DER EURO – DIE STRUKTUR „KERNEUROPAS“: Der deutsche Imperialismus wird realeuropäisch.

Linz, 15. November 2015, Solidarwerkstatt

Im Wall Street Journal vom 20. Mai 2015 findet man eine auf dem ersten Blick unerwartete Meldung. „Mr. Schäuble said London’s wish for looser EU ties could provide a vehicle for the tighter-knit eurozone economic governance that Berlin thinks is indispensable to the currency union’s long-term survival.“

In ein deutlicheres Deutsch übersetzt: Schäuble will mit Cameron koalieren, denn er möchte durch eine starke Zentralisierung der Eurozone ein für alle Male fixieren, dass die Deutschen in der Kern-EU ohne jede weiteren möglichen Widerstände das Sagen habe. Dafür kommt er gern London entgegen. Die Brüsseler Bürokratie stört ohnehin viel zu häufig die deutsche Politik durch ihre eigenmächtigen Einmischungen in Schäubles Kreise. Die EU außerhalb einer wenn es sein muss auch geschrumpften Euro-Zone soll also auch formell auf eine politische Peripherie reduziert werden. Ihre Kompetenzen wären, entsprechend auch den britischen Wünschen, deutlich einzuengen. Das Zwei-Kreise-Modell wird institutionalisiert. Weitere noch stärker peripherisierte Kreise („Partnerschaften“) sind möglich.

Aber das ist im Grund nichts Neues. Am 1. September 1994 – Finnland, Österreich und Schweden hatten bereits über ihre Mitgliedschaft zur künftigen EU, die EG wechselte nämlich gerade ihren Namen, abgestimmt. Wie erwartet, war das Ergebnis pro-EG, in Österreich sogar mit unerwartet deutlicher Mehrheit. Norwegen würde in einem Vierteljahr abstimmen (am 27. / 28. November 1994), und das würde sicher auch kein Problem geben. Das kam dann zwar anders als erwartet.

Doch nun traten der außenpolitische Sprecher der CDU, Heinrich Lamers, und der Fraktions-Chef der Union, Wolfgang Schäuble, an die Öffentlichkeit. Sie präsentierten einen neuen Entwurf für die Zukunft der EG / EU. Damit erregten sie einigermaßen Aufsehen. Sie vertraten nämlich ein Zwei-Kreise-Modell, eine Kern-EU. Gerade im Abstand von mehr als zwei Jahrzehnten ist es wert, dies wiederum anzusehen.

Das Lamers-Schäuble-Papier („Überlegungen zur europäischen Politik“)

Die zwei Herren beginnen mit einer Krisen-Rhetorik – wie üblich, möchte man sagen. Wir finden da die hohlen Phrasen von der Notwendigkeit des „engeren Zusammenwachsens“, damit nicht alles wieder auseinander fällt. Nicht nur eine Wirtschaftskrise wird beschworen, wegen der „überlasteten Sozialsysteme“ natürlich, sondern gleich eine „Zivilisationskrise“. Dahinter steht eine politische Realität: Es ist die Sorge der deutschen politischen Klasse um einen Kontrollverlust. Eine enorme Erweiterung der EG zeichnet sich ab, nicht nur die vier (! – man erwartet ja auch noch Norwegen) reichen Länder mit dem 1. Jänner 1995, sondern auch der Osten.

Gleichzeitig sollte dieses hybride aber doch schon supranationale Gebilde EG einer Transfor­mation unterzogen werden, hin zu einem transnationalen bürokratischen Imperium. Bürokra­tie, Wirtschafts-Oligarchie und intellektuelle Eliten bauten an ihrem neuen Staat. Und die deutsche politische Klasse fragte sich: Wie können wir unsere Dominanz und Hegemonie in dieser neuen Groß-EG bewahren?

Ich habe nicht die Absicht, das Papier im Einzelnen durch zu besprechen. Der Prozess schien auch in den nächsten Jahren gründlich anders zu laufen als hier entworfen. Und doch sind wir mittlerweile etwa dort angekommen, wo Lamers und Schäuble schon 1994 hinwollten. „Kerneuropa“ sollte die interne Zentrum-Peripherie-Struktur formell herstellen. Sie ist heute in einem Ausmaß gegeben, das alle erkennen können. Und damit ist es doch wert, einen kursorischen Blick auf dieses Papier zu werfen. Denn wie wurde dies durchgesetzt?

Auf S. 6 können wir lesen: „Die Währungsunion wird der Kern der politischen Union“ sein. Das Problem für die Deutschen damals und für einige heute noch immer, darunter möglicher Weise Schäuble, den mächtigsten Mann dieses Vereins, war und ist: Nach seinen Überlegun­gen damals sollte die Einheitswährung eigentlich nur den seinerzeitigen DM-Block umfassen, vielleicht erweitert um das eine oder andere Mitglied, Finnland etwa, oder Schweden. Aber insbesondere die Südländer drängten aus symbolischen, man kann sagen: aus identitären Gründen in die neue Währung: Italien, Spanien, Portugal; und Griechenland.

Die deutschen Politiker wollten dies damals nicht. Lamers, einer der beiden Verfasser, erzählt in einem Interview mit der „Zeit“ vom 18. August 2011: Er persönlich sei durchaus dagegen gewesen. Aber in seiner Fraktion sei die Stimmung gewesen: „Ach die Griechen. Dieses Problem lösen wir schon!“ Es war einerseits eine Überschätzung der eigenen Macht gegen­über strukturellen Entwicklungen. Zum Anderen aber dämmerte es einigen vielleicht auch schon: Das ist ein Gottesgeschenk. Da bieten sich die Lämmer selbst zum Fraß an.

Heute können wir die Strukturen etwas besser durchschauen. Es gab und gibt da nicht einfach unterschiedliche technische Auffassungen. Es gibt unterschiedliche politische Linien.

