Europäische Lexit-Plattform

Demokratie und Souveränität statt neoliberaler Integration und dem gescheiterten Euro-System

„Anders als häufig behauptet ist die EU kein neutrales Spielfeld. Vor allem die Ereignisse seit der Großen Rezession (2007-2009) haben gezeigt, dass das gegenwärtige Integrationsprojekt durch die rückschrittliche Natur seiner Verträge und eine beispiellose Radikalisierung seines neoliberalen Charakters definiert ist. Ungleiche und hierarchische Kräfteverhältnisse (Zentrum – Peripherie) sind seit längerem Teil der Europäischen Integration. In den letzten Jahren gipfelte diese Ungleichheit in einer deutschen Dominanz über die EU-Wirtschaftspolitik. Die Regeln, die mit der Euroeinführung geschaffen wurden, und die strengen und kaum legitimierten Maßnahmen, mit denen auf die Eurokrise reagiert wurde (EuroPlus-Pakt, Fiskalpakt etc.) haben den autoritären, neoliberalen Charakter der EU-Integration weiter verschärft. So wurde das gegenwärtige Integrationsprojekt zu einem Hindernis für Demokratie und Souveränität.“

 

Hier der gesamte Aufruf sowie die Erstunterzeichnerinnen und Unterzeichner:

http://lexit-network.org/aufruf

 

Ausgewählte Firmatare

  • Tariq Ali, author and filmmaker, UK
  • Alfredo D’Attorre, MP Sinistra Italiana, Italy
  • Stefano Fassina, former Vice-Minister of Finance, MP Sinistra Italiana, Italy
  • Prof. Heiner Flassbeck, Hamburg University and Makroskop, Germany
  • Inge Höger, MP Die Linke, Germany
  • Prof. Martin Höpner, Max Planck Institute for the Study of Societies, Germany
  • Prof. Costas Lapavitsas, SOAS University of London, UK
  • Frédéric Lordon, CNRS, France
  • Prof. Andreas Nölke, Goethe University, Germany
  • Prof. Wolfgang Streeck, Max Planck Institute for the Study of Societies, Germany

Britische Gewerkschafter gegen die EU

Austritt von links „für unsere Rechte“

Folgendes Interview erschien in „il manifesto“ vom 22.Juni 2016:

Nicht die gesamte Labour-Linke hält sich die Nase zu und stimmt für Remain <d.h. den Verbleib Großbritanniens in der EU>. Es gibt Komitees, die sich die Idee eines Austritts aus Europa zu eigen gemacht haben und sich auf die klassischste sozialistische Tradition des Euoskeptizismus eines Michael Foot, eines Tony Benn und des vor einigen Jahren viel zu früh verstorbenen Eisenbahngewerkschafters Bob Crowe beziehen. Außer dem Left Leave, den auf Initiative der Socialist Workers Party (SWP) von Alex Callinicos entstandenen Komitees, gibt es die Kampagne der Trade Unionists against the EU (TUAEU). Wir fragten ihren Leiter Enrico Tortolano, dessen Großvater väterlicherseits aus Sorrento stammt, nach einem überzeugenden Argument für einen Austritt aus der EU von links.

 

Befürchten Sie nicht, dass ein Ausscheiden aus der EU zu einem Um-Sich-Greifen von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus nationalistischer Prägung führt?

 

„Dies ist ein Referendum über die Wiederaneignung der Demokratie. Jahrhundertelang hatte das britische Volk das Recht, seine Vertreter zu wählen und sie auszuwechseln, wenn sie seinen Ansprüchen nicht gerecht wurden. Diese Regel findet in der EU, einer nicht gewählten Versammlung, keine Anwendung. Jean-Claude Juncker bekam seinen Posten <als Chef der EU-Kommission> als Belohnung dafür, dass er Luxemburg zu einem Steuerparadies für die Superreichen gemacht hat.

 

Die EU ist ein Business-Club und sie ist auch rassistisch. Für die weiße europäische Bevölkerung besteht eine begrenzte Reise- und Niederlassungsfreiheit. Es gibt finstere / krumme Abkommen zwischen der EU, der griechischen Regierung und der Türkei auf dem Rücken von Migranten, die Opfer von Misshandlungen, Gewalt und Verletzung der Menschenrechte geworden sind. Ich weise die Kritik zurück, laut der jene, die eine solche imperialistische Organisation verlassen wollen, Rassisten seien.

 

Es geht darum die Rechte der Werktätigen zu verteidigen, während das, was die EU tut, der Abbau der gewerkschaftlichen Tarifverhandlungsmodalitäten und die Beseitigung der Errungenschaften aller europäischen Arbeiter ist. Wie üblich: 1% bereichert sich und 99% dürfen sich um die Reste streiten.“

 

Aber handelt es sich nicht um eine Art von linkem Nationalismus, um die kurzsichtige korporative Interessenvertretung?

 

„Absolut nicht. Eine Sache muss klar sein: Wenn wir uns am 23.Juni von der EU trennen, können wir ein echtes Solidaritätsnetzwerk für die Werktätigen ganz Europas schaffen.“

 

Sind Sie der Meinung, dass die Rechte, die die Arbeitnehmer hier im United Kingdom erlangt haben, besser sind als die innerhalb der EU erreichten?

 

„Ohne Frage. Ich bestreite nicht, dass es zwei oder drei von der EU erlassene Gesetze gibt, die von den britischen Werktätigen begrüßt wurden. Das Problem besteht darin, dass es wenige sind. Andere aber, wie der Equal Pay (die gleiche Entlohnung von Frauen und Männern von 1970, die durch die Kämpfe der Arbeiterinnen im Ford-Werk von Dagenham erreicht wurde; Anm.d.Red.), wurden vom britischen Parlament ratifiziert. Dasselbe gilt für die jüngsten Festlegungen des Minimum und Living Wage (Mindestlohn; Anm.d.Red.). Im United Kingdom wurde das Recht auf bezahlten Urlaub im Unterhaus durch einen Gesetzesakt von 1938 beschlossen und dann im Factory Act von 1948 ratifiziert.“

 

Ihr behauptet, dass die Reform der EU von innen, die von der Linken, die für das Remain <den Verbleib> eintritt, unmöglich ist. Warum?

 

„Der Lissaboner Vertrag ist der einzige auf der Welt, der eine neoliberale und marktorientierte Wirtschaftspolitik in der eigenen Verfassung festschreibt. Die EU hat den Growth and Stability Pack, um die Haushaltsdefizite zu regulieren. Wer mitmacht, ist gezwungen, sich dem anzupassen. Um irgendeinen Artikel zu ändern, ist es notwendig, dass alle 28 Länder gleichzeitig dafür sind und die jüngsten Spannungen zwischen Deutschland und Griechenland sind ein deutliches Beispiel dafür.“

 

Leonardo Clausi

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: Gewerkschaftsforum Hannover

Kontakt: gewerkschaftsforum-H@web.de

NZZ: „Der Euro gefährdet die EU“

Nach der britischen Austrittsabstimmung äußert sogar die Finanzoligarchie ihre Zweifel an Euro und EU

von Wilhelm Langthaler

Der Schock sitzt tief, sehr tief. So tief, dass sogar ganz oben die Solidarität der Banker in den Hintergrund rückt und ihre Denker meinen Zweifel auszusprechen zu müssen. Wenn sogar aus dem Organ der Schweizer Bourgeoisie zitieren kann als wäre es das eigene Buch „Europa zerbricht am Euro“, dann vermag man das Ausmaß der Krise erahnen. Es ist ein Versuch zu retten was zu retten ist.

