PLEBEISCHER PROTEST: Was hat der Bauernkrieg mit der Anti-EU-Bewegung zu tun?

1850: Die bürgerliche Revolution in Wien, Paris und in Deutschland war niedergeschlagen. Die Truppen der Reaktion hatten das Frankfurter Professoren-Parlament ebenso nach Hause geschickt, wie den Wien-Kremsierer Reichstag. Die meisten der konsequenten Protagonisten hatten sich gerettet. Sie waren z. B. in die USA geflohen. Da fiel dem jungen Engels, der selbst einem revolutionären Freikorps beigetreten war, ein dickes Buch in die Hände. Wilhelm Zimmermann, einer der bürgerlichen Linken von Frankfurt, hatte den „Deutschen Bauernkrieg“ dargestellt. Engels begann Parallelen zu ziehen zwischen dem damaligen Geschehen und seiner Gegenwart. Die Revolution von 1848 war an der Unentschlossenheit der Bürger gescheitert, ebenso wie sich 1525 die Bürger letztlich mit den Fürsten, Bischöfen und Äbten verbunden hatte, als es hart auf hart ging. Engels zog seine Schlüsse: Das Proletariat kann sich nur auf sich selbst verlassen. Wenn es solche Katastrophen vermeiden will, muss es konsequent seine Ziele verfolgen.

Aber wer oder was ist das Proletariat?

Die Unterschichten und die unteren Mittelschichten heute wenden sich gegen die Brüsseler Vernunft der Eliten, Oberen Mittelschichten und Intellektuellen. Deren Stabilitäts- und Wachstums-Versprechen haben sie inzwischen am eigenen Leib erlebt. Und die Berlin-Brüsseler Bürokratie ist ganz erstaunt über so viel Unvernunft: Ihr seid gegen den Fortschritt! Die EU ist der Weltgeist in Europa. Die Globalisierung ist unabwendbar. CETA und TTIP sind notwendig für unsere Wohlfahrt! Und wo gehobelt wird, fallen Späne. Wir lassen Euch ohnehin nicht verhungern, geben Euch 850,- Euro Grundversorgung, wenn Ihr brav seid, oder auch Hartz IV. Warum wollt ihr dies nicht endlich einsehen und brav für Renzi und Schäuble stimmen? Und auch die Mehrheitsfraktion der LINKEN nickt zustimmend. Wie auch nicht? Sozialisiert im DDR-Marxismus, hält sie die Sklaverei für einen Fortschritt gegen die Urge­sellschaft, und den bürgerlich-absolutistischen Staat für einen gegenüber dem Feudalismus.

Bleiben wir noch kurz bei den Bauern, den Plebeiern. Als im 19. Jahrhundert Großbürger und Beamte aus Paris das flache Land mit ihren Segnungen der hohen Steuern und des allgemei­nen Militär-Diensts überzogen, da wehrten sie die französischen Bauern gegen diesen Forts­chritt. Sie misstrauten zutiefst den Gaben der städtischen Kultur. Für sie stellten sie nur Mehr­belastungen und intensivierte Ausbeutung dar. Dabei liefen sie einem Messias in die Hände, der ihnen gerade das verstärkt brachte: Napoleon III. war der erste Rechtspopulist.

Als ein halbes Jahrhundert zuvor die Bauern der Vendée und manche andere auch sich gegen gerade diese Segnungen schon geweht hatten, wandten sie sich um Unterstützung ausgerech­net an jene, die bisher ihre extremsten Ausbeuter waren, den Klerus und den Adel. In anderen europäischen Regionen, die in den Krieg gegen die Revolution und Napoleon hinein getrieben worden waren, verlief es vielfach ganz nach demselben Muster. Auch in Österreich gab es eine Vendée. Sie wird in den hiesigen Schulbüchern als Tiroler Freiheitskampf geführt. Spä­ter haben deutschnationale Ideologen einen nationalen Befreiungskrieg daraus gemacht. Das war besonders grotesk – richtete sich der Aufstand doch gegen die Bayern. Wieder warfen sich die Bauern der schwärzesten Reaktion in die Arme, dem Klerus und Habsburg. Und in der Toskana, in Arezzo, verlangte Viva Maria nach dem gütigen Pietro Leopoldo, als Habs­burger Kaiser Leopold II: Überall sehen wir dasselbe Muster: Das städtische Bürgertum behauptete, den Gang der Weltgeschichte zu verkörpern. Das war keineswegs naiv. Das lag in seinem ureigensten Interesse. Und die Bürger wussten ganz genau, dass andere Klassen dafür zu bezahlen hatten. Die Bauern aber wandten sich in ihrer Verzweiflung an die Feinde ihrer Feinde. Sie wurden so zu den Verbündeten der schwärzesten Reaktion.

