Souveränität für eine Politik von Emanzipation und De-Kommodifizierung

von Steffen Stierle, Juni 2017

Diese Rede wurde am Seminar „Reshaping sovereignty and achieving equality in Europe“ des „European Reserch Network for Social and Economic Policy“ (ERENSEP) in Barcelona gehalten.

Der Neoliberalismus war von Anfang an in der Lage, Teile seiner potenziellen Gegner für sich zu gewinnen und erreichte dadurch eine hegemoniale Stellung. In diesem Kontext ist in Europa die Aufgabe nationaler Souveränität zugunsten des supranationalen Rahmens der EU zu sehen, in dem demokratische Entscheidungen zugunsten eine Politik der De-Kommodifizierung kaum mehr möglich sind. Gleichwohl sind die Nationalstaaten weder verschwunden noch obsolet geworden. Sie sind die Ebene auf der politische Projekte des sozialen Schutzes gegen die Aggressionen des Marktes durchgesetzt werden könnten, wenn die Liaison emanzipatorischer Kräfte mit dem Neoliberalismus zugunsten einer Liaison mit den Kräften des sozialen Gesellschaftsschutzes aufgekündigt würde. Derartige Projekte müssten nationalstaatliche Souveränität zurückkämpfen um handlungsfähig zu sein. Der wichtigste Schritt wäre der Ausstieg aus der europäischen Währungsunion. Diese Zusammenhänge werden im Folgenden ausführlicher dargestellt.

Die unheilige Liaison emanzipatorischer Kräfte mit dem Neoliberalismus

Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte eine gesellschaftliche Doppelbewegung hervor: Einerseits Kommodifizierung in einem Ausmaß, das die Gesellschaft als solche existenziell bedroht. Andererseits eine Gegenbewegung, die auf sozialen Schutz vor den Aggressionen des Marktes und damit den Erhalt der Gesellschaft abzielt. Karl Polanyi hat diese Doppelbewegung herausgearbeitet und überzeugend dargestellt, dass es sich bei der Gegenbewegung um eine dezentrale und spontane Reaktion zum Selbstschutz der Gesellschaft handelt (Polanyi 1973 [1944]).

Daraus ergibt sich die Frage, was heute, im Zeitalter des globalisierten, finanzgetriebenen Kapitalismus (des Neoliberalismus) anders ist. Angesichts des pervertierten Ausmaßes an Kommodifizierung (Ausuferung der Finanzmärkte, Arbeitsmarktflexibilisierung, Privatisierung lebensnotwendiger Güter wie Wasser etc.) kommt die Gegenbewegung erstaunlich schwach daher.

Die US-amerikanische Feministin Nancy Fraser liefert einen wichtigen Beitrag zur Erklärung dieses Umstandes, wenn sie auf eine unheilige Liaison emanzipatorischer Kräfte mit dem Neoliberalismus verweist. Der Kampf gegen herrschaftliche Unterdrückung (Paternalismus, Rassismus etc.) spielt in Polanyis Doppelbewegung keine Rolle. Dieser Kampf wird mit den neuen emanzipatorischen Bewegungen politisch relevant, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bühne betreten.

Viele der von ihnen angegriffenen Herrschaftselemente sind mit Elementen des sozialen Schutzes verwoben: Paternalistische Strukturen in den Sozialstaaten der Nachkriegszeit, rassistische Ausgrenzung aus sozialen Sicherungssystemen entlang nationalstaatlicher Grenzen, Verfestigung von Klassenstrukturen im korporatistischen Wohlfahrtsstaat etc. (Esping-Andersen 1990). Fraser stellt fest, dass die Liaison mit dem Neoliberalismus erstaunliche Erfolge in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der sexuellen Freiheit, des Anti-Rassismus etc., zugleich aber ein extrem weitreichendes Zurückdrängen des sozialen Schutzes durch Kommodifizierung ermöglichte. Das sei die Basis neoliberaler Hegemonie (Fraser 2013).