Folgend ein ungekürztes Zitat aus dem Leitartikel der Neuen Zürcher Zeitung vom Wochenende nach dem Brexit-Referendum (25./26.6.2016). In eckiger Klammer meine Kommentare. Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit von mir hinzugefügt.

Die Mitverantwortung der EU [für die Krisenphänomene] wurde jedoch durch die Einführung des Euro massgeblich verstärkt. Die Einheitswährung erweiterte dank niedrigen Zinsen und hohen Krediten in vielen Ländern die Spielräume für Missbräuche, Blasenbildungen und Verschuldung. Sie verstärkte Fehlanreize für verantwortungsloses Handeln und erlaubte es nationalen Politikern und Bankern, die Verantwortung auf die europäische Ebene abzuschieben.

Der Euro gefährdet die EU

Der Euro, die vermeintliche Krönung der europäischen Integration, steht heute im Zentrum von Europas Krise. Es erscheint fraglich, ob die Fehlkonstruktion langfristig zu retten ist. Wenn doch, dann nur durch einen neuen Gesellschaftsvertrag, dem die Bürger der beteiligten Staaten in transparenter und freiwilliger Weise zustimmen. [Eine nicht ernst zu nehmende ideologische Floskel, die der Autor wohl kaum selber glaubt.]

Dieser Vertrag müsste entweder die fiskalische Selbstverantwortung der Euro-Staaten glaubwürdig etablieren oder [vulgo: die politische Last der Austerität müssen die Eliten voll selbst tragen und dürfen sie nicht auf die EU-Institutionen überwälzen – eine völlig unrealistische Vorgabe], dem Rat führender Ökonomen folgend, die Währungsunion in eine fiskalische Transferunion und Risikogemeinschaft verwandeln, was eine gemeinsame Fiskalpolitik und die dauerhafte Subventionierung des Konsums einzelner Länder durch andere bedeuten könnte. Letzteres würde eine sehr weitgehende politische Integration voraussetzen. [Die Flucht nach vorne in verschärfte supranationale Zentralisierung, von der der Autor andeutet wie unwahrscheinlich ihre Durchsetzung mit demokratischen Mitteln ist:]

Die Führung der Union ist bis heute vor diesen ehrlichen Schritten zurückgeschreckt, weil sie Niederlagen in Volksabstimmungen über die notwendigen Vertragsänderungen fürchtet. Doch das dauernde Lavieren und Verschleiern höhlt das Vertrauen und die Akzeptanz der Bevölkerung aus. Es gefährdet letztlich die Existenz der EU.

Eine offene Debatte über den Zweck und die Verfassung der Europäischen Union ist überfällig. Sie ist die einzige Chance, die in allen Teilen Europas wachsende Schar der Euroskeptiker und EU-Hasser für die gemeinsame Idee zurückzugewinnen. Dabei weisen die ursprünglichen Wünsche der Briten vor dem Referendum einen möglichen Weg: Das in den Römer Verträgen von 1957 und der Präambel des Maastricht-Vertrags von 1992 stehende Ziel einer «immer engeren Union» ist aufzugeben. [sic!] Sie ist kein Selbstzweck.

Eine neue identitätsstiftende Vision ist nötig. Realistischer wäre etwa eine Union mit viel fachen Integrationskreisen, die möglichst allen Mitgliedern jene Schritte und Geschwindigkeiten ermöglicht, die ihre Bürger wünschen. Mit dem Nebeneinander von Schengen-Raum, an dem sogar die Nichtmitglieder Schweiz und Norwegen teilhaben, Dublin-Abkommen, Euro-Zone, Übergangsbestimmungen für Neumitglieder und diversen Opt-outs aus verschiedenen Vertragswerken geht die EU bereits jetzt einen pragmatischen Weg des Miteinanders von Mitgliedern mit oft ganz unterschiedlichen Interessen. Er könnte zur neuen Normalität werden. Eine solche Union wäre offener, beweglicher, freier, anschlussfähiger für neue Mitglieder und wohl selbst für die eigenbrötlerischen Briten akzeptabler, hätten sie sich entschieden, dabeizubleiben.

Was an solch einem unklaren und unbestimmten Rückbau identitätsstiftend sein soll, bleibt unverständlich, reine und leere Hoffnung. In der Substanz erscheint es als eine Rückkehr zum Kerneuropa des reichen Zentrums wie es von Schäuble/Lamers Anfang der 1990er ventiliert wurde, das eine Freihandelszone politisch führt und kontrolliert.

Wie man dorthin kommen kann ohne großen Schaden zu nehmen, sagt Peter Rásonyi nicht. Denn ein solcher Rückzug käme einem Eingeständnis des historischen Scheiterns gleich – eine präzedenzlose Niederlage der globalistischen Eliten. Das würde die gesamte politische Architektur Europas unter US-Vorherrschaft über den Haufen werden und vor allem an der Peripherie antikapitalistische Versuche ermöglichen. Aber das wäre vor einem Schweizer Banken-Lohnschreiberling dann noch zu viel verlangt.

Keine Zukunft für und mit EU

Erklärung des Bundessprecher*innen-Rates der Antikapitalistischen Linken in der LINKEN am 25. Juni 2016 zum Ausgang des EU-Referndums in Großbritannien

Die Volksabstimmung in Großbritannien über die Mitgliedschaft in der EU ist zu einem Fiasko für die herrschende politische Elite in der Europäischen Union geworden. Damit ist ein vorläufiger Höhepunkt der Legitimationskrise des europäischen Kapitals, seiner Regierungen und seiner zentralen Behörden in Brüssel erreicht. Nur in den wenigsten Ländern und in wenigen Fällen wurde die Politik der EU und ihre vertraglichen Grundlagen den Bevölkerungen zur Entscheidung vorgelegt. In fast allen dieser wenigen Fälle hat die Bevölkerung ein klares Nein zu dieser EU gesagt. Das ist heute in Großbritannien nicht anders. Wir respektieren dieses wiederholte Nein nicht nur, sondern wir halten es für die einzig angemessene Antwort in dieser Situation.

Wer hat verloren, wer hat gewonnen?

Die Regierung Cameron hat zur Überwindung ihrer eigenen Vertrauenskrise zum Mittel dieses Referendums gegriffen. Sie ist das Risiko der Spaltung der eigenen Partei, der Regierung und großer Teile der ökonomisch herrschenden Klasse eingegangen. Sie ist das Risiko eingegangen, die nationalistischen und rassistischen Kräfte in Großbritannien zu ermutigen, hat ihnen ein überragendes Thema gegeben. Die Regierung Cameron fühlte sich sicher, dass eine beispiellose konzertierte Aktion der europäischen Regierungen, der Börsen und Konzerne, wie auch vieler Medien die Stimmung der Menschen in Großbritannien genügend beeinflussen würde. Noch während die Stimmabgabe lief, schossen die EU-Verwalter, Regierungen und Medien ein Trommelfeuer über die angeblichen Folgen eines „Brexit“ ab. Die Demoskopen waren sich nicht zu blöde, noch bis in die Abendstunden des Wahltages von einem „Sieg“ der „Remain“-Kampagne zu sprechen. Sie haben alle verloren.

Die Bevölkerung in Großbritannien wurde in einer einfachen Ja-Nein-Frage befragt, ob sie beim Thema EU noch auf der Seite der Regierungen in London und Brüssel stehe. Und sie hat Nein gesagt. Sie wurde nicht zum nationalistischen Geschrei der UKIP befragt, nicht zu Obergrenzen der Immigration und nicht zur Frisur von Boris Johnson. Das Nein ist hier die einzig angemessene Antwort. Auch für Linke, SozialistInnen und KommunistInnen. Wer bei dieser Abstimmung zuhause geblieben ist, sich enthalten oder mit Ja gestimmt hat, der oder die hat einen schweren Fehler und sich gemein mit der herrschenden Elite des kapitalistischen Europas und seiner aktuellen Politik gemacht.