Schäuble nimmt mit seiner Haltung die national-deutsche Linie von Kohl wieder auf, aller­dings auf einer höheren Ebene. Denn mittlerweile hat sich gezeigt: Die Eurozone entspricht dem deutschen Export-Kapital in einer Weise, wie es sich das vielleicht gar nicht hat träumen lassen. Denn es gab nun Widerstände gegen die deutsche Politik, zum ersten Mal ernstlich in ihrer Existenz. Ich denke da an die SYRIZA-Regierung vom Jänner bis Juni dieses Jahres. Da aber standen alle Regierungen auf Seiten der BRD. Die BRD hat also nahezu kostenlose Hilfstruppen, wie sie es sich nur wünschen kann.

Ein historischer Vergleich: „Mitteleuropa“

Erlauben wir uns einen historischen, einen ideengeschichtlichen Blick. Das ist mehr als ein Luxus. Das klärt uns über die Denkweise der damaligen Eliten auf und trägt eine Menge zum Verständnis bei.

Die Bildung der preußisch-deutschen Nation und als deren Krönung die Ausrufung des Kai­serreichs in Versailles am 18. Jänner 1871 brachte eine Machtverschiebung in Europa. Ab nun fand im Europäischen Konzert, der damaligen Organisation des Imperialismus, ein qualitativ neuartiger Wettbewerb statt. Hatten die Großmächte bis dahin versucht, diesen Wettbewerb in halbwegs friedlichen Rahmen zu halten, so spitzte er sich jetzt auf antagonistische Weise zu.

Polarisierung scheint im Zeitalter der Globalisierung eine Bedingung zu sein, dass der nach Außen und gegen die schlecht entwickelte Welt gerichtete Imperialismus seine Widersprü­che im Inneren auf antagonistische Weise in einer „Endlösung“ austragen will, dass er zum (Welt-) Krieg drängt. Die Weltkriege waren schließlich dadurch gekennzeichnet, dass sich das politische Weltsystem in zwei Lager teilte. Was bedeutet das für heute?

Der deutsche Imperialismus hat vor einem Jahrhundert bewusst auf den Weltkrieg hingearbei­tet. Er dachte, die Herrschaft über Kontinental-Europa in einem Gewaltstreich an sich reißen zu können. Sarajewo lieferte den lang ersehnten Anlass. Die kaiserlichen Deutschen wollten den Habsburgerstaat an Bord haben, so schwächlich und wackelig er auch schon sein mochte. Die habsburgischen Eliten aber begriffen in ihrer Unfähigkeit nicht, dass sie eben begannen, ihr eigenes Grab zu schaufeln, mochte der Krieg so oder so ausgehen. Anfangs des Kriegs, als es für die Deutschen noch gut lief, konnte man auch das eigene Programm endlich offen darlegen.

Der Nationalliberale Friedrich Naumann (1915) entwarf einen deutsch dominierten Wirt­schaftsraum von Trondheim und Stockholm bis Istanbul. „Mitteleuropa“ war somit der Plan des aggressiven deutschen Imperialismus. Aus heutiger Sicht gelesen, ist es ein früher Ent­wurf der EU. So ist denn auch das reale Kerneuropa von heute eine aktualisierte Neuauflage der Naumann‘schen „Mitteleuropa“-Pläne vor einem Jahrhundert. Nach dem – natürlich sieg­reich beendeten – Krieg würden praktisch alle europäische Staaten, auch die Kriegsgegner, eingeladen, sich an dieser Union unter deutscher Führung zu beteiligen. Es entspricht etwa dem, was Alexandre Kojève genau drei Jahrzehnte später entwarf, allerdings aus französischer Sicht und unter französi­scher Führung gedacht (Reiterer 2014). Beide Vorschläge sind Realentwürfe für ein supra­nationales Imperium. Kojève ist ein bisschen altmodisch, wenn er es in eine lateinische Super­nation kleidet. Naumann ist da nüchterner. Er setzt auf die deutsche Wirtschaftskraft, vergisst aber keineswegs auf die politische und militärische Stärke des siegreich erwarteten deutschen Reichs.

Schäuble hat diesen Raum inzwischen. Er muss ihn nur noch richtig organisieren. Denn es läuft nicht ganz so rund, wie er es sich wünscht. Man muss ihn straffen, und den Regierungen der anderen Mitgliedsstaaten sagen, wo es lang geht. Die Instrumente dazu sind weitgehend geschaffen: der Fiskalpakt, das europäische Semester, etc., übrigens im Vereinfachten Ver­fahren nach Art. 48 AEUV, vorbei an den zu mühsamen Vertrags-Veränderungs-Prozeduren. Aber noch fehlt das volle Durchgriffsrecht. Noch müssen (z. B.) die Österreicher nicht bis 67 Jahren arbeiten, noch erhalten sie Pensionen aus einem öffentlich geführten Pensionssystem im Umlageverfahren, die häufig über der Armutsgrenze liegen. Noch spuren also nicht alle.

Ob sich Schäuble mit seiner harten Linie durchsetzt, die Chaos im Süden im Gefolge eines Euro-Austritts nicht nur in Kauf nimmt, sondern möglicher Weise sogar wünscht, ist eine an­dere Frage. Diese Politik ist auch in der BRD umstritten. Ich meine nicht die SPD. Die zählt politisch nicht mehr. In gewissem Sinn steht sie außerdem durchaus auf Schäubles Position. Ihr Vorsitzender Gabriel schlägt ja seit neuesten, im längerfristigen Sinn der harten Konservativen, ein Eurozonen-Budget vor.