In diesem Kontext sind die Kompetenzübertragungen aus den europäischen Nationalstaaten auf die EU-Ebene und der damit einhergehende Souveränitätsverzicht zu betrachten. Unter neoliberaler Hegemonie steht der Nationalstaat für Rückwärtsgewandtheit, veraltete Autoritäten und Exklusion. Die EU steht für Internationalismus, Fortschritt und Offenheit.

Zum Charakter der EU-Integration

Der oben begründete Siegeszug des Neoliberalismus beschreibt eine globale Entwicklung. Die EU-Integration seit Mitte der 1980er Jahre ist ihre europäische Dimension. Bewusst wurde ein Konstrukt geschaffen, das alle Beteiligten in der Tendenz auf neoliberale Politik festlegt. Der common market zwingt zu einer Wirtschaftspolitik der Deregulierung, die Maastricht-Regeln zu pro-zyklischer, zurückhaltender Fiskalpolitik, die EZB-Statuten zu einer preisstabilitäts- statt beschäftigungsorientierten Geldpolitik.

Entscheidend ist, dass dies nicht eine Frage parlamentarischer Mehrheiten ist. Vielmehr sind diese neoliberalen Festlegungen als Teil der EU-Verträge der demokratischen Umgestaltung entzogen. Wie der Europarechtler Dieter Grimm erklärt, haben die EU-Verträge

„die Funktion übernommen, die im nationalen Staat Verfassungen haben. Verfassungen entziehen bestimmte grundlegende Prinzipien der Mehrheitsentscheidung und bestimmen im Übrigen die Organe der politischen Einheit, ihre Kompetenzen und das Verfahren, in dem politische Entscheidungen gefällt werden. […] Die europäischen Verträge, die vom EuGH konstitutionalisiert worden sind, beschränken sich aber nicht auf solche Bestimmungen. Sie sind voll von dem, was in den Mitgliedstaaten einfaches Gesetzesrecht wäre. […] Wenn es um ihre Auslegung und Anwendung geht, sind die Vollzugs- und Gerichtsorgane der EU, also Kommission und EuGH, unter sich. Rat und Parlament sind jedoch nicht nur ausgeschlossen. Sie haben auch keine Chance, etwas zu ändern“ (Grimm 2017).

Die single currency hat zudem einen Lohn- und Steuerwettbewerb ausgelöst, der Sozialstaatlichkeit, öffentliche Daseinsvorsorge und Arbeitnehmerrechte unter zusätzlichen Druck setzt und zugleich die ökonomischen Ungleichgewichte produziert, die eine Hauptursache der Euroraum-Krise seit 2009/10 sind. Die politischen Reaktionen auf die Krise reflektieren gleichwohl den neoliberalen lock-in und folgen den Interessen der dominanten Akteure des finanzgetriebenen Kapitalismus. Die Troika-Interventionen, das quantitative easing der EZB etc. drehen sich vor allem um die Frage: Wer wird rausgehauen, wer zahlt? Gerettet werden Banken, transnationale Konzerne und Vermögende, die Zeche zahlen Arbeitnehmer, Rentner und Kleinunternehmer.[1]

Zugleich wird die Krise genutzt, um den lock-in zu härten: Fiskalpakt, Europäisches Semester, 6-Pack und 2-Pack sind Beispiele dafür. Stets geht es um die gleichen drei Elemente: Druck auf öffentliche Ausgaben, Druck auf Marktregulierungen und Etablierung von Durchgriffsrechten der EU-Technokratie auf die nationalstaatliche, parlamentarische Politik. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, wie die Vorschläge zeigen, die u.a. im Fünf-Präsidenten-Bericht[2] 2015 oder dem Reflexionspapier der EU-Kommission zur Vertiefung der Währungsunion[3] 2017 vorgelegt wurden.

