken der Bürokratie zählt, langfristig zu planen, brauchen sie sich doch im Gegensatz zum Personal der Oberflächenpolitik keiner Wahl stellen. Verantwortlich ist die Bürokratie nur ihren Auftraggebern aus den sozialen und ökonomischen Eliten, der eigentlichen Oligarchie, mit der sie in ihren oberen Rängen verschmilzt. Sie kann sich also den Luxus erlauben, nicht nur langfristig zu denken, sondern dies auch auszusprechen.

Dieser Juncker-Bericht ist vergleichsweise bescheiden. Sein Horizont ist 2025. Aber für diesen kurzen Zeitraum sind die Ziele auch wieder ehrgeizig. Die Absicht ist: Die auf den Höhepunkten der Finanz­krise mit aller Brutalität, aber infolge Zeitmangel nicht allzu intensiven Vorbereitungen durchgezoge­nen Maßnahmen, die politischen Gewinne aus der Krise also, sollen systematisiert, ausgebaut und unumkehrbar gemacht werden.

Das wird auch unweigerlich geschehen, wenn nicht ein wesentlich härterer und radikalerer Widerstand als bisher auftritt.

Was also will Juncker namens der Europäischen Kommission und im Auftrag der Oligarchie?

  1. Fundamentales Ziel ist die volle Durchsetzung eines hart dogmatischen neoliberalen Wirtschafts-Modells. Dessen Durchsetzung und der Prozess der Umstrukturierung dorthin muss von Brüssel-Berlin direct kontrolliert warden. Die Stichworte lauten: “Echte” Wirtschaftsunion in zwei Stufen durch “Konvergenz”, “Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit” und “Förderung der Strukturreformen”.
  2. Die Finanzpolitik muss stärker zentralisiert werden. Stichworte: “Vollendung der Bankenunion”; “Kapitalmarktunion”.
  3. Die nationalen Regierungen müssen im wirtschafts- und sozialpolitischen Feld noch viel starker und konsequenter entmachtet werden. Der Angelpunkt dabei ist die Fiskalpolitik und der Staatshaushalt. Die nationalen Parlamente müssen de facto ihre Budget-Kompetenz abgeben. Stichworte: “verant­wortliche Haushaltspolitik”, “Fiskalunion”, ein “europaweites Schatzamt” (zentrales EU-Finanzminis­terium bzw. ein Eurozonen-Finanzministerium, auf den wichtigen Unterschied kommen wir noch zu sprechen).
  4. Ein Finanzausgleichsfonds, der sich als Krisenbewältigungs-Fonds verkleidet. Um dies auch zu vernebeln, denn hier dürfte es Probleme mit der Hegemonialmacht Deutschland geben, heißt er völlig unverständlich “Funktion zur fiskalischen Stabilisierung des Euro-Währungsgebiets”. Die Formulierung lässt auf Draghi, einen der “Fünf Präsidenten”, schließen.
  5. Die Regierungen und Parlamente sollen formell auf die Prioritäten und Ziele der Kommission verpflichtet werden. Die stilistische Verkleidung lautet: “demokratische Rechenschaftspflicht und Legitimität”.

Dies soll bis 2017 eher informell vorbereitet werden. Bis dann will man die alte Strategie der Über­dehnung vertraglicher Kompetenzen weiterführen. Der schleichende Putsch wird verlängert. Der Stil, der ebenso wichtig ist wie der Inhalt, spricht hier von “modernisieren”, “abfedern” und “anpassen”. Bis 2025 soll es aber jedenfalls eine Vertragsveränderung geben, Denn man muss dies gegen jede Veränderung und Abweichungen immunisieren. Das geschieht am besten nach bisheriger Erfahrung, wenn man den EuGH heikle Punkte unter dem Deckmantel des Rechts durchsetzen lässt. Wie aller­dings ein neuer Vertrag ohne einen offenen Putsch in mehreren Ländern durchzusetzen ist, wird nicht gesagt.