Die EU ist nicht mehr unschuldig

Es geht bei solchen Abstimmungen in der EU schon lange nicht mehr um ein abstraktes Prinzip „Europa ja oder nein“. Die EU war niemals ein Friedensprojekt und eine Union im Interesse des menschlichen Fortschritts, wie sie sich gerne selber darstellt. Die EU ist als reines Binnenmarktprojekt des europäischen Kapitals gegründet worden. Ihre heute gültigen Vertragsgrundlagen legen detailliert die Mitgliedstaaten auf eine kapitalistische Wirtschaftsweise fest und schließen im Gegenzug jede Festlegung auf eine Sozialunion aus. Die „Stabilitätsregeln“ der EU verpflichten alle Mitgliedsstaaten auf eine rigide neoliberale Austeritätspolitik, mit dem ausdrücklichen Ziel, die Löhne der Arbeitenden mit allen ökonomischen und politischen Mitteln zu kürzen, um den Konkurrenzkampf mit den USA und Japan zu bestehen. Die EU ist ein Kind des kalten Krieges und hat von Anbeginn an die Hälfte Europas ausgeschlossen (im Gegensatz zu anderen europäischen Institutionen). Sie hat sich widerspruchslos in die militärischen Pläne der Nato einbinden lassen und ihre eigenen militärpolitischen Ambitionen dazu niemals gegensätzlich gesehen.

Aber es soll Leute geben, die hartnäckig behaupten, diese grundsätzliche Ausrichtung der EU könne durch Mitgestaltung, innere Reformen und Internet-Aufrufe von Intellektuellen gebremst und umgedreht werden. Wir sind es leid, darüber zu diskutieren, weil die Geschichte sich leider weiter entwickelt hat: Die EU hat ihre Unschuld verloren. Ihr Frontex-Regime an den Außengrenzen, ihre Politik gegenüber Millionen von Menschen, die aus Armut, Krieg und Umweltkrise flüchten müssen, sind zu einem Massaker an Menschen, zu einem Massengrab im Mittelmeer geworden. Ihre eigenständigen oder im Bündnis mit der Nato verfolgten Militäreinsätze im Balkan, Afghanistan, Naher Osten und in den früheren afrikanischen Kolonien haben die EU zu einer Kriegspartei erster Güte werden lassen, dessen aktuelles Gesellenstück in der Ukraine-Frage und der neuen Aggression gegenüber Russland angefertigt wird. Und die ebenfalls über Leichen gehende Erpressungspolitik gegenüber Griechenland hat sich erstmals nicht gescheut, ein eigenes Mitglied mit barbarischen Spardiktaten unter Verletzung selbst der eigenen EU-Grundlagen in die Knie zu zwingen.

Diese konkrete Praxis der EU darf nicht mehr nur abstrakt kritisiert werden, sondern die Linke Europas, die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung müssen dieser Politik praktisch in den Arm fallen. Deshalb ist es gut, wenn die Politik und die Strukturen der EU ins Stocken kommen und am weiteren üblen Geschäft gehindert werden. Selbst wenn das nur bei einem Teil der Akteure beim britischen Referendum zum Thema gemacht wurde, selbst wenn die nationalistischen Krakeeler nicht zum Verstummen gebracht werden konnten, so ist die praktische Wirkung eines „Leave“ beim britischen Referendum nützlich für eine antimilitaristische und antiimperialistische Politik überall in Europa.

In Frankreich legen Massendemonstrationen gegen die Regierung einen weiteren Musterschüler der EU lahm. In Spanien kann am kommenden Wochenende die Linke zum entscheidenden Faktor im Land werden. Wir begrüßen dies nicht nur für die Menschen in diesen Ländern, sondern auch als eine notwendige Ergänzung zur Blockade der EU auf den britischen Inseln.

Ein Sieg der Nationalisten?

Die konkrete Politik der EU hat in den letzten Jahren in vielen Ländern Europas und vielen Mitgliedsländern der EU einen Aufschwung von ultrarechten und nationalistischen, oft brutal rassistischen Parteien erlebt. Sie werden durch die sozialen Folgen der EU-Politik – Massenerwerbslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen; hartes Regime gegenüber Flüchtenden; nationalistische Egoismen auch in den führenden europäischen Regierungsparteien und Kaputtsparen der öffentlichen Vorsorgeeinrichtungen – selbst aufgepäppelt. Allein ihre Existenz und ihr Wachstum sind ein Beleg dafür, wie hohl das Gerede ist, die EU wäre ein Projekt zur Überwindung des Nationalismus.

Leider gelingt es den rechten Parteien, wie auch der UKIP beim britischen Referendum, den Protest gerade von Arbeiterinnen und Arbeitern und von sozial abgehängten Milieus gegen die unsoziale Politik von Cameron und der anderen europäischen Regierungen für sich zu instrumentalisieren. Ein Protest bleibt es trotzdem.

Es gab in Großbritannien auch eine respektable linke Mobilisierung für den „Brexit“. Ein Teil der politischen Linken, die KP, SWP, SP und andere, sowie mehrere Gewerkschaften haben eine beachtlichte Kampagne auf die Beine gestellt. Trotzdem blieben sie leider nur ein frisches Windchen bei all dem nationalistischen Gestank der UKIP-Leute und ihrer Verbündeten bei den Tories. Eine große Verantwortung dafür, dass nicht mehr für die Linke herauskam, trägt auch Jeremy Corbyn und die Labour-Party, die, obwohl sie noch vor gar nicht langer Zeit für einen „Brexit“ waren, sich dann doch mehrheitlich von den EU-Strategen einwickeln ließen.

Dennoch wird ihre Kampagne ein besserer Ausgangspunkt für das Ausnutzen der vertieften Krise der EU für linke Politik sein als das freiwillige Anketten an die EU-Propaganda, für das sich andere Teile der britischen (und auch deutschen) Linken entschieden haben.

Es spricht auch einiges dafür, dass die UKIP nach diesem ersten Sieg in ihrem Hauptanliegen Probleme haben wird, die Erwartungen an eine britische „Unabhängigkeit“ von der EU für weitere Erfolgen zu nutzen. Schon am Tag nach dem Referendum musste sie eilfertig zurückrudern, bei ihrem Versprechen, die EU-Gelder komplett zum Ausbau sozialer Dienstleistungen benutzen zu wollen. Die Hoffnungen der britischen ArbeiterInnenklasse auf eine Verbesserung der sozialen Situation sind mit diesem Referendum geweckt worden. Im Übrigen ist diese Erwartung, es muss sich etwas Grundlegendes ändern, auch bei den, vor allem jungen WählerInnen geweckt worden, die beim Referendum mit Ja gestimmt haben. Wir sind ziemlich sicher, dass die Nationalisten diese Erwartungen nur enttäuschen werden.

Ob die Linke sie aufgreifen und zu einer Stärkung der sozialistischen Kräfte in Großbritannien ausweiten kann, ist natürlich auch nicht sicher. Eine kluge und solidarische Politik der gesamten europäischen Linken kann dabei nur hilfreich sein.

Dabei muss aber auch klar sein: Die EU-Krise stellt in hohem Maße die Systemfrage. Wie soll es in Europa weitergehen, wie können die inneren und äußeren Schranken des Kapitalismus überwunden werden? Ein linke Antwort auf die Krise der EU, muss deshalb auch die Perspektive eines komplett alternativen, sozialistischen Europas mehr ausmalen als bisher, um nachhaltig zu wirken.