Wohl aber dürfte die Parteiführung der CDU mit Merkel an der Spitze diese Linie nicht ohne weiteres billigen. Die Kanzlerin steht halb und halb im Brüsseler Lager. Im täglichen Hetz-Artikel dieses Sommers von BILD am 5. Juni 2015 gegen Griechenland warnt der Boulevard düster davor, dass der Regierung ihr „wichtigster Minister“ abhanden kommen könnte. Denn Merkel habe, ohne Schäuble auch nur zu informieren, Juncker, Draghi und Lagarde zu Bera­tungen eingeladen. Und um dieses Schreckbild zu steigern und zu unterstützen, bietet das Blatt eine Reihe von „Top-Ökonomen“ auf, vom sattsam bekannten H.-W. Sinn bis zu einem gewissen Michael Heise („Allianz-Chefökonom“). BILD mobilisiert den rechten Flügel der Nationaldeutschen: „‚Wolfgang Schäuble geht keine faulen Kompromisse ein, er wird seine Glaubwürdigkeit nicht gefährden,‘ sagt CSU-Mittelstandschef Hans Michelbach. ‚Ohne Schäuble stimmt die Fraktion nicht zu.‘ … Wenn Schäubles Linie aufgeweicht wird, gibt es einen Aufruhr in der Fraktion.“ Mit tatkräftiger Hilfe von Tsipras und dessen Kumpanen hat sich Schäuble in der Zwischenzeit durchgesetzt, durchaus im Sinne von Merkel.

Da fragt man uns rhetorisch, und ganz mit der Absicht, uns zu schrecken: Wollt Ihr denn, dass Schäuble Griechenland aus der EU wirft? Na und?

Der Euro als Wirtschafts-Automatismus nach Innen – die GASP als Instrument nach Außen

Welche Funktion also haben Währungsunion und Euro in den Entwürfen, und vor allem: in der Verwirklichung?

Wenn Juristen den „Staat“ definieren, legen sie ihren Hauptakzent auf das Gewalt-Mono­pol. Das ist gewiss nicht unwichtig. Aber der Staat heute wird damit immer weniger erfasst. Der Staat ist das politische Steuerungs- und soziale Lenkungs-Instrument der Eliten für ihre Ge­sellschaften. Und diese Steuerung geht weit über die Kennzeichnung durch das Gewalt-Monopol hinaus. Der Vulgär-Marxismus – aber nicht nur der, auch Lenin – hat sich darüber hinaus auf einen seltsamen Staats-Mythos eingelassen. So ähnlich, wie er nur eine Geld-Qualität sieht, erkennt er auch nur einen Staats-Charakter.

Aber autoritative Herrschaft besteht, mit Gramsci zu sprechen aus Hegemonie + Diktatur. Und selbst das ist noch einiger Maßen grob ausgedrückt. Überdies ist sie auf mehreren Ebenen und in einer Anzahl von Feldern organisiert. Damit wird jeder Streit um den „Staats-Charakter“ der EU zu einem scholastischen Streit um Worte.

Noch viel wichtiger: Der moderne Staat hat erfolgreich die Unterschichten einbezogen und integriert. Dazu bedurfte er einer ganz spezifischen Mentalität. Er bedurfte der nationalen Identität. Sie soll auf der einen Seite garantieren, dass die Eliten auch die Unterschichten irgendwie als Menschen betrachten, sie als irgendwie ihresgleichen sehen; dass auch der anderen Seite die Unter- und Mittelschichten die Eliten als Fleisch von ihrem Fleisch sehen, allerdings als kompetenter und daher fähig und legitimiert zur Herrschaft. Nationale Identität erwies sich in der Moderne als unverzichtbar.

Identität ist ein Begriff, der in der EG bis in die 1990er nur in einem Zusammenhang vorkommt: Europäische Verteidigungs-Identität. Und damit ist nicht wirklich eine Identität gemeint. Es ist vielmehr ein Kompromiss-Begriff, welche die EG den USA anbot. Denn die sahen durch europäische Ideen einer „Sonder-NATO“ ihre unbestrittene Dominanz in diesem Angriffs-Bund gefährdet. Andererseits drängten sie aber die Europäer zu höheren Militär-Ausgaben. So wurde die Europäische Verteidigungs-Identität zum Code-Wort, welches die europäische NATO gesondert meinte, ohne sie so zu nennen.

Diese sozio-politische Identität ist also eine Scharnier-Komponente des modernen Staats. Erst der postmoderne, der supra-nationale bürokratische Staat glaubt darauf verzichten zu können.

Auch die EG hat eine Zeitlang versucht, sie auf sich selbst zu übertragen, sich selbst also als eine Art Super-Nationalstaat darzustellen. Aber es hat nur bei der oberen Mittelschicht funk­tioniert. Für sie, und nur für sie, ist die EU ihr Staat geworden. Die Unterschichten und die unteren Mittelschichten können in diesen Staat nicht integriert werden. Sie müssen daher in ihn hineingezwungen werden.

Und damit kommen wir zurück zum Euro. Denn das ist seine Haupt-Funktion. Der Euro ist ein wirtschaftspolitischer Mechanismus und ein Automatismus, welcher die Politik überflüs­sig machen soll – jedenfalls in wichtigen Bereichen. Angelegt aber ist dieser Automatismus als irreversible, unverrückbare Einrichtung.

Flexible Kurse waren, weiß der Himmel, kein Allheilmittel einer sonst auch schon auf die Eliten ausgerichteten Politik. Flexible Kurse setzten aber mehr voraus als nur ein Ab- oder Aufwerten von Zeit zu Zeit. Sie waren an eine aktive und aufmerksame Wirtschaftspolitik gebunden, welche an einer Reihe von Schrauben drehte. Gerade das war das Prinzip des poli­tischen Keynesianismus, und gerade das war den monetaristischen Ideologen ein besonderer Dorn im Auge. Die waren nicht parteigebunden. Am besten demonstrierte das der persönliche Einsatz der beiden Politiker, welche das EWS 1978 erfanden: Giscard d’Estaing war der Chef seiner liberalkonservativen Partei, Helmut Schmidt verkörperte die deutsche Sozialdemokra­tie. Das hinderte sie nicht an einer intimen Zusammenarbeit. Denn es war ihnen gemeinsam:

Unumkehrbar ist das entscheidende Vokabel in allen Dokumenten in der Vorbereitung auf die Währungsunion. Denn es hat eine Reihe von Aspekten, politischen wie wirtschaftstheore­tischen.