Hier kommt noch ein wichtiger Punkt ins Spiel, der allerdings mittlerweile keine Sensation mehr ist. Der Bericht spricht im Wesentlichen nur von der Eurozone. Die Rest-EU wird zwar bisweilen erwähnt und eingeladen, sich zu beteiligen. Aber es geht um die Kern-EU im Zuschnitt der Eurozone. Wie in dieser Zwei Kreise-Struktur dann allerdings der engste Kreis, nämlich der ehemalige DM-Block noch behandelt werden soll, ist hier nicht angesprochen und tatsächlich unklar. Denn dass wir davon ausgehen müssen, dass es innerhalb der Eurozone selbst wieder einen privilegierten Kern gibt, scheint mir nach der Griechenland-Affäre keiner weiteren Begründung zu bedürfen.

Juncker geht davon aus, dass die Finanz- und Eurokrise überwunden ist. Das ist einerseits bemerkens­wert angesichts der Entwicklung im Süden – ich denke hier vor allem an Spanien. Auch Frankreich und Finnland könnten bald sehr akute Krisenfälle werden, auf andere Weise. Aber reines Wunsch­denken ist es nicht. Die Troika, in Wirklichkeit die Kommission bzw. Eurogruppe unter dem Kommando der BRD, haben ja gezeigt: Sie sind entschlossen, ihre Vorhaben durchzusetzen. Die Kosten mögen hoch sein, politisch vielleicht auch für sie, jedenfalls für den Moment – was tut’s? In diesem Sinn hat die 180°-Wende des Alexis Tsipras eine Bedeutung, die weit über Griechenland und sogar über die Eurokrise hinaus geht. Doch ist politisch noch immer viel zu tun.

Es wäre viel dazu zu sagen. Sprechen wir einige wichtige Punkte an!

Über das Codewort “Wettbewerbsfähigkeit” habe ich vor wenigen Tagen in einem mail gesprochen. Ich wiederhole: Wir sollten dieses Propaganda-Vokabel nicht wiederholen, welches nur der Durchsetzung des härtest neoliberalen Dogmatismus dient. Das Ziel ist ziemlich klar: Es ist die Prekarisierung für fast Alle, mit Ausnahme der oberen Schichten. Das verbirgt sich hinter der Wendung, man wolle einen einheitlichen EU-Arbeitsmarkt, welcher “Sicherheit und Flexibilisierung kombinieren” würde.

Aber da gibt es noch andere Probleme. Als zweiten Punkt habe ich die “Kapitalmarkt”- und Bankenunion referiert. Da nimmt nun ein Blog aus Arbeit und Wirtschaft (Stockhammer / Reissl vom 14. Jänner) Stellung. Inhaltlich kann man dessen Aussagen nur unterschreiben. Aber der schlechte Witz besteht darin: Diese Politik ist keine Absicht mehr. Sie ist in ihren administrativen Voraussetzungen bereits verwirklicht. Die MIFID II-Richtlinie (und Verord­nung) sind längst erlassen, schon fast seit zwei Jahren. Damit sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, sie in ihr Recht zu übernehmen (bzw.: die Verordnung gilt unmittelbar). In diesen Richtlinien (MIFID I ist ja auch noch zu beachten) ist aber zum größten Teil bereits angeordnet, was hier im Bericht noch als Vorhaben äußerst generell genannt wird. Der entscheidende Schritt ist also schon getan. Die Banken im engeren Sinn werden durch Basel III etwas stärker reguliert. Nach der nächsten Finanzkrise wird ohne Zweifel ein Basel IV wieder dieselbe Versprechung der endgültigen Stabilität bringen. Aber gleichzeitig sorgt die EU dafür, dass sich ein Schattenbanken-Sektor der Regulierung entziehen kann. Die Schattenbanken dürfen Alles, was schon bisher zur Katastrophe geführt hat, und ein bisschen mehr. Sie haben alle Freiheiten zur Spekulation und zum Betrug innerhalb der Legalität.