Inge Höger, Lucy Redler, Yannik Dyck, Tim Fürup, Thies Gleiss

25. Juni 2016

Europa retten – EU auflösen

Die englische „working class“ hat der globalistischen Oligarchie einen Schlag versetzt

von Wilhelm Langthaler

 

Die englischen Unterklassen haben mit überwältigender Mehrheit für den Austritt aus der neoliberalen EU gestimmt – ein großartiges Resultat ähnlich dem Oxi der Griechen vergangenen Sommer gegen das EU-Austeritätsdiktat. Die massive Medienkampagne der Eliten, der City of London, der besitzenden Klassen beider Seiten des Ärmelkanals für den Verbleib konnten daran nichts ändern.

Unter Führung Reagans und Thatchers war der Neoliberalismus in den 80er Jahren vom anglosächsischen Zentrumskapitalismus ausgegangen. Die kontinentaleuropäischen Eliten nahmen bereitwillig den Ball an und zwangen den gesamten Kontinent in den Schwitzkasten. Das Ziel war es die sozialen und demokratischen Errungenschaften, die in den 70er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatten, wieder zurückzunehmen. Institutionell diente der Binnenmarkt und die um diesen organisierte, supranationale Bürokratie als das Hauptinstrument des permanenten Klassenkampfes von oben – genannt „Reform“.

Doch nun reicht es. Das globalistische Narrativ verfängt nicht mehr. In ganz Europa gärt es. Die Unter- und Mittelschichten wollen sich insbesondere seit der Weltwirtschaftskrise 2008 die ständige Verschlechterung ihrer Lebenssituation nicht mehr gefallen lassen, während die Reichen immer reicher werden und das zynischerweise noch dem Gemeinwohl dienen soll. („Geht es der Wirtschaft gut, geht es allen gut.“)

Die Mehrheit stemmt sich gegen die zügellose Globalisierung. Sie will der heiligen Freiheit der Eliten über Kapital, Waren und Arbeitskraft ohne demokratische Einschränkung zu verfügen (die Realverfassung der EU) endlich einen Riegel vorschieben – sie will Regulierung. Gegen den Sachzwang des Marktes (hinter dem sich die Alleinherrschaft der kapitalistischen Oligarchie verbirgt) will sie zurück zur politischen Mitbestimmung. Dieses Prinzip der Volkssouveränität, das bisher nicht verwirklicht werden konnte weil die Verfügung über die Wirtschaft im Wesentlichen in der Hand einer winzigen Eliten verblieb, hat als Forum den Demos mit seinem Staat, bedarf also der nationalen Souveränität.

Dass gerade im Mutterland des Neoliberalismus die Mehrheit gegen das konkrete Regime des Neoliberalismus, die EU, stimmt, ist ein Fanal.

 

Brexit geführt von der Rechten?

Hier kommt der Einwand, dass es sich um einen Sieg des Rechtspopulismus handeln würde, oder dass die Bewegung zumindest von der Rechten geführt sei. Diese würde den Neoliberalismus, wahrscheinlich sogar in einer reaktionären Form, fortsetzen.

Erstens gab und gibt es auch in Großbritannien eine linke Kampagne gegen die EU, die tiefe Wurzeln hat und bis in die Gewerkschaften hineinreicht. Doch gegen diese wurde ein mediales Blackout verhängt, so wie Sozialproteste und noch mehr politische Äußerungen einer antisystemischen Linken nie zu Wort kommen. Es ist eine oligarchische Strategie den sozialen Protest gegen die Eliten in die Nähe der historischen Rechten zu rücken.

Zweitens sind es auch in Großbritannien vielfach ehemalige und auch gegenwärtige Labour-Wähler, die für den Brexit stimmten, nicht nur UKIP und Tories. Selbst der heutige Parteichef Corbyn gehörte früher den EU-Skeptikern an. Die Linke mit ihrer Verteidigung der EU und damit der Herrschaft der Oligarchie überlässt den sozialen Protest der Massen der Rechten.

Es ist richtig, dass die britischen Herrschenden mehr als alle anderen europäischen Großmächte gegenüber der politischen, supranationalen Zentralisierung skeptisch waren. Ihnen ging es um Freihandel und Neoliberalismus, dessen Champions sie waren und sind, aber durch ihre imperiale Geschichte blieb ihnen die Eingliederung in und die Unterordnung unter die Brüsseler Bürokratie immer suspekt. Das ändert nichts daran, dass die entscheidenden Kräfte der britischen Elite die EU als unumgänglich akzeptieren. Der große Bruder über dem Atlantik brachte es klar und deutlich zum Ausdruck – Obama wollte den Verbleib Großbritanniens in der EU.

Es ist klar, dass der EU-Austritt nicht automatisch einen Schritt nach links bedeutet, vor allem in Großbritannien ist das schwierig. Aber es erschüttert die Eliten in England wie am Kontinent. So bietet es eine Riesenchance, die es zu nutzen gilt.

 

Rassistisch?

Die Gegner des Austritts wollen glauben machen, dass es im Kern gegen die Einwanderung ginge. Tories und UKIP sind natürlich chauvinistisch und auch rassistisch. Ihnen geht es gerade darum, einen sozialen Impuls auf einen äußeren Feind umzulenken. An der Wurzel liegt jedoch allemal die soziale Frage. Es ist Blindheit der regimenahen Linken, den Wunsch nach Beschränkung der Immigration als per se rassistisch motiviert anzusehen. Die Bewegungen des Marktes einschließlich des Arbeitsmarktes in bestimmter Weise zu regulieren (also die Alleinherrschaft der Eliten in Frage zu stellen), ist im Interesse der Lohnabhängigen. Es ist Teil des Kampfes gegen die Globalisierung, wie jeder sozialer und gewerkschaftlicher Kampf zu Verteidigung von Löhnen und Tarifverträgen. Die Menschen sollen nicht den Arbeitsplätzen folgen müssen, sondern Arbeit soll dort geschaffen werden, wo die Menschen leben. Das geht nur mit dem Ende der Globalisierung, des globalen Freihandelsregimes und deren europäischer Form, dem EU-Binnenmarkt. Konkret für die Osteuropäer in Britannien heißt das, die Peripherisierung Polens, des Baltikums, des Balkans usw. und damit die Abwanderung zu stoppen.

Man kann gegen nationalen und kulturellen Chauvinismus und Rassismus nur ankämpfen, wenn man die sozialen Interessen der Unter- und Mittelklassen gegen die Globalisierung verteidigt. Die Forderung nach der Beschränkung der Zuwanderung muss ihrer Rolle als Allheilmittel entkleidet werden, muss in den allgemeinen Kampf gegen die Globalisierung, gegen die oligarchische Herrschaft der Eliten, gegen den fortgesetzten Imperialismus eingegliedert werden. Nur so kann der Ruf nach Solidarität mit den sich bereits hier befindlichen Immigranten konkret werden.

 

Friedensprojekt EU?

Kaum noch jemand getraut sich die „soziale EU“ zu verkaufen. Die letzte Verteidigungslinie ist immer das angebliche Friedensprojekt – die EU als Bollwerk gegen den alten Nationalismus.

Vergessen ist der Balkankrieg, wo die EU federführend eingriff, Jugoslawien als multinationale Integration gegen den Westen bekämpfte und den Nationalismus mit schürte. Oder auch die aggressive Haltung gegen Russland, die in der Ukraine mit den Bürgerkrieg befeuert. Die NATO-Expansion nach Osten, die im Gleichklang mit der EU erfolgt, schürt Krieg und Nationalismus.