Als im 15. Jahrhundert die Bauern in Süddeutschland, in der Schweiz, in Kärnten der Steier­mark und in Krain („Windischer Bauernkrieg“) sich gegen die Folgen des frühmodernen Staats-Aufbaus wandten, da wollten sie als Ziel das Alte Recht / Stara Pravda und nicht etwa eine neue Gesellschaft.

 

Großbritannien – Italien – Österreich – Griechenland – Spanien?

„All diese vielen kleinen Aufstände, Unruhen und Streitigkeiten … sind für sich genommen geringfügige örtliche Ereignisse. Erst durch ihre Vielheit erhalten sie Gewicht. So verschie­denartig auch die örtlichen Voraussetzungen sein mögen, überall kämpften die Bauern für das alte Recht gegen die neu aufkommende Staatsgewalt. … Verbote über Verbote, die, so vernünftig sie sein mochten, doch für den einzelnen empfindliche Hemmungen bedeuteten, … eine Vielregiererei, die in alle Verhältnisse eingriff…“

Klingt ziemlich bekannt. – Franz, Günther (1965 [1933]), Der deutsche Bauernkrieg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 19.

Heute sind die Bauern in den hoch entwickelten Ländern weitgehend aus der Geschichte verschwunden. Doch die plebeischen Schichten sind tendenziell sehr breit geworden. Und wieder stellt sich die alte Frage: Stellen sich nicht die Plebeier von M5S oder auch, kulturell eine ganz andere Tradition, die Anhänger des Nigel Farage oder der Marine Le Pen gegen jeden Fortschritt, wenn sie sich, ebenso wie die österreichischen Unterschichten, immer klarer gegen die übernationale Integration, die EU stellen? Immer klarer? Kaum sieht Bepe Grillo die Möglichkeit eines Wahlsiegs am Horizont, ist seine Opposition gegen das betrügerische italienische Wahlrecht schon nicht mehr gegeben. Die Stellung gegen Euro und EU war ohnehin nie so ganz eindeutig. Als künftige Ministerpräsidenten einer Grillini-Regierung werden in den Zeitungen zwei Abgeordnete genannt (Luigi di Maio und Alessandro di Battista), die ein klare Anti-EU-Politik vermutlich nicht verfolgen würden, weil sie vor allem schnell zum politischen Establishment zählen möchten.

Aber ist denn nicht ganz vernünftig, sich dem Fortschritt größerer Integration nicht zu verschließen? Kann man gegen das eherne Gesetz des historischen Fortschritts auftreten?

Die Grundfrage ist: Kann man auf einem plebeischen Schichtverband eine revolutionäre, oder auch nur eine transformistische Strategie aufbauen? Die Antwort lautet nüchtern: Entweder man schafft es; oder aber man muss jede Ambition begraben, diese Gesellschaft in Richtung Demokratie und Gleichheit umzubauen. In gewisser Weise ist die Frage auch ein Scheinprob­lem. Der spätmarxistische Mythos vom Proletariat verdeckt nämlich zwei essenzielle Punkte. „Proletariat“ war in der sozialen Wirklichkeit stets ein plebeischer Schichtverbund. Politisch aber war „Proletariat“ in der Hochzeit der Arbeiter-Bewegung ein Verbund, in welchem Intel­lektuelle auf sehr autoritäre Weise eine zahlreiche plebeische Gefolgschaft kommandierten. Das galt für die Sozialdemokratie, und wir können dies nachvollziehen an der tiefen Enttäu­schung mancher Linker über die autoritären Strukturen der Sozialdemokratie, in Österreich wie in Deutschland. Aber es galt ebenso für die Bolschewiki. Der Verbund von Intellektuellen und Volksschichten ist unabdingbar. Es kommt nur darauf an, wer wen kontrolliert.

Die Entwicklung von Macht und Herrschaft ist solange ein Naturgesetz, solange sich keine organisierte Kraft, keine Gegenmacht dem entgegen stellt. Das gilt geradezu definitorisch. Woher beziehen die Eliten ihre Macht, vor allem in Gesellschaften der Gegenwart? Sie haben sich in effizientester Weise organisiert und diese Organisation, ihre Netzwerke auf die gesam­te Gesellschaft ausgedehnt. Sie beherrschen dabei vor allem auch die Hegemonie-Apparate, die Schulen, die Medien, die akademischen Institutionen. Das sind die wichtigsten Organisa­tionen, welche die Ausbeutung und Unterdrückung absichern und rechtfertigen. Dabei spielt das Vokabel „Fortschritt“ stets eine ganz zentrale Rolle. Wenn aber eine Gegen-Organisation sich damit zufrieden gibt, dass die Ausbeutung nur nach altem Muster abläuft, dass Ausbeut­ung eben ein bisschen milder sein soll, ist ihr Scheitern schon angelegt. Das „sozialdemokrati­sche“ 20. Jahrhundert war kurzfristig ein Riesen-Erfolg reformistischer Strategie. Es war längerfristig die akute Niederlage der Unterschichten, wie die neoliberale Politik der Gesell­schaftsspaltung zeigt. Das ist das notwendige Ergebnis, wenn man sich mit „ein Bisschen“ zufrieden geben will.