Die Passagen über die Banken- und Kapitalmarktunion im Juncker-Bericht sind also Ideologisierung post festum. Die realen Schritte sind gesetzt. Jetzt wird die Legitimierung dafür nachgereicht: “erhöhte Finanzmarkt-Stabilität”, “Widerstandsfähigkeit gegen Krisen”, und wie die hohlen Phrasen eben sonst noch tönen. Als Detail unter anderen: Wieder wird eine “Bankenunion” verlangt, und in diesem Kontext eine europäische Einlagensicherung. Das klingt für manche Naivlinge ganz gut. Es läuft im Grund auf die Subventionierung der oberen Mittelschicht in den Peripherie- und Krisenländer hinaus. Während die Unterschichten und die sonstigen Mittelschichten prekarisiert und in ihrer Marginalität homogenisiert werden sollen, muss man die eigene politische Basis schützen, und das ist die obere Mittelschicht.

Ebenso wichtig und interessant sind die Ausführungen zur Fiskalpolitik, zur “Fiskalunion”. Man liest mit Erstaunen, dass der Fiskalpakt seine Ziele “weitgehend verfehlt” habe. Wird da gar ein Scheitern zugegeben? Das wäre inhaltlich ebenso falsch wie auch in der Vorgangs­weise des Berichts. Aber es zeigt eins: Die Bürokratie wird ungeduldig. Sie will sich nicht mehr auf die bisherigen Mittel verlassen, und das wichtigste Vokabel dabei heißt bisher zwischenstaatlich. Sie will ein klares Durchgriffsrecht haben. Wieder einmal lehnt sie sich gegen die bisherige Konstruktion der EU als wesentlich eine neue Ebene auf, die nur die Ziele vorgibt. Sie will einen direkten intervenierenden Apparat haben. Allerdings wagen es “die Präsiden­ten” nicht, dies ganz offen zu sagen. Ein paar Seiten später wird es aber deutlich. Übrigens ist eines der häufigsten Worte des Berichts das Vokabel überwachen.

Noch eine Bemerkung zu den Ambitionen der Bürokratie. Hat sie (bisher) schon nicht das administrative Sagen in diesem Mehrebenen-System, so will sie zumindest den wichtigen Punkt ihrer politischen Richtlinien-Kompetenz betonen: Sie will die einzige Instanz sein, welche Agenda setting betreibt. Zu diesem Zweck will sie das Europäische Semester, also den von ihr gesteuerten Budget-Erstellungsprozess in zwei Phasen teilen. “Bis Ende Feber eines jeden Jahres [hat] eine wirkliche und umfassende Diskussion über die EU und insbesondere das Euro-Währungsgebiet festgelegten Prioritäten für das kommende Jahr” stattzufinden. Erst dann darf im Rahmen des nationalen Budget-Prozesses auch über das nationale Budget debattiert werden.

Das Alles zeigt, dass dieser Juncker-Bericht mehrere Ziele hat. Kaum jemand weiß etwas über MIFID oder MIFID II. Dies ist zwar eine wichtige Politik-Maßnahme, aber doch nur eine unter einer Reihe anderer. Weitere werden folgen. Wenn man sich immer nur auf diese Einzelkritik einlässt, werden Blogs wie jener von Stockhammer / Reissl immer nachhinken, können gar nicht anders. Wir können es nicht oft genug wiederholen, und wir wissen fast resignierend, dass wir mit Windmühlen kämpfen: Das Imperium ist das Problem, nicht eine einzelne seiner Politiken. Konzentriert man sich auf den Einzelschritt, kann man nur nachhinken. Nicht dass die Einzelkritik unnötig oder unwichtig ist. Aber sie ist zu wenig. Das ist ein Hase- und Igel-Spiel. Der Igel, der Apparat wird immer schneller sein. Der Hase, der Widerstand, wird im Einzelbereich immer zu spät ankommen. Den Apparat muss man zerschlagen, so dies überhaupt möglich ist. Eine Einzelmaßnahme zu bekämpfen ist zwar ehrenhaft, auf lange Sicht aber politisch aussichtslos. Das wird übrigens in Kürze auch für CETA und TTIP gelten.

  1. Jänner 2016