Global folgt die EU mit mehr oder weniger Abstand der imperialen Politik der USA, sei es der ökonomische Raubzug im Namen des Freihandels, seien es die direkt militärischen Abenteuer im Nahen Osten oder Afrika.

Doch auch in Europa selbst ist es das Euro-Regime der EU, das den Süden gnadenlos verarmt und Widerstand entlang nationaler Bruchlinien erzeugt. Tatsächlich ist das Festhalten an der Zwangsjacke Euro-Regime ein versteckter Chauvinismus und Nationalismus des reichen Nordens und insbesondere Deutschlands. Genauso wie sich hinter der Globalisierung und dem Clintonianismus US-Nationalismus versteckte (der mit Bush dann offen zu Tage trat).

 

Zentrifugale Beschleunigung

Großbritannien ist ein Zentrumsland und es ist zweifellos noch ein sehr weiter Weg für eine antisystemische Linke Fuß zu fassen. Hier spielt auch der Widerspruch mit Schottland eine Rolle. Denn gegen das neoliberale Londoner Zentrum hat sich ein linker schottischer Nationalismus entwickelt, der seinerseits auf die EU setzt. ÄhnlicheMechanismen kann man in Katalonien und im Baskenland beobachten.

Doch was der Brexit in jedem Fall aussendet, ist ein politisches Signal an die Unter- und Mittelschichten des Kontinents, dass weder der Euro noch die EU irreversibel sind – so wie es in den Verträgen steht, die zu brechen sich Tsipras nicht getraute.

In wenigen Tagen wählt Spanien und es ist zu hoffen, dass Podemos die Eliten noch mehr in Bedrängnis bringen wird. Bisher wollte sich die linke Protestpartei dem Problem des Euro und der EU jedoch nicht stellen. Im Gegenteil: Iglesias schlug sich auf die Seite von Tsipras. Das britische Arbeiter-Votum kann dabei hilfreich sein, einen radikalen Flügel zu entwickeln, der sich auf den Bruch mit der EU-Oligarchie vorbereitet – im Sinne der sozialen und demokratischen Interessen der Mehrheit.

Die neoliberale EU spaltet Europa, sozial, kulturell und national, beschwört (Bürger)krieg und Diktatur herauf, gefährdet die verbliebenen Errungenschaften – was die Ungleichheit betrifft sind wir bereits wieder im 19. Jahrhundert angelangt. Was wir brauchen ist die Solidarität der Völker (nicht nur der europäischen) und das ist wiederum nur möglich auf der Basis der nationalen Selbstbestimmung und Souveränität zu allererst der armen Völker gegen die globalen Zentrumseliten.

Brexit: der erste Schritt?!

Der britische Schlag gegen die EU und wir

Von Albert F. Reiterer

52 : 48. Das ist nicht so schlecht. Die Wahlbeteiligung stieg mit 72,2% deutlich gegenüber den letzten Parlamentswahlen (66,1 %). Offenbar hat das Sperrfeuer der Eliten gewirkt – aber gegen sie. Auch die Unterschichten gingen stärker zur Wahl als sonst. Ein-zwei Prozentpunkte dürften auch die dumpfen Drohungen der Deutschen und des Herrn Juncker gebracht haben. Sie lernen ja nicht. Als Gegenprogramm zum deutschen Herrenmenschen Schulze aufgestellt, imitiert er dessen Stil jetzt, soweit er nur kann. Und der „Spiegel“ hat eine zweisprachige Ausgabe gemacht, in welcher er die Briten zum Bleiben aufforderte. Das wird den EU-Gegnern auch ein klein wenig geholfen haben, ohne es zu überschätzen.

Ich muss zugeben: Nach dem Mord an der Labour-Abgeordneten Cox habe ich die Sache verloren gegeben. Zu deutlich war das zufriedene Grinsen auf den Gesichtern der EU-Befür-worter, bevor sie sich wieder erinnerten, dass sie doch Trauer heucheln müssten und Betrof-fenheit. Und es gab eine ganze Reihe von den Sprechern der Eliten, die jede Vorsicht fahren ließen und in den letzten Tagen triumphierend schon ihren Sieg ankündigten. Man erinnere sich nur an die Chefredakteurin des „Economist“ und ihren Auftritt in ZIB 2 vor wenigen Tagen!

Dass aber die Demoskopie in der letzten Zeit in wichtigen Fragen systematisch falsch liegt, ist auch aufschlussreich. Ein Teil der Menschen quer durch Europa wagt offenbar nicht mehr, zu sagen, was sie wirklich denken. Wen wundert’s? Die Wohlhabenden, die Mächtigen, die gut Verdienenden haben ganz massiv für das EU-Imperium geworben. Da kann man schon ein wenig in Furcht geraten. Man braucht nur auf die Karte der Wahlsprengel in England und Wales sehen: Es ist wirklich eine geographisch regionale Verteilung des Wohlstands einerseits, und der Dürftigkeit andererseits, die da graphisch als Stimmen für und gegen die EU erscheinen.

Wie geht es weiter? Für Großbritannien dürfte sich fürs Erste nicht allzu viel ändern. Die Gräuel-Propaganda gegen den Austritt wird sich als Propaganda heraus stellen. Der Pfund-„Absturz“ von 1,489 US-$ erreichte um 3.30 Uhr 1,32; aber 2 Stunden später lag es bereits wieder auf 1,36, und wieder 2 Stunden später, um 8.30, lag es schon bei 1,39. Es wird heute Abend schon noch deutlich höher sein: Das sind die Spielchen erfolgreicher Spekulanten. Man spricht von Gewinn-Mitnahmen, welche auf den Ängsten weniger Erfolgreicher bauen.

Kurzfristig wird sich wirtschaftlich wenig ändern – auch nicht zum Guten. Denn der Austritt bietet nur die Chance, aber keinerlei Gewissheit. Das ist das Quentchen Wahrheit, welches hinter Varoufakis’ zynischen Witzchen steckt: „Mit der Drachme hatten wir auch keinen Sozialismus.“

Allerdings dürfte die EU ihre Revanche planen. Die könnte z. B. in einer offenen Unterstüt-zung der schottischen Separatisten bestehen. In Schottland gingen 62 : 38 % der Stimmen an die Bleiber. Doch zum Einen ist ein Erfolg eines neuerlichen Unabhängigkeits-Referendums der Schotten alles Andere als sicher. Zum Anderen würde dies mindestens einen ebenso großen Knall darstellen wie der Sieg der Unabhängigkeits-Befürworter gestern. Es würde weitere Spannungen unglaublichen Ausmaßes in die EU tragen. Es wäre ziemlich sicher ein Schuss ins Knie. Denn selbst in Schottland bekamen die EU-Propagandisten weniger Stimmen, als sie es sich erwarteten, in Wales sowieso.

Und dann gibt es die Möglichkeiten, in Kollusion mit den Herrschenden in Großbritannien und ihrer Regierung die Effekte des Austritts möglichst weitgehend zu unterlaufen und das reale Ergebnis zu manipulieren. Was den Herrschaften da einfallen wird, wissen wir noch nicht. Es ist auch nicht direkt unser Problem. Die Mehrheit der Briten muss reagieren.

Für Labour ist der Ausgang ebenso eine Katastrophe wie für die Konservativen. Das britische Parteiensystem wird sich nach dieser Kampagne massiv ändern. Für die Linke war die Kam-pagne insgesamt kein Ruhmesblatt: Sie überließ die Demokratie-Argumente ebenso wie die allgemein politischen Überlegungen weitgehend der Rechten. Ob es ein Lichtblick war , dass die Sprecherin der Leave-Kampagne aus Labour kam, ist auch eine Frage: Sie ist sicher keine Linke.

Und wir hier?