Die plebeische Bewegung gegen die EU in ganz Europa ist immer noch sehr zaghaft. Aus der Eurozone ausscheiden? Lieber doch nicht. Man droht uns doch mit geringerem Wachstum und sonstigem Ungemach. Aus der EU austreten? Oh Gott, das wollen wir nicht – lieber gemeinsam statt einsam. Kommt uns das nicht recht bekannt vor, wenn heute naive (?) Unzufriedene ein soziales Europa möchten und ausgerechnet die EU das sein soll?

Genau hier liegt der Unterschied zwischen Revolutionen und Rebellionen. Rebellionen scheitern und haben meist eine schlimmere Situation zur Folge, als sie vorher gegeben war. Beispiel gefällig? Sehen wir nach Griechenland!

Den Bauernkrieg hier heranzuziehen, mag wie die Marotte eines ältlichen Sozialwissenschaf­ters klingen. Aber es war kein Zufall, dass der junge Engels diese Tradition einführte. Als Linke stellen wir uns bewusst in sie hinein. Heute ist es ja schon ein politischer Akt, Engels oder gar Marx zu zitieren oder positiv zu nennen. Aber es ist diese Tradition, die uns hilft, die Situation zu reflektieren. Und die Parallele der heutigen Plebeier und ihrer Illusionen zu den bäuerlichen Plebeiern vor einem halben Jahrtausend ist sprechend. Ja, wir stellen uns gegen diese Art von Fortschritt! Sie meint, Produktivität und Entfaltung nur über den Umweg von mehr Unterdrückung und Ausbeutung gewinnen zu können. Das ist die berüchtigte Trickle down-These: Den Eliten muss es sehr viel besser gehen, damit auch unten einige Brosamen ankommen.

Diesmal wenden wir die Sache eben politisch: Der Fortschritt der Menschheit geht nur über den immer größeren und immer autoritäreren Staat, so hämmert man uns Tag für Tag ein: erst die EU und dann der ultimative Große Bruder, der Weltstaat.

Aber Ihr schlagt doch die Rückkehr zur nationalen Souveränität vor. Ihr seid Nationalisten!

Wir müssen es uns im Ernst überlegen: Ist das nicht das Rufen nach dem Alten Recht, an der schon so viele Rebellionen gescheitert sind? Wollen wir zurück zu einer überholten Gesellschafts- und Staatsstruktur?

Nehmen wir den Einwand als Stimulus! Wir müssen wirklich über solche Fragen nachdenken. Was ist also unsere Idee?

Der Nationalstaat, der formell noch besteht, besitzt einen gegebenen institutionellen Rahmen. Der ist bekannt und vorstellbar und hat sich eine historisch kurze Zeit lang bewährt. Nun wollen wir eine Re-Demokratisierung, gegen die Tendenzen der Eliten. Dafür brauchen wir einen solchen vorläufigen Rahmen. Unsere Idee ist also keineswegs, dass der Nationalstaat der makellose nicht veränderbare Rahmen ist. Aber im Kampf gegen den fortschreitenden Demokratie- und Wohlfahrtsabbau durch die EU brauchen wir einen Neustart. Auf diesen neu-alten Ausgangspunkt können wir uns in einer breiten Koalition einigen.

Wir von der Linken wollen aber nicht auf den alten Umständen sitzen bleiben. Trotzdem sind der Nationalstaat und die Renationalisierung jetzt ein strategisches Ziel. Über das dann fol­gende zuerst nationale und dann ernsthaft internationale Projekt werden wir uns auseinander setzen, wenn es aktuell ist, wenn es soweit ist. Die Eliten wollen uns in einen Streit hinein hetzen, der uns spaltet. Das würde ihnen eine Garantie bieten, dass wir das strategische Zwischenziel nicht erreichen. Denn das ist mehrheitsfähig.

Der folgende politische Konflikt muss dann ausgetragen werden, wenn es sinnvoll ist, wenn das erste Ziel erreicht ist. Die politische Debatte mit all ihren Widersprüchen kommt bald genug. Wir müssen sie nicht jetzt forcieren, wo sie die Massen nur spaltet. Wenn das vorher in den Mittelpunkt rückt, stiftet dies nur Verwirrung und ist eine Behinderung.

Das strategische Zwischenziel ist die nationale Selbstbestimmung. Das ist nicht eine taktische Frage. Darüber können wir mit einer Mehrheit der Bevölkerung auch heute bereits überein stimmen. Auf dieser Grundlage beginnt die Politik für die Zukunft neu.

Albert F. Reiterer – 9. Dezember 2016