Man muss die Rhetorik der Eliten und ihrer Sprecher rekonstruieren.

In der Planungs- und Vorbereitungs-Phase zur WU gab es zwei Denkschulen. Die eine nannte man die Krönungs-Theorie. Die WU sollte den Abschluss eines ökonomischen und politi­schen Konvergenzprozesses bilden. Wenn ein vergleichbares Wohlstands-Niveau und eine vergleichbare Produktivität erreicht sei, wäre der „natürliche“ Abschluss eine gemeinsame Währung. Dies ist ein Gedanke aus der ökonomischen Orthodoxie und war daher besonders unter deutschen Ökonomen verbreitet. Im Grunde kommt dies von der These der OCA (Optimales Währungsgebiet, siehe gleich anschließend) her.

Die zweite Denkschule hatte keinen so eindeutigen Namen, wurde aber u. a. als Lokomotiv-Theorie bezeichnet. Sie überwog bei den Politikern und setzte sich schließlich durch. Der Euro wurde als Instrument gesehen. Auch er sollte Konvergenz herstellen, aber nicht unbe­dingt Konvergenz im Wohlstands-Niveau und der Entwicklung. Es sollte zu einer Konver­genz der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf Basis neoliberaler Rezepte kommen. Vorbild für dieses altmonetaristische Modell war die BRD. Für die Währungsunion hätte das in der Realität bedeutet: Man hätte sie nach den Erfahrungen mit dem EWS ad calendas Graecas verschoben.

Man kann dies politischer ausdrücken. Zwischen diesen beiden Denkschulen liegt ein wirk­licher Paradigmen-Wechsel. Die „Krönungs-Theorie“ verkörpert noch die alte E(W)G mit ihren im Grund nationalstaatlichen Strukturen. Allerdings sollte sie überdacht werden von Institutionen, welche auch bereits supra-nationalen Charakter trugen. Schließlich brauchte man eine Zentralbank für die Währung, und man hatte den EuGH, der nie ein herkömmlicher sich an die geltenden Regeln haltenden Gerichtshof war. Er hat stets alles bis über die Grenzen gedehnt, um „die Integration voranzutreiben“, Supra-Nationalität herzustellen.

Die „Lokomotiv-Theorie“ aber forderte den und führte zum supranationalen Staat, zum Imperium. Überschätzt hat sie allerdings die Macht der Bürokratie. Und unterschätzt hat sie nicht nur die Trägheit der nationalen Reaktionen, sondern insbesondere auch den heimlichen und hintergründigen Widerstand der Bevölkerung in den meisten Staaten gegen die Politik der Gesellschaftsspaltung und ihr Hauptinstrument, den Euro.

Der Euro und die Währungsunion bilden die Kernstruktur des supranationalen Imperiums EU. Die Währungsunion soll als Automatismus wirken. Sie soll die Politik des Lohndrucks und der Umverteilung nach oben durchsetzen. Allerdings: Wirklich automatisch funktioniert dies keineswegs. Die Währungsunion soll daher die nationalen Regierungen dazu zwingen, unter Androhung schädlicher Folgen für den Außenhandel, der Benotung durch Rating-Agenturen und damit angeblich steigender Zinsen sowie noch viel direkter: durch Strafzahlungen an die EU. Die Austerität muss unter diesen Bedingungen als alternativlose Politik erscheinen. Basis-Prinzip ist der Grundsatz des Monetarismus: Wirtschaftspolitik muss auf Geldpolitik reduziert werden. Die wiederum soll als Geldmengensteuerung über Zinssätze und Offen-Markt-Politik funktionieren. Wie wir inzwischen wissen, bedeutet dies vor allem eine Förderung der Spekulation.

Der Euro als Mechanismus, als Vehikel zur Erzwingung der ökonomischen Tugend nach den Auffassungen der monetaristischen Orthodoxie, wurde so zum Instrument der Peripherisie­rung. Das gilt im klassischen Sinn einer Spaltung zwischen den zentralen Regionen und den Rand-Ländern mit schwächerer Produktivitätsentwicklung. Es gilt aber auch im Inneren der Gesellschaften, der zentralen wie der peripheren. Der Euro wurde so zum eigentlichen Werkzeug der Gesellschafts-Spaltung und der wachsenden Ungleichheit.

Man muss den Automatismus relativieren. Heute kann keine Wirtschaft ohne Politik funktio­nieren. Um den € abzuschirmen und durchzusetzen, wurden eine ganze Reihe von Instituti­onen und von politischen Mechanismen geschaffen. Die wesentlichste Institution ist die EZB. Sie ist die eigentliche Wirtschafts-Regierung, nach dem Vorbild der deutschen Bundesbank und, vergessen wir es nicht, der OeNB. Unabhängig von jedem Volkswillen und jeder Über­legung von allgemeiner Wohlfahrt, entzieht sie sich konsequent jeder demokratischen Einflussnahme. So ist die EZB noch weit stärker als die Kommission das Musterbild einer Bürokratie, nicht eines Instruments, sondern einer geschlossenen herrschenden Kaste. Die nächste Körperschaft, die man damit vergleichen könnte, ist das Politbüro der chinesischen KP.