Zum Charakter und den Potenzialen heutiger Nationalstaaten

Die EU-Integration bedeutet letztlich der Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität zugunsten eines abstrakten, technokratischen Institutionengefüges, das zunehmend apolitisch funktioniert und jene Maßnahmen umsetzt, die es braucht um den finanzgetriebenen Kapitalismus am Laufen zu halten und die Interessen seiner dominanten Akteure zu bedienen. Die heutigen Nationalstaaten sind einst mit ähnlicher Intention entstanden: Sie wurden regionalen, häufig recht solidarisch geprägten Gesellschaften und eher marktfremden Wirtschaftskreisläufen übergestülpt um ausbeuterische Strukturen durchzusetzen. Statt über die Angelegenheiten der Gesellschaft vor Ort zu diskutieren und gemeinsame Lösungen zu suchen, sowie sich gegenseitig zu helfen, waren nun Steuern zu zahlen und die Politik dem abstrakten, fernen Staat zu überlassen. Um die Steuern bezahlen zu können, musste für einen anonymen Markt produziert werden. Um sich auf selbigem zu behaupten musste permanente Effizienzsteigerung betrieben werden etc. Es gibt also aus marktkritischer Sicht wenig Grund, den Nationalstaat zu glorifizieren (Kropotkin 2009 [1902]).

Bis innerhalb dieser Nationalstaaten ein gewisses Maß an Bürgerrechten durchgesetzt werden und funktionierende Gesellschaftsstrukturen etabliert werden konnten, sind Jahrhunderte vergangen. Den persönlichen Rechten des 18. und den politischen Rechten des 19. Jahrhunderts folgte im 20. Jahrhundert vor allem die Durchsetzung sozialer Rechte. Während jedoch persönliche und politische Rechte gut mit dem Kapitalismus vereinbar waren, teilweise durch seine Entwicklungsphasen geradezu erforderlich wurden, fordert der Kampf um soziale Rechte ihn heraus (Marshall 1991 [1950]). Insofern ist es logisch, dass gerade ab dem späten 20. Jahrhundert erneut etwas abstrakteres, größeres, über die Gesellschaften gestülpt wird – globale Institutionen bzw. die EU.

Während es wohl erneut Jahrhunderte dauern würde, auf der neuen Überebene ein vergleichbares Maß an sozialem Schutz und Demokratie durchzusetzen, sind die Nationalstaaten heute keineswegs obsolet. 1950 zählten die Vereinten Nationen 91 Staaten auf der Welt, bis 1980 stieg ihre Zahl auf 177. Im Zeitalter der Globalisierung nahm sie nochmal zu, auf 202 im Jahr 2010. Die meisten davon sind klein. Die durchschnittliche Einwohnerzahl liegt bei 7,1 Millionen. Der Prozess zur nationalstaatlichen Organisierung ist damit nicht abgeschlossen. Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien, Schottland, Flandern, Quebec oder Kurdistan zeigen, dass viele Nationen eine eigene Staatlichkeit auch heute noch für erstrebenswert halten (Streeck 2017; Wahl 2017).

Zweifelsohne ist es richtig, dass es im Zuge der Globalisierung zu einem gewissen Steuerungsverlust der Nationalstaaten kam. Das gilt allerdings weder absolut noch für alle gleichermaßen, wie Peter Wahl erklärt:

„Die USA haben ihre Konzerne durchaus im Griff, wenn es darauf ankommt. Das gilt für Banken ebenso wie für die digitale Industrie, wie Google und Facebook, die sich anstandslos dem NSA unterwerfen müssen, wenn es von ihnen verlangt wird. […] Auch für Deutschland gäbe es noch beträchtliche Spielräume. Immerhin ist das Land die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das Argument vom Steuerungsverlust wird gern missbraucht, um zu verdecken, dass der politische Wille zur Regulierung fehlt. Auch kleinere Länder haben die Möglichkeit, durch die Bildung von Allianzen der Macht der Konzerne etwas entgegenzusetzen, wenn der politische Wille dafür vorhanden ist. […] Auch die Finanzkrise 2008 wurde mit nationalstaatlichen Mitteln bearbeitet […] weil nur der Nationalstaat über die finanziellen, juristischen und politischen Ressourcen verfügte, die Krise wenigstens so weit einzudämmen, dass das Schlimmste verhindert werden konnte“ (Wahl 2017).