Das Ergebnis kann zum Big Bang für eine neue europäische Linke werden. Gesichert ist dies aber keineswegs. Es gibt, wie schon gesagt, nur die Möglichkeit dafür. Noch überlässt die reformistische Linke den Kampf gegen das Finanzkapital und seine Organisation und damit die politische Vertretung der Unterschichten weitgehend der neuen nationalen Rechten. Allerdings sehen wir in den letzten Tagen, dass sich etwas ändert: Der großartige Sieg des M5S, der Grillini, bei den Kommunalwahlen in Italien, war eben erst ein Paukenschlag gegen Renzi. Die Unterstützung von einer Reihe von prominenten Figuren der LINKEN für den Aufruf gegen den Euro ist in der BRD ein viel versprechender Anfang.

In Österreich allerdings sind wir noch ziemlich allein in diesem Bereich.

Hier muss ein nicht unwichtiger Punkt erwähnt werden. Der ORF ist zur reinen Propaganda-Maschine der EU geworden. Wir müssen uns ernsthaft überlegen, was wir da machen können. Einmal abgesehen von der Dümmlichkeit, dass er hier Wahlkampf für die EU-Bleiber in Großbritannien machte, war die ganze Berichterstattung und die Debatte zur Thematik ein einziger Skandal. Eine kritische Stimme kam überhaupt nicht zu Wort. Das setzte sich heute in der Früh fort: Die Leichenbitter-Miene der Journalist/inn/en kann man den Leuten schon verzeihen. Sie sitzen ihrer eigenen Propaganda auf. Dass aber ein Sprecher in einer Musik-Sendung es wagt, um 6.00 die Briten weiter zu beschimpfen („Gute Nacht England und guten Morgen Österreich!“) geht denn doch etwas weit. Aber was soll’s. Der setzt nur das fort, was seit Jahren geschieht.

Vielleicht sollten wir uns überlegen, eine Kampagne gegen die Zwangs-Gebühren zu starten. Das würde dort treffen, wo es den Herrschaften am meisten weh tut.

Der Erfolg der Unabhängigkeits-Befürworter in Großbritannien ist tatsächlich eine großartige Nachricht. Aber jetzt geht der Kampf erst wirklich los, für die Briten und für uns. In Österreich steht die ganze politische Klasse auf Seiten des Imperiums – inklusive der FPÖ, die nicht müde wird zu beteuern, dass sie nicht anti-EU ist. Das ist vielleicht nicht schlecht, ber leichter wird es dadurch für uns nicht, welche wir einen neuen Anfang, eine Rückkehr zur Demokratie und sodann eine völlig andere Politik für eine andere Gesellschaft wollen.

24. Juni 2016, 11.00 Uhr

»Es ist unrealistisch, dass Euro und EU überleben«

Statt Frieden habe die Europäische Union Krieg geschaffen, zudem den Sozialabbau ausgeweitet.

Gespräch mit Wilhelm Langthaler geführt von Markus Bernhardt

Aus: Junge Welt, Ausgabe vom 20.06.2016, Seite 8 / Inland

Wilhelm Langthaler ist Autor des Buches »Europa zerbricht am Euro. Unter deutscher Vorherrschaft in die Krise«

Am 2. Juli stellen Sie auf dem UZ-Pressefest, organisiert von der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), in Dortmund Ihr neues Buch »Europa zerbricht am Euro« vor. Darin kommen Sie zu dem Schluss, dass Deutschland andere EU-Staaten an die Wand drücke und der Euro das Instrument dafür sei. Wie kommen Sie darauf?

Experten sagen, dass ohne Euro die D- Mark rund ein Drittel teurer wäre – die Wirkung auf die deutschen Exporte wäre verheerend. Entsprechend überbewertet ist der Euro für den Süden. Der Süden kommt mit der deutschen Produktivitätsentwicklung, die noch dazu mit Lohndumping kombiniert ist, nicht mit. Selbst heftigste Lohnsenkungen, Sozialabbau und ständige Austeritätspolitik können ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht wiederherstellen. So wird nicht nur Griechenland in die soziale Katastrophe geführt. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes ging drastisch zurück. Am Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament habe ich eine Schmiererei gesehen, wo der Euro mit dem Hakenkreuz verbunden wird. Die Menschen dort denken sich, dass Deutschland sie statt mit Panzern nun mit seinen Banken unterwerfe.

Sollte die Bundesrepublik also die D-Mark wiedereinführen?

Ich stimme da mit Oskar Lafontaine überein. Das einzige, was die Spaltung Europas verhindern könnte, wäre die einvernehmliche und organisierte Auflösung der gemeinsamen Währung und die Fixierung von Wechselkursen wie im alten Europäischen Währungssystem. Doch für Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wäre das ein Eingeständnis ihres historischen Scheiterns. Darum muss man damit rechnen, dass sie ihren unverantwortlichen Kurs in die Katastrophe fortführen. Da bleibt nichts anderes, als an der Peripherie die Regierungen der Euro-Oligarchie von der Macht zu verdrängen. Man braucht den Mut, den Bruch zu wagen. Es geht nicht allein darum, wieder zu eigenen nationalen Währungen zurückzukehren. Es geht um viel mehr: ein Ende des Neoliberalismus, eine Wirtschaftspolitik für die Mehrheit sowie die Rückgewinnung der Demokratie.

Auch in der DKP war lange umstritten, wie man mit der Europäischen Union umgehen soll. Auf dem vergangenen Parteitag beschlossen die Kommunisten dann mehrheitlich einen Leitantrag, in dem formuliert ist: »Wir kämpfen für die Überwindung der EU und für den Austritt der BRD aus der EU.« Warum sollte das der richtige Weg sein?

Es liegt auf der Hand, dass im Rahmen von Euro und EU keine Wende im Interesse der Mehrheit möglich ist. Das verstehen immer mehr Menschen. Die Linke muss sich von ihrer Traumwelt der sozialen EU trennen. Sonst kommen die rechten Rattenfänger zum Zug. In Frankreich und in meiner Heimat Österreich ist das bereits der Fall. So stimmen viele, die früher links wählten, jetzt für die Anti-Euro-Rechte.

Sie sprechen dem Austritt aus der Europäischen Union das Wort. Das lässt sich leicht verlangen, aber realistisch ist es nicht.

In Großbritannien wird an diesem Donnerstag über den EU-Austritt abgestimmt. In allen Mitgliedsländern geht die Zustimmung zur EU rapide zurück. Es ist absehbar, dass der Widerstand gegen das Euro-Regime in einem der Länder des Südens den Austritt aus der Währung erzwingen wird. Die darauffolgenden politischen Zusammenstöße können die Kräfteverhältnisse sehr schnell umkrempeln. Es ist unrealistisch, dass Euro und EU überleben.

Können Sie der EU nichts Gutes abgewinnen?

Die EU hat Frieden, Demokratie und soziale Konvergenz versprochen. Sie unterstützt aber in der Ukraine Krieg, hat Südeuropa unter Kuratel gestellt und die sozialen Unterschiede extrem gesteigert. Viele Linke meinen, sie sei ein Schutz vor dem alten Nationalismus. In Wirklichkeit ist sie ihr Brutkasten. Das Euro-Regime droht selbst den deutsch-französischen Ausgleich zu zerstören.

EU vor Zerreißprobe?