Und hier liegt das Problem der Politikvorschläge von Oskar Lafontaine oder Heiner Flass­beck. Die Auflösung der Eurozone sowie die Rückkehr zu einem modifizierten EWS fußt bei ihnen ausschließlich auf Überlegungen der OCA-These. Die Theorie von der „Optimalen Währungszone“ (Mundell 1961, 1973, 1997) geht von der Notwendigkeit aus, Produktivitäts-Unterschiede und in ihrer Folge Unterschiede in den Inflationsraten durch Ab- und Aufwer­tungen zu bewältigen. Das ist keineswegs falsch. Aber es ist angesichts des dichten Institu­tionen-Geflechts um den Euro herum völlig unzureichend. Es erfasst nicht mehr den Kern des Problems. Daher ist denn ein erneuertes EWS, ein Kernvorschlag von Lafontaine, höchstens ein erster Schritt. Damit allein kann diese Politik der Austerität und der Entdemokratisierung nicht mehr umkehrbar gemacht werden.

Spätestens seit diesem Sommer wissen wir: Es geht auch der Brüsseler Bürokratie und hinter ihr der deutschen Elite samt ihren Marionetten von Dijsselbloem bis Faymann ja überhaupt nicht mehr um die Währungsunion als technisches Problem. Schäuble musste abgehalten werden vom Rauswurf Griechenlands aus der Zone. Es geht ihm um die integrale Durch­setzung der deutschen Dominanz als Politik der globalen Eliten. Der Verlust eines Mitglieds in der WU wäre da verschmerzbar. Allerdings berücksichtigt er den politischen Effekt dabei nicht. Merkel und die anderen, insbesondere die Sozialdemokraten haben begriffen: Der poli­tische Effekt des Austritts irgend eines der Mitglieder aus dem Club wäre katastrophal. Der Mythos der Irreversibilität wäre dahin. Politik könnte wieder als rationale Gestaltung, als Wahl zwischen Alternativen begriffen werden. Wenn dies auch noch Erfolg hätte, wenn sich Griechenland nach einem Austritt wieder erfangen würde, wäre das erst recht nicht auszuden­ken. Deswegen hat Merkel ihn auch eingebremst, und knirschen einige unter den anderen Regierungen mit den Zähnen über die Schäuble’sche Politik. Sie möchten nicht, dass ihnen die Scherben der EU um die Köpfe fliegen.

Aber das Zwei-Kreise-Modell – es können auch durchaus mehr Kreise sein – des Wolfgang Schäuble ist eine so ingeniöse Idee, dass er ungern davon lassen möchte. Der national-deut­sche Imperialismus soll in einen zentralen westeuropäischen Ultra-, besser: Super-Imperialis­mus transformiert werden. Der wird dann weiter nach deutschen Takt marschieren.

Dazu bedarf es aber nicht nur der Wirtschaftspolitik. Die GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) hätte die Aufgabe, diese Politik nach Innen durch eine klassische Politik des Imperialismus mit politischen und militärischen Mitteln abzusichern. Sie hat allerdings bisher schlecht funktioniert, mit Ausnahmen: Der erste deutsche Aggressionskrieg nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem grünen Führer Franz-Josef Fischer, hat noch das erwünschte Ergebnis gebracht und Serbien umgedreht. In Kosovo hat das Diktat geklappt, in BiH schon nicht mehr. Funktionierte aber diese gemeinsame Politik nach Außen, so war es vor allem die Politik der NATO. Anderswo war hingegen ein Scherbenhaufen die Folge.

Die Ukraine demonstriert dies am besten. In einem ersten Anlauf schien es gut zu gehen. Das letztklassige Personal am Ort aber verdarb die Geschichte. Nun aber wollte die EU zeigen, wer das Sagen hat, Unfähigkeit und Korruption von Timoschenko und Juschtschenko hin oder her. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Gegenseite auch gelernt hatte und reagieren würde. Nach dem Putsch in Kiew vom Feber 2014 vereinnahmte Russland einfach die Krim, unerwartet! In ihrem Grimm ließen die Berliner und Brüsseler Damen und Herren darauf ihren Marionetten freie Hand. Die aber brachen einen Bürgerkrieg im Osten vom Zaun. Heute gehört die Ukraine zu den vielen „failed states“ nach Interventionen des Westens. Die Kosten trägt die Bevölkerung, und nicht nur im Osten.

Bei sich zu Hause wollen die deutschen Konservativen den Parlamentarismus erhalten, zu­mindest vorerst. Zu gut hat er über Jahrzehnte gearbeitet, zu gut hat er die Stabilität und die Integration gesichert. Ist doch heute Schäuble auch der bei der deutschen Bevölkerung anerkannteste Politiker der BRD, vor Merkel. Ob aber anderswo diese parlamentarische Demokratie, be­schränkt wie sie in ihren Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bevölkerung ist, vor die Hunde geht, in Griechenland, in Portugal, in Spanien, in Italien, das kümmert doch Schäuble und Merkel nicht.

Schluss

Den Übergang in diese Politik bildete die Etablierung der Währungsunion. Wir sahen die Folgen nicht nur in Griechenland. Es war ein Putsch, was da Tsipras und seine Kumpanei unter Druck von Schäuble veranstalteten. Denn nach griechischem Recht war das Referendum gültig und bindend. Nun können sie argumentieren, dass die Bevölkerung, die wieder zur Wahl ging, dem zugestimmt habe. Die Angst vor dem Ungewissen hat gewirkt. Ein großer Teil aber blieb enttäuscht weg. SYRIZA hat ein Viertel der Stimmen vom Jänner verloren. Das betrügerische Prämien-Wahlrecht gab ihr allerdings auch diesmal ein Mehrheit zusam­men mit ihrem Anhängsel ANEL, denen es nur um Posten geht.