Machtpotenziale emanzipatorischer Kräfte im Nationalstaat

Es ist also weitaus realistischer, auf nationalstaatlicher Ebene Kommodifizierung und Unterdrückung entgegenzutreten als zu versuchen, die EU-27 sozial, demokratisch, friedlich etc. umzugestalten. Im Nationalstaat gibt es ein gewisses Maß an demokratischen Rechten, gemeinsamer Identität und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit. Es ist kein Zufall, dass in den Krisenjahren seit 2009/10 fast alle sozial-emanzipatorischen Erfolge auf nationalstaatlicher (bspw. Verhinderung von Kürzungen bei Pensionen und Beamtengehältern durch das Verfassungsgericht in Portugal 2013) oder regionaler (bspw. Stopp von Privatisierungen im Gesundheitssektor in Madrid 2012/13) Ebene erreicht wurden.

Um dieses Potenzial nutzbar zu machen ist es entscheidend, dass emanzipatorische Kräfte die oben thematisierte Liaison mit dem Neoliberalismus aufgeben und an ihrer Stelle eine Liaison mit den Kräften rückt, die für sozialen Gesellschaftsschutz stehen. Unterdrückung und Kommodifizierung müssen gleichermaßen zurückgewiesen werden um im Sinne von Frasers Dreifachbewegung neoliberale Hegemonie zu brechen.

Andreas Nölke hat herausgearbeitet, dass es für derartige Projekte ein beachtliches Potenzial gäbe. In seinen Grundlinien einer linkspopulären Position unterteilt er die Landkarte des politischen Wettbewerbs in zwei Achsen. Die erste beschreibt das klassische Links-Rechts-Muster; die zweite differenziert zwischen kosmopolitisch und kommunitaristisch. Kosmopolitische Positionen zeichnen dadurch aus,

„dass sie nicht nur in einer globalisierten Ökonomie, einer kulturellen Liberalisierung und einer liberalen Wirtschaftsregulierung die unvermeidbare Moderne zu lokalisieren suchen, sondern auch in Formen des Regierens jenseits des Nationalstaats und einer – notfalls mit Waffengewalt erzwungenen – globalen Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten. […] Kommunitaristische Positionen heben dagegen die Bedeutung von lokaler oder nationaler Demokratie und Solidarität hervor […] um einen funktionsfähigen Sozialstaat aufrechterhalten zu können. [Sie] zeigen eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der wirtschaftlichen Globalisierung und gegenüber internationalen Institutionen, die nationale Demokratie und wirtschaftspolitische Handlungsspielräume unter Druck setzen können, wie beispielsweise TTIP oder die Europäische Union“ (Nölke 2017).

So entsteht ein Koordinatensystem mit zwei Dimensionen. Nölkes Analyse zufolge gibt es eine Repräsentationslücke im links-kommunitaristischen Quadranten. Im klassischen Links-Rechts-Schema gibt es keine Option, die sowohl gegen Unterdrückung wie auch für Gesellschaftsschutz steht: links ist untrennbar mit kosmopolitisch verbunden. Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen aus Arbeitermilieus etc., the common man, den Polanyi ins Zentrum der Gesellschaft rückt, der Linken den Rücken kehren und entweder sich ihrer Stimme enthalten, oder, wie Didier Eribon in seiner Rückkehr Reims (2009) beeindruckend darstellt, sich Kräften wie dem Front National zuwenden.

Der links-kommunitaristische Quadrant ist jener, in dem eine Liaison zwischen Gesellschaftsschutz und Emanzipation stattfinden kann. Die relativen Erfolge neuer Akteure wie Unidos Podemos, Cinco Estelle und insbesondere France Insoumise erklären sich dadurch, dass sie sich (unterschiedlich stark) in diesem Quadranten bewegen und dadurch sowohl von rechts als auch aus dem Lager der Nichtwähler Stimmen gewinnen.