Diskussion: Alternativen zur neoliberalen Union

  • Peter König, Schweizer Ökonom, Publizist und ehemaliger Mitarbeiter der Weltbank
  • Hannes Hofbauer, Verleger und Historiker, Autor „Osterweiterung“
  • Robert Marschall, Vorsitzender EU-Austrittpartei
  • Wilhelm Langthaler, Autor „Europa zerbricht am Euro“

Moderation:

  • Leo Gabriel, Journalist und Sozialanthropologe, Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums

 

Mi, 29. Juni, 19h
Veranstaltungszentrum Mariahilf
6, Otto Bauergasse 7

 

In ganz Europa gärt es: Das Euro-Regime und mit ihm die EU scheint von einer Krise in die nächste zu taumeln. Delors’ Versprechungen von einem sozialen Europa wurden spätestens mit der Unterwerfung Griechenlands so stark desavouiert, dass immer mehr Menschen an der Möglichkeit seiner Verwirklichung zweifeln. In der Zwischenzeit fordern auch die iberischen Wahlvölker ein Ende des von Brüssel und Berlin unter der Ägide der Euro-Rettung verhängten Verarmungskurses. Die Neuwahlen zum spanischen Parlament könnten die Krise des Euro-Regimes weiter beschleunigen, wenn abermals keine stabile Regierung gebildet werden kann und die Austeritätspolitik fortgeführt wird; eine Krise, die angesichts des Brexit-Referendums auch in Großbritannien schwelt. Über die De-facto-Insolvenz Griechenlands, die selbst der IWF ohne Schuldennachlass für unabwendbar hält, wird geschwiegen, um nicht noch mehr Öls in Feuer zu gießen. Auch in Österreich zeigen die Präsidentschaftswahlen eine massive Unzufriedenheit mit der von der Großen Koalition repräsentierten EU-Austerität. Ist das das Ende von Thatchers Credo: „There is no alternative“?

Die italienische Krise steuert auf eine entscheidende Phase zu.

Die Italienische Krise steuert mit großen Schritten einer entscheidenden Phase zu. Wirtschaftlich hat sich Italien nie von der Krise des Jahres 2008 erholt. Seitdem hat das Land 9% des BIP und 25% der Industrieproduktion verloren, während die Arbeitslosigkeit stabil über 11% liegt. Die kleine Verbesserung (+ 0,8% des BIP im Jahr 2014), die Renzi so stolz präsentiert, ist nur eine psychologische Erholung nach 3 ½ Jahren der Rezession.

Es ist eine Krise die überwiegend aus den Mechanismen des Euros resultiert. Die italienische Wirtschaft hat seit 1999 angefangen zu schrumpfen, das heißt, seit eine feste Parität zwischen den Euro-Währungen festgelegt worden ist. Seither haben alle wichtigen Parameter (BIP, Arbeitslosenquote, Produktivität usw.) sich im Vergleich zu Deutschlands verschlechtert.

Trotz des starken Rückgangs der Produktion ist Italien immer noch das zweite Industrieland der Europäischen Union. Die Industriebetriebe haben versucht den Rückgang des Inlandsverbrauches mit einem Anstieg der Exporte zu kompensieren, aber die einheitliche Währung hat die benötigte Aufholung der Produktivität gegenüber Deutschland verhindert.

Die Schuldenkrise, die insbesondere im Jahr 2011 ausbrach tat den Rest. Die darauf folgende Austerität, die als Ziel die so genannte „interne Abwertung“ hatte, hat Löhne und Konsum weiter komprimiert, während der Euro sich als System des Transfers von Ressourcen aus den Länder des Süden in die Ländern des Zentrum etabliert hat.

All dies wird nun immer breiteren Sektoren der Gesellschaft klar und Italien ist nicht mehr das überzeugte „pro-europäische“ Land der Vergangenheit.

Da die Austeritätspolitik nicht nur ihr antisoziales Gesicht zeigte sondern auch ihren räuberischen Charakter (Unternehmen wurden von ausländischen Multinationalen zu günstigen Preisen erworben, das Land wurde finanziell durch das Spiel des Spreads ausgepresst, usw.) und die Zustimmung für die kompromittierte, mit den europäischen Oligarchien verbündete politische Klasse zusammenbrach (siehe die Ergebnisse der Wahlen von 2013), konnte der herrschende Block nicht einfach zuschauen und suchte eine Antwort, um Zeit zu gewinnen.

So kam Renzi. Nicht der mürrische Monti, sondern ein akrobatischer Propagandist, fähig die neoliberale Politik weiter durchzupeitschen, jedoch auch in der Lage sich als etwas euroskeptisch zu präsentieren. Die Tatsache, dass es für viele Länder so gut wie unmöglich ist den Fiskalpakt zu respektieren, wie auch die jüngsten Anpassungen der Verpflichtungen in Bezug auf Defizite und Schulden beweisen, gibt Renzi etwas Raum, um immer wieder für mehr Haushaltsflexibilität zu plädieren.

Italien war für mehr als zwanzig Jahren das Land mit dem höchsten Primärüberschuss der Union, ein Faktor der jedoch durch die hohen Kosten des Schuldendienstes, aufgrund der akkumulierten Staatsschulden und des hohen Spread im Vergleich zu deutschen Bundesanleihen, nicht mehr besteht. In den letzten zwei Jahren sind jedoch die Zinsen gesunken und der Gesamtbetrag der Schulden hat sich auf 132 % des BIP stabilisiert, wenn dies auch ein höheres Niveau als zuvor ist.

Für Italien ist im Augenblick das wichtigste wirtschaftliche Problem nicht die Schuldenlast, sondern wie das Land von der Rezession herauskommen und wieder angemessene Wachstumsraten erreicht werden können.

Ein weiteres großes Problem sind die Banken. Die Einführung der Regeln der Bankenunion, insbesondere des Bail-in, zwingen das gesamte Bankensystem in die Knie. Von den wichtigsten europäischen Ländern ist Italien das Land, wo während der Krisenjahre der Staat keinen einzigen Euro für die Rettung der Banken ausgegeben hat und das aus zwei Gründen: 1. weil die EU in Anbetracht der Haushaltsprobleme des Landes es nicht erlaubt hätte, 2. weil man glaubte, dass die italienischen Banken – die am wenigsten mit riskanten Derivaten belastet waren – keine besonderen Probleme hatten.

Die Ereignisse der letzten Monate haben jedoch gezeigt, dass diese zweite Annahme tatsächlich nicht stimmte. Es ist zwar richtig, dass die italienischen Banken weniger toxischen Wertpapiere halten als deutsche und französische, aber – als direkte Folge der schweren Wirtschaftskrise – stehen sie wegen ihrem Bestand an „non performing loans“ dennoch sehr schlecht dar.

Die neuen Regeln der Bankenunion lassen keinen staatlichen Eingriff mehr zu. Es war daher auch nicht möglich, wie es noch in Spanien passierte, eine Bad Bank einzurichten um die Bilanzen der Kreditinstitute zu verbessern. Deutschland besteht noch dazu auf einer Obergrenze für Staatsschuldentitel, die von jeder Bank besessen werden können. Eine Regel, die, würde sie angewendet werden, die italienischen Banken endgültig in die Knie zwingen würde.

Renzis Regierung (die gerade von mehreren Skandalen erfasst wird) steckt also in Schwierigkeiten, während die neuen Gesetze zur Regulierung des Arbeitsmarktes (Jobs Act) nur eine drastische Einschränkung der Arbeitnehmerrechte ohne positive Auswirkungen auf die Beschäftigungszahlen bewirkt haben.

In dieser Situation nähert sich das Land einer entscheidenden Volksabstimmung über die Reform der Verfassung im Herbst. Es wird über eine Verfassungsänderung abgestimmt, die die Zentralisierung der Zuständigkeiten zugunsten der Exekutive und eine entsprechenden Entmachtung des Parlaments vorsieht. Der Senat wird nicht abgeschafft, aber er würde nicht mehr direkt von den Bürgern gewählt. Diese Änderungen in Kombination mit dem neuen extremen Mehrheitswahlrecht stellen einen klaren Trend zu einem Regime dar.