Anderswo agierte man noch klarer und offenkundiger. Die Politik des Cavaco Silva in Por­tugal war erst recht ein Putsch. Hier wurde sogar das bisher heilige Grundprinzip gebrochen, dass die parlamentarische Mehrheit nach Neuwahlen ein Anrecht auf Regierungsbildung hat. Der Präsident hat dies expressis verbis damit begründet, die bisherige Politik müsse fortge­setzt werden – nachdem dieser in den Wahlen eine deutliche Abfuhr erteilt worden war. Wo und wann kommt der nächste Putsch im Namen des Euro? Wann werden die Task forces gegen eine missliebige Regierung im Inneren eingesetzt, welche die Austerität nicht mehr fortsetzen möchte?

Die Euro-Zone aufzulösen reicht nicht mehr. Das supra-nationale Imperium selbst, die EU, muss zerschlagen werden, wenn der Wohlstand und die Demokratie in Europa gerettet werden sollen.

Literatur

Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.

Lenin, W. I. (1975 [1916]), Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Werke 22, 189 – 309.

Mundell, Robert A. (1961), A Theory of Optimum Currency Area. In: AER 51, 657 – 665.

Mundell, Robert A. (1973), Uncommon Arguments for Common Currencies. In: Johnson, Harry G. / Swoboda, Alexander K., eds. The Economics of Common Currencies: Proceedings. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Mundell, Robert A. (1997), Optimum Currency Areas. Extended version of a luncheon speech presen­ted at the Conference on Optimum Currency Areas, Tel-Aviv University, December 5, 1997. http://www.columbia.edu/~ram15/eOCATAviv4.html (download: 27. Oktober 2013)

Naumann, Friedrich (1915), Mitteleuropa. Berlin: Georg Reimer.

Reiterer, Albert F. (2014), Der Euro und die EU. Zur politischen Ökonomie des Imperiums. Berg­kamen: pad.

Reiterer, Albert F. (2015), Denkwende. Zur „Schlacht um den Euro“. Bergkamen: pad.

Schumpeter, Joseph A. (1976 [1942]), Capitalism, Socialism and Democracy. With a new introduction by Tom Bottomore. New York: Harper & Row.

Ein wichtiger erster Schritt in Österreich

Am Samstag fand die Konferenz „Sozialstaat gegen Euro-Diktat“ im Bildungsverein der KPÖ-Steiermark in Graz statt. Die Konferenz war ein erstes österreichweites Zusammentreffen der Initiatoren des Personenkomitees EuroExit gegen Sozialabbau, das im Zuge der Griechenland-Krise im ersten Halbjahr 2015 entstanden ist.

 

Bezugsrahmen Nationalstaat für eine Alternative zum Euro-Regime

Das wohl wichtigste Ergebnis der Konferenz ist, dass es eine klare politische Übereinstimmung zwischen den beteiligten Organisationen und Personen gibt, dass eine gemeinsame Arbeit gegen das Euro-Regime und die EU von strategischer Bedeutung ist. Vor dem Hintergrund, dass in Österreich trotz der Griechenland-Ereignisse die Einsicht in die strukturelle Krise der EU bisher kaum Platz gegriffen hat und man quer über das gesamte politische Spektrum vergeblich nach alternativen Überlegungen sucht, füllt das Personenkomitee EuroExit ein politisches Vakuum. Alle Teilnehmer der Konferenz trafen sich in der Einschätzung, dass die durch die Einheitswährung zugespitzten Widersprüche der EU in der kommenden Periode immer wieder das politische Establishment erschüttern werden, so wie es in Griechenland geschehen ist. Und auch in der allgemeinen Ausrichtung der Alternative war man sich einig: der Bezugspunkt bleibt der Nationalstaat, die gesellschaftliche Ausrichtung soll in Richtung eines demokratischen Sozialstaats gehen.

Albert Reiterer setzte sich in seinem Einleitungsreferat mit dem Konzept der „optimalen Währungszone“ auseinander und wies nach, dass mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 die europäischen Eliten die Widersprüche des Euro mit einem zunehmend autokratisch agierenden bürokratischen Suprastaat begegnen. Die Verweigerung des Regierungsbildungsmandats für die linke Parlamentsmehrheit in Portugal durch Staatspräsidenten Cavalco Silva war nur das letzte Beispiel dafür. Albert Reiterer wies jedoch auch auf die Herausforderungen in der Ausarbeitung eines alternativen nationalstaatlichen Projektes hin angesichts der vernetzen und globalisierten Wirtschaftsbeziehungen.

 

Solide politische Basis – kleine konkrete Schritte

In einem Podiumsgespräch setzten sich Boris Lechthaler (Solidarwerkstatt), Werner Murgg (KPÖ Steiermark) und David Stockinger (SozialdemokratInnen gegen ein Berufsheer) mit Ansätzen für einen oppositionellen Pol in Österreich auseinander. Boris Lechthaler wies aus der Erfahrung des Kampfes gegen den Lissabon-Vertrag auf die Schwierigkeit hin, die durchaus breite EU-Skepsis in der österreichischen Bevölkerung zu einer stabilen Bewegung auszubauen. Zwar gab es Momente starker Mobilisierung, die jedoch danach rasch wieder abbrachen und kurzfristig nur wenig Substrat für den Aufbau einer Opposition hinterlassen. Werner Murgg unterstrich die Notwendigkeit ein Bündnis gegen EU und Euro strategisch als eine breite Volksfront anzulegen. Die Erfahrung der steirischen KPÖ zeigt, dass viele Schichten der Bevölkerung betroffen sind: von den Arbeitern und Rentnern, über Landwirte bis hin zu kleinen und mittleren Unternehmen. Trotz der systematischen Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die Apparate der Eliten, vor allem der Jugend (Reisefreiheit, kein Geldwechsel), machen die negativen sozialen Erfahrungen immer mehr Menschen offen für Kritik am EU-Regime. Um den Schritt zu oppositioneller Organisation und Protest zu schaffen, bedarf es aber noch vieler Anstrengungen, um den apokalyptischen Assoziationen, die das Establishment über einen Bruch mit Euro und EU verbreitet, das Bild einer konkrete und anstrebenswerten Alternative entgegenzusetzen. David Stockinger gab dafür ein Beispiel aus dem Kampf für den Erhalt der immerwährenden Neutralität. Die herrschenden Parteien unterwandern systematisch die Neutralität, wagen jedoch keine Verfassungsänderung, im Bewusstsein, dass sie damit auf die mehrheitliche Opposition der Bevölkerung stoßen würden. Solche Widersprüche gilt es zu nutzen, um den fragilen Konsens der Systemparteien mit konkreten Initiativen zu schwächen.

