DELEGITIMATION UND FALSCHER TROST: Elektoralismus und die Linke in Frankreich und anderswo

Weniger als die Hälfte der französischen Wähler hat am Sonntag die Stimmen abgegeben. Auf Le Monde (13. Juni) rechnet uns die Redaktion vor: Die Macron-Partei hat ganze 15,4 % Zustimmung der wahlberechtigten Bevölkerung erhalten. Die Delegitimierung der neuen Politik springt in die Augen.

Nicht alle hat es gleichermaßen schlimm erwischt. France Insoumise hat z. B. vom Zusam­menbruch der Sozialdemokratie in bescheidenem Ausmaß profitiert. Aber der Großteil der alten Sozialdemokraten ist zum neuen konservativen Held übergelaufen. Der FN bekam die Rechnung für seine Unentschiedenheit, dafür, dass er sich bereits als Regierungspartei präsentierte. Strache hier in Österreich wird dies wahrscheinlich nicht begreifen – sein Problem.

Hüten wir uns aber vor dem Schönreden dieses Ergebnisses! Es ist eine Niederlage für die Linke. Und die Delegitimierung kratzt den Herrn Macron und seine Auftraggeber aus Paris, Berlin und Brüssel nicht wirklich. Denn seit einiger Zeit setzen die Eliten nicht mehr auf Legitimität. Sie setzen auf Legalität. Und die basteln sie sich nach ihren Bedürfnissen. Besser und genauer gesagt: Sie hoffen, über die Legalität eine Legitimität vorspiegeln zu können. Deswegen drehen sie ja ständig dort an den Schrauben des Wahlrechts, wo es noch nicht eine solche Verzerrung gibt wie in Frankreich, im UK, in den USA, in Griechenland, in Italien, …

Aber diese jüngsten Wahlen haben es in sich. Und wir sollten darüber nachdenken. Wir können nicht den Beinahe-Wahlsieg des J. Corbyn begrüßen, oder seinerzeit, im Jänner 2015, den des A. Tsipras; dann aber, wenn es nicht so läuft, wie wir es uns wünschen, plötzlich skeptisch werden. Wenn wir den Elektoralismus kritisieren, wenn wir skeptisch zu diesem politischen System sind, müssen wir es auch dann sein, wenn es zufällig einmal Ergebnisse produziert, die uns vielleicht gefallen. Aber wir können uns nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch nicht den Luxus eines leichtfertigen Umgangs mit parlamentarisch-demokratischen Institutionen erlauben.

Halten wir fest: Parlamentarische Prozeduren und Wahlen wurden erfunden, als von einem allgemeinen Wahlrecht noch lange keine Rede war. Sie waren ein Instrument, mit welcher das neu aufsteigende (Groß-) Bürgertum versuchte, für seine Klasse eine Mitsprache, eine politische Partizipation zu erreichen. Es gibt nichts Aufschlussreicheres als die Verhältnisse um 1890 / 1900 herum im Habsburgerstaat: Den Großbourgeois reichten für ein Mandat 68 Stimmen; die „allgemeinen Kurie“ hatte 45.000 Stimmen aufzubringen. Und das war bereits ein Fortschritt gegenüber zwei Jahrzehnten zuvor.

Und doch fürchteten sie das allgemeine Wahlrecht wie; angeblich, der Teufel das Weih­wasser. Und doch räumten sie 1920 – 40 die parlamentarischen Regime der Reihe nach weg, mittels der diversen europäischen Faschismen. Erst nach 1945 ließen sich die Eliten kurzfristig auf das neue Experiment ein, aus Furcht vor dem Sozialismus, aus Furcht vor der Sowjetunion, die sie für sozialistisch hielten. Aber wenn nur entfernt die Möglichkeit einer gewissen Änderung durch Wahlen auftauchte, man denke an Griechenland in den 1960ern, dann wurde wieder geputscht. Auch der Putsch de Gaulles in Frankreich 1958 gehört im Grund hierher.

Erst dann realisierten sie langsam, dass es auch andere Verfahren der Immunisierung gegen demokratische Gefahren gab und gründeten die EU.

Wir stehen vor einem Paradox: Die Eliten fürchten ihre eigenen Institutionen, aber gleich­zeitig verlassen sie sich auf sie, und mit Erfolg, wie es sich zeigt.

Die klassische Linke ist in den hoch entwickelten Ländern tot, wenn wir nach ihrer Massen­basis fragen. Aber es gibt auch keine wirklich neue plebeische Kraft, geschweige denn eine revolutionäre. Die Bevölkerung ist unzufrieden. Aber gleichzeitig ist sie ängstlich. Wir haben also eine recht komplexe Situation vor uns. Der Legalismus hat tiefe Wurzeln in der Bevölkerung. Außerdem traut sie „der Politik“ schon längst nicht mehr. Noch hat sie zum Großteil nicht realisiert, dass er inzwischen vor allem zum Abbau von Partizipation und von Lebens-Chancen der unteren zwei Drittel eingesetzt wird. Wir müssen also einerseits auf diese schleichende Änderung reagieren, und das kann man auch mit der Verteidigung der alten Institutionen. Aber vor allem, und das ist der Sinn dieses Textes: Wir müssen uns in aller Klarheit bewusst sein: Es braucht andere, neue, besser einsetzbare und zielführendere politische Institutionen. Das ist unabhängig von einem augenblicklichen Erfolg oder einer Niederlage.

Über diese Frage sollten wir eine ernsthafte Debatte beginnen.

  1. Juni 2017