Renzi dachte, dass er dieses Referendum leicht gewinnen und sich wieder auf seine „Anti-Kasten“ Rhetorik verlassen könnte, die er schon oft gegen die 5-Sterne-Bewegung ausgespielt hat. Die Umfragen der letzten Wochen bestätigen jedoch, dass das Ergebnis des Referendums noch keineswegs feststeht. Die Abstimmung ist also ein entscheidender Wendepunkt in der italienischen Politik. Wenn Renzi gewinnt, wird er sich für die nächste Legislaturperiode an der Macht konsolidieren können. Wenn er das Referendum jedoch verliert würde sich eine Periode großer Unsicherheit und politischer Turbulenzen eröffnen. Dies würde den Anti-Euro- und Anti-EU-Kräfte, die für die Rückeroberung der nationalen Souveränität als Voraussetzung für die Volkssouveränität und die Wiederherstellung der Demokratie kämpfen, neue Handlungsspielräume eröffnen.

 

Leonardo Mazzei (Italienische Koordination der Linken gegn den Euro)

Übersetzung Tiziana Fresu (Personenkomitee EuroExit)

Großes Zittern bei Spaniens Elite

Am 26. Juni stehen in Spanien Neuwahlen zum Parlament bevor. Nach dem letzten Wahlgang am 20. Dezember hatten weder die spanische Rechte (Volkspartei, PP) noch die zweitplatzierte sozialdemokratische Linke (Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens, PSOE) nach massiven Verlusten die notwendigen Mehrheiten, um eine Regierungsbildung zu schaffen. Dies hing ursächlich mit dem Aufstieg von zwei neuen Gruppierungen in der spanischen Parteienlandschaft zusammen. Die aus den Anti-Austeritäts-Protesten der „Indignados“ (Empörten) hervorgegangene Linkspartei Podemos machte mit 20,7 % der Stimmen den Sozialdemokraten (22,1 %) den Platz der linken Opposition streitig. Auf der Rechten kanalisierte die Partei Ciudadanos (Bürger) viele Stimmen der durch Korruptionsskandale zerrütteten PP.

 

Das Scheitern des sozialdemokratischen Rettungsversuchs

Nach den Wahlen am 20. Dezember war rasch klar, dass die Rechte keine Mehrheit zusammenbekommen würde. Die Eliten hofften kurzfristig auf eine große Koalition aus PP und PSOE. Nach einem polarisierten Wahlkampf, in dem die Sozialdemokraten angesichts des Damoklesschwerts Podemos ihr „linkes Gesicht“ ausspielen mussten, waren die Gräben zur Rechten für eine Koalition jedoch zu tief. Die PSOE wusste außerdem, dass ihr ein Schicksal wie der griechischen PASOK drohe, sollte sie mit dem diskreditierten PP Chef Rajoy zusammengehen. So drehte sich bald alles um eine linke Koalition mit Podemos. Eine solche „Regierung des Wandels“ hätte mit einigen Juniorpartnern aus den Provinzen eine Mehrheit gehabt. Doch Podemos war nicht kostenlos als Königsmacher zu haben. Zur Diskussion stand eine Koalition mit einem Vizekanzler Pablo Iglesias und mehreren Podemos-Ministern. Programmatisch war vor allem die Frage der Selbstbestimmung der Provinzen ein Knackpunkt: Podemos sprach sich für das Recht auf ein Referendum aus (was sie in Katalonien und im Baskenland zur stimmenstärksten Kraft gemacht hatte). Besonders für die Rechte in der PSOE um die einflussreiche andalusische Regionalregierungschefin Susana Diaz war dies jedoch eine rote Linie.

Ende Februar schloss die PSOE dann ein vorläufiges Bündnis mit Ciudadanos, dem sich Podemos anschließen sollte. Man war sich dabei wohl im Klaren, dass dies nicht realistisch war. Es ging vielmehr um das gemeinsame Ziel der alten und neuen Elitenparteien, Podemos vor den Neuwahlen zu schwächen und zu diskreditieren. In einer breiten Medienoffensive warf man Podemos vor, durch die Ablehnung des PSOE-Ciudadanos Pakts für eine „progressive Regierung“ die Kontinuität der PP zu stützen. Interne Differenzen in mehreren Regionalgruppen von Podemos (vor allem um Fragen der Entscheidungsfindung und des Verhältnisses von Basis und gewählten Mandataren) wurden medial zu einer Spaltung zwischen Parteiführer Pablo Iglesias und seiner „Nummer 2“ Iñigo Errejón aufgebläht. Mit einer Basisbefragung zur Aufkündigung der Verhandlungen mit der PSOE und der Erneuerung ihres Organisationssekretärs gelang es Podemos jedoch, die Offensive abzuwehren

 

Unidos Podemos – Bevorstehendes Erdbeben durch linkes Wahlbündnis

Das Manöver kostete Podemos dennoch in den Umfragen einige Prozentpunkte. Gleichzeitig konnte die traditionelle Linke der Izquierda Unida (IU, Linksbündnis um die Spanische Kommunistische Partei) wieder Zuwächse verzeichnen, die bei den Dezemberwahlen an Podemos verloren gegangen waren. Jedoch bedeutet das ungleiche spanische Wahlrecht, dass IU proportional sehr wenige Abgeordnete trotz guter Stimmenzahl bekommt (z.B. brauchte IU im Dezember 2015 pro Abgeordnetenmandat über 400.00 Stimmen, die PSOE dagegen nur knapp über 60.000). Dementsprechend gab es für beide Linksparteien Grund, ein Wahlbündnis zu versuchen. Nach mehreren Wochen Verhandlungen einigte man sich auf eine gemeinsame Plattform. Die ersten Umfragen zeigten, dass dieses Linksbündnis auf über 23 % der Stimmen hoffen kann und damit deutlich vor der PSOE liegt.

 

Herausforderungen für das Establishment und auch die Linke

Die spanischen Eliten aber auch die EU sehen den Wahlen am 26. Juni unruhig entgegen. Es ist zu erwarten, dass sich das Szenario des 20. Dezember wiederholt und keine Kraft auf eine klare Mehrheit zur Regierungsbildung kommen wird. Verschlimmernd kommt dazu, dass Podemos/IU wohl die erste Geige auf der Linken spielen werden. Die Sorgen des Establishments sind dabei zweier Art: zum ersten ist eine neue Linkspartei, die noch nicht domestiziert ist und unter einem starken Druck ihrer Wählerbasis steht, ein großer Unsicherheitsfaktor. Syriza in Griechenland hat zwar gezeigt, dass sich auch eine Linkspartei jenseits des Establishments schnell anpassen kann. Aber dennoch bedeutet es eine Periode der Unsicherheit, in der die Eliten zumindest teilweise die Kontrolle der politischen Entwicklungen verlieren. Dazu kommt die zweite, spezifisch spanische Sorge: in die mögliche Regierungskrise verquickt sich eine ungelöste Staatskrise durch Regionalregierungen in Katalonien und im Baskenland, die ein Unabhängigkeitsreferendum einfordern. Es ist zu hoffen, dass der 26. Juni für das Bündnis Podemos-IU ein starkes Ergebnis bringt und die spanische Linke, sollte sie in Regierungsverantwortung kommen, die Lehren aus Griechenland nicht vergisst: denn ohne Bruch mit dem Euro-Regime wird auch in Spanien keine soziale und demokratische Alternative möglich sein.

 

Gernot Bodner

Personenkomitee Euroexit gegen Sozialabbau