 

Eingebunden in eine gesamteuropäische Bewegung

Die Teilnahme internationaler Vertreter aus Griechenland und Deutschland zeigte eines ganz deutlich: die österreichische Initiative ist Teil einer Dynamik, die in unterschiedlichem Ausmaß in allen europäischen Ländern zu beobachten ist. Die Länder der südeuropäischen Peripherie kennen bereits heute eine massenhafte Opposition gegen das Euro-Regime. Die Vertreter der aus Syriza hervorgegangenen griechischen Volkseinheit, die mit dem Mitglied des vorläufigen Sekretariats der Organisation Nikos Galanis erstmals in Österreich waren, sind wohl das wichtigste politische Resultat aus dem vollständigen Scheiterns des Versuchs der Reform der EU zu einer sozialen Union. In Griechenland wurde die Ideologie des sozialen Europa zu Grabe getragen. Die Volkseinheit hat diese Erfahrung in ein konkretes Programm, einen „Plan B“ übersetzt. Zwar ist ihnen der Einzug ins Parlament nicht gelungen. Doch die Gläubiger selbst, allen voran Deutschland, wissen, dass das neue Memorandum zu nichts weiter dienen wird, als Syriza als starke linksoppositionelle Partei zu zerstören. Das Scheitern des Memorandums wird die Resignation und Passivität rasch untergraben. Die Chancen der Volkseinheit als gut gerüstete Opposition eine wichtige Rolle zu spielen besteht nach wie vor.

Aber auch in Deutschland, dem Zentrum des supranationalen Euro-Regimes, hat Griechenland Spuren hinterlassen – deutlich mehr als in Österreich. In der Partei die Linke ist eine heftige Debatte über den Euro ausgebrochen. Inge Höger, Mitglied des Bundestages, berichtete über die Versuche, das Tabu der linken Euro-Kritik zu brechen. Die Figur von Oskar Lafontaine, der jüngst mit anderen bekannten Persönlichkeiten der Linken in Europa zur Diskussion eines „Plan B“ für Europa einlud, stellt ein wichtiges Signal dar. Es könnte oppositionelle Initiativen gegen den Euro, die in verschiedenen Ländern Europas entstehen, entscheidend stärken.

Die Konferenz in Graz zeigte, dass es zwar noch eine unübersehbare Kluft zwischen der Tiefe der politischen Krise des EU-Projektes einerseits und der Stärke einer demokratischen und sozialen Opposition andererseits gibt. Dennoch öffnet das vorhandene Vakuum Spielräume, die das Personenkomitee EuroExit gegen Sozialabbau zu nutzen versuchen wird. In erster Linie als Forum zur Diskussion und Entwicklung einer strategischen Alternative zum Euro-Regime. Aber nach Möglichkeit auch als Instrument zum konkreten Widerstand gegen die anti-demokratischen und anti-sozialen Auswirkungen dieses Regimes, die für die Menschen in Europa immer unerträglicher werden.

 

Gernot Bodner

LINKE ÖKONOMIE? Varoufakis Erklärungen des ökonomischen Weltsystems sind ein theoretisch-politischer Skandal

Varoufakis wurde in Deutschland zum Star, nachdem er als griechischer Finanzminister ge­scheitert und zurück getreten war. Noch im Juli hat der Spiegel (25. Juli 2015) in Zusammen­spiel mit anderen europäischen Medien (Le Monde etwa, 29. Juli 2015) versucht, ihn zu kriminalisieren. Diese europäische Mustermedien versuchten damit das schmutzige Spiel einiger erzreaktionärer Griechen auf die europäische Ebene zu heben. Denn Varoufakis hatte, viel zu spät und mit ungeeigneten Mitteln, versucht, Vorsorge gegen die Erpressungen der EZB und Brüssels zu treffen. Wenn das kein Verbrechen ist!

Zwei Monate später, liest sich das, wieder im Spiegel (Online, 8. Oktober 2015), deutlich anders. Jetzt wird Varoufakis schön langsam zum politischen Heros. Nun bekommt der eitle Professor das, was er schon in seiner Minister-Zeit mit einer skandalösen Home-Story versucht hatte: persönliche Aufmerksamkeit.

Da kommt nun ein kleines Büchlein eben recht. Varoufakis erklärt seiner Tochter die Welt im Allgemeinen und die Wirtschaft im Besonderen. Im Stil eines Fürstenspiegels aus dem 18. Jahrhunderts, oder der Unterweisungen des Fénelon an seine Tochter, entwickelte er eine getragene Rhetorik mit sozialen Rücksichten, und wie man halt heute so was in der oberen Mittelschicht heute zartfühlend macht.

Über die Welt oder die Ökonomie weiß man nach der Lektüre nicht mehr, wohl aber über Varoufakis. Und das ist auch eine Information. Denn er gehört inzwischen zu jener Gruppe von „Ex“ (-Ministern und -Politiker), die sich Lafontaine gerade bemüht zu organisieren. Ob Lafontaine wohl dieses Büchlein gelesen hat? Wenn nicht, sollte er es unbedingt tun. Vielleicht überlegt er sich seine Zusammenarbeit mit dem Griechen nochmals.