Relevanz von Souveränität und politischer Handlungsfähigkeit heute

Damit eine solche politische Strategie eine Machtperspektive bekommt, braucht es politische Handlungsspielräume auf nationalstaatlicher Ebene, mittels derer eine Politik der De-Kommodifizierung im Widerspruch zum globalen Umfeld des finanzgetriebenen Kapitalismus durchgesetzt werden kann. Das Beispiel Griechenland zeigt, dass es ohne eigene politische Handlungsfähigkeit relativ egal ist, ob Konservative, Sozialdemokraten oder Linke regieren. Die Griechen können seit dem Troika-Einmarsch wählen, was sie wollen. Am Ende kommt immer ein neues Austeritätsprogramm. Der von Varoufakis als Finanzminister initiierte und von James Galbraith u.a. ausgearbeitete Plan X zielte darauf ab, durch einen Ausstieg aus dem Euro die notwendige Souveränität zu erlangen, um das Syriza-Programm umzusetzen. Die Regierung entschied sich gegen den Plan, was es unumgänglich machte, das eigene Programm durch ein weiteres Memorandum zu ersetzen (Galbraith 2016).

Der Euro ist die straffeste Klammer der Souveränitätsbegrenzung und Festlegung auf neoliberale Politik. Wolfgang Streeck bringt das gut auf den Punkt:

„Die Ausschaltung der Abwertung als Mittel nationaler Wirtschaftspolitik bedeutet […] die Aufpropfung eines einheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells auf alle der gemeinsamen Währung unterstellten Länder; sie setzt die Möglichkeit einer raschen Konvergenz ihrer sozialen Ordnungen und Lebensweisen voraus und treibt sie voran. Zugleich wirkt sie als zusätzliche Triebkraft jener universellen Expansion von Märkten und Marktverhältnissen, die als kapitalistische Landnahme bezeichnet worden ist, indem sie im Modus dessen, was Karl Polanyi als ´geplantes Laissez-faire´ bezeichnet hat, Staaten und ihre Politik durch Märkte und ihre selbstregulierende Automatik mehr oder weniger gewaltsam zu ersetzen sucht“ (Streeck 2014).

Der Euro zwingt seine Mitglieder in einen erbarmungslosen Steuer- und Lohnwettbewerb, zwingt zu permanenter interner Abwertung und ist die Basis für das Erpressungspotenzial der EZB und die Troika-Interventionen. Er ist derzeit das wohl schärfste Schwert des europäischen Neoliberalismus. Ein Ausstieg ist daher Voraussetzung für eine Abkehr von neoliberaler Politik. Von Mélenchon´s u.a. Plan B[4] über Galbraith´ Plan X bis hin zu Vorschlägen für ein reformiertes European Monetary System[5] oder der Einführung von Parallelwährungen[6] gibt es in der linken Debatte ein breites Set an währungspolitischen Strategien und Alternativen. Sicherlich ist ein Ausstieg mit vielen Schwierigkeiten verbunden, sicherlich wäre er für Griechenland schwieriger als bspw. für Frankreich. Letztlich ist er unumgänglich. Währungssouveränität ist die erste Voraussetzung für die Umsetzung eines sozial-emanzipatorischen Projektes auf nationalstaatlicher Ebene.

Gerade für kleinere Länder wäre die Lösung der Euro-Klammer von herausragender Bedeutung, da sie am wenigsten in der Lage sind, sich innerhalb des Euroraums durchzusetzen und sie daher die größten Souveränitätsverluste zu verzeichnen haben. In der EU geht es kleinen Ländern außerhalb der Eurozone (Dänemark, Schweden) besser als drinnen (Finnland, Griechenland, Irland).

Die EU ist die nächste Schale der Zwiebel der Souveränitätsbegrenzung. Die common market Regeln und ihre einseitige Auslegung durch den EuGH, die Maastricht-Regeln etc. drücken in die gleiche Richtung, wenn auch der Rahmen nicht ganz so straff ist. So geht es kleinen europäischen Gesellschaften außerhalb der EU (Norwegen, Island, Schweiz) zumindest nicht schlechter als drinnen (Streeck 2017).

Die dritte Klammer ist das globale Institutionengefüge aus WTO und die Gesamtkomposition der so genannten Freihandelsverträge. Die WTO ist mittlerweile eine zu lose Klammer als dass es kurzfristig entscheidend zu sein scheint, sie zu überwinden. Nicht Teil von Abkommen wie CETA, TiSA, Jefta etc. zu sein, ist hingegen bedeutend für die eigenen politischen Handlungsspielräume. Da innerhalb der EU die handelspolitischen Kompetenzen weitgehend nach Brüssel übertragen wurden, ist es kaum möglich, sich diesen Verträgen (mit Ausnahme einiger Bereiche) zu entziehen, ohne die EU zu verlassen.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass eine Abkehr vom neoliberalen Pfad auf der nationalstaatlichen Ebene wesentlich realistischer als auf EU-Ebene ist, eine Rückgewinnung von Souveränität voraussetzt, gegen den EU/Euro-Rahmen erstritten werden muss und dass ein solcher Ansatz Aussicht auf breite Unterstützung hat.

Ein solcher Ansatz stünde internationaler Kooperation nicht im Wege, sondern ist im Gegenteil die Voraussetzung für ein alternatives, anti-neoliberales Integrationsprojekt, das nicht spaltet, sondern vereint. Ein solidarisches Europa kann es nur auf Basis souveräner Nationalstaaten geben. Er stünde auch der unbedingt erstrebenswerten Kompetenzrückverlagerung auf die lokale Ebene nicht im Wege, sondern ist Voraussetzung dafür. Verantwortliches Handeln und echte Demokratie lassen sich am besten realisieren, wenn die wichtigen Entscheidungen vor Ort getroffen werden und die Betroffenen möglichst direkt eingebunden sind. Das EU-Konstrukt wirkt tief in die Kommunen hinein und begrenzt die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Bürger massiv. Das gilt allerdings auch für die Nationalstaaten, was wiederum eine zentrale Ursache regionaler Unabhängigkeitsbestrebungen ist. Der Kampf um nationalstaatliche Souveränität wäre somit als erster Schritt zu sehen, dem ein Kampf um kommunale Selbstverwaltungsrechte innerhalb souveräner Nationalstaaten folgen sollte.

Literatur

· Brie, M. (2015): Polanyi neu entdecken, Hamburg.
· Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims, Berlin.
· Esping-Andersen, G. (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton.
· European Commission (2017): White Paper on the Future of Europe, Brussels.
· Fraser, N. (2013): A Triple Movement, in: New Left Review 81, London.
· Galbraith, J. (2016): Welcome to the Poisoned Chalice, Yale.
· Grimm, D. (2017): Es wäre nicht hilfreich, die EU zu parlamentarisieren, in: IPG Journal, Berlin.
· Juncker, J.-C. et. al. (2015): Completing Europes Economic and Monetary Union, Brussels.
· Kropotkin, P. (2009 [1902]): Mutual Aid, London.
· Nölke, A. (2017): Grundlinien einer linkspopulären Position, Frankfurt.
· Marshall, T. H. (1991 [1950]): Citizenship and Social Class, London.
· Polanyi, K. (1973 [1944]): The Great Transformation, Frankfurt.
· Streeck, W. (2014): Buying Time, New York.
· Streeck, W. (2017): Nicht ohne meine Nation, in: Zeit Online vom 22. April 2017.
· Wahl, P. (2017): Die Linke, der Nationalstaat und der Internationalismus, online auf eurexit.de.

[1] Für eine kritische Auseinandersetzung mit den Verteilungswirkungen des quantitative easing, siehe hier: https://www.socialeurope.eu/2017/05/ecb-boosts-inequality-can/.
[2] https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/5-presidents-report_en.pdf.
[3] http://europa.eu/rapid/attachment/IP-17-1454/de/Reflection_Paper_EMU_DE_v4.pdf.
[4] https://lexit-network.org/plan-b-summit-rome-final-statement.
[5] See e.g. https://lexit-network.org/towards-a-new-european-monetary-system-not-the-solution-to-everything-but-better-than-the-status-quo.
[6] See e.g. http://www.levyinstitute.org/pubs/wp_866.pdf.