Varoufakis steigt in sein Thema ein, indem er ziemlich genau Jared Diamond und dessen Erfolgsbuch („Germs, Guns, and Steel“) vor zwei Jahrzehnten kopiert, in der wichtigen Frage: Warum Ungleichheit? Im Unterschied zu Diamond, der zwar verzerrt und einseitig schreibt in seinem Versuch, verständlich zu sein, der sich aber doch halbwegs an den Stand seiner Disziplinen und der Archäologie hält, stimmt bei Varoufakis gar nichts. Nun mag es für das Verständnis der Weltwirtschaft einiger Maßen gleichgültig sein, wenn man da liest: „Die Sprache wurde vor 82.000 Jahren erfunden. Oder: In der nahöstlichen Bronzezeit wurde „Herr Nabuk“ für seine Arbeitskraft mit Muschelgeld bezahlt. Usw. Aber es geht um die Haltung, einen solchen Unsinn frei und unbekümmert hinzuschreiben,

Vor allem aber: Der Mist hat einen präzisen Sinn. Er dient Herrn Varoufakis dazu zu behaup­ten: „Ich sage, [dass] die Menschen schon Märkte hatten, als sie noch auf den Bäumen leb­ten“. Mit anderen Worten: Mit den Altösterreichern Menger und Wieser etc., den Ideologen des altliberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert, stellt Varoufakis moderne ökonomische Kategorien als ewige und somit auch unveränderliche Tatsachen hin. Friedrich von Hayek, der Begründer und härteste Vertreter des Neoliberalismus, ist da sehr viel weiter und fort­schrittlicher als Varoufakis. Hayek hat nämlich sehr gut begriffen, dass solche Institutionen, Märkte, Preise, Kredit, etc., historische Entwicklungen im Prozess der Moderne, als Marxisten würden wir sagen, der Ursprünglichen Akkumulation, waren. Von ihm trennt uns nicht sosehr die Diagnose, sondern die unumschränkt positive Beurteilung.

Eigentlich reicht es, wenn man an dieser Stelle abbricht. Denn das ist nicht ein Fehltritt der Einleitung. Das geht so weiter. Der Sonnenuntergang ist ein „Gut“. „Die Menschen haben schon immer Schulden gemacht.“ Faust setzt seine Seele als „Zins“ gegen 20 Jahre gutes Leben ein. Der Imperialismus „bedarf keiner wirtschaftlichen Analyse“. Usf.

Es ist eine wirklich widerwärtige Lektüre, die man sich da zumutet. Sogar einzelne geglückte Formulierungen („Man muss [in dieser modernen Wirtschaft] über die Verteilung des Überschusses schon entscheiden, bevor er produziert ist“) gehen in dieser geballten mainstream-Ideologie, stark gewürzt mit historischem Unsinn, unter.

Aber die „Links“liberalen und die EU-Turbos wissen, was sie an Varoufakis haben. Ihnen gefällt er. So kommt er also morgen Abend (4. November) an die Wirtschafts-Universität zu einer Veranstaltung. Und diese Veranstaltung ist ausgebucht. Wenn man verspätet davon Kenntnis erhielt, hat man auch keine Chance mehr, mit diesem Helden zu diskutieren. Nicht dass dies in der Sache was brächte. Aber vielleicht könnte es vereinzelt doch der Einen oder dem Anderen die Augen öffnen.

Und das wäre der eigentliche Punkt. Menschen, die sich mit Varoufakis auf ein politisches Bündnis einlassen, wissen entweder nicht, wen sie da vor sich haben. Oder aber sie wissen es sehr wohl. Dann allerdings sind sie für ehrliche Militante nicht so sonderlich interessant.

Zu welcher Kategorie gehört wohl Oskar Lafontaine?

  1. November 2015

Varufakis, Yanis (2015)., Time for Change. Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre. München: Hanser. (Aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand)

DER EURO UND DIE KRISE DER EU: Krisen und „Krisen“.

Graz, 31. Oktober 2015, Seminar EUROEXIT

Die üblen Auswirkungen der Währungsunion auf die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht mehr zu übersehen. Der Schaden durch den Euro wurde allgemein sichtbar und ist nicht mehr wegzureden. Seit dies so klar ist, gibt es in der reformistischen Linken eine neue Mode: Aber der Euro ist doch nur ein Geld! Und an uns gerichtet, die wir Währungsunion und Euro als Kern der EU analysieren, dieser Politik der Austerität und des nach oben umverteilenden Neoliberalismus: Ihr seid auf den Euro fixiert! Ihr seid Fetischisten der Währung.

Ja, wir sind auf den Euro fixiert. Denn er verkörpert die Tiefenstruktur dieses Systems. Damit liegt er auch der europäischen Form der Finanzkrise zu Grunde. Über die wollen wir nun sprechen.

  1. „Krisen“

Krise ist ein Zentralbegriff der Neuen Sicherheitspolitik seit etwa zwei Jahrzehnten (Buzan u. a. 1998). Sie versuchte damals, von der banalen Analyse über die „Erbsenzählerei“ von Rake­ten und Mannschafts-Beständen weg zu kommen und einen neuen analytischen Ansatz für Konflikt-Verständnis zu finden. Den fand sie in der Krise. Krisen, so entdeckte sie, waren nicht einfach gegebene Sachverhalte. „Krisen“ müssen als solche definiert werden und sind ein Anbot der Kommunikatoren an die Bevölkerung. Dieses Anbot kann angenommen wer­den – oder auch nicht. Mitte der 1990er versuchte Wolfgang Schüssel, eine „Pensionskrise“ herbeizureden – und prompt verlor er damit die Wahlen von 1995.

Warum aber werden „Krisen“ definiert und angeboten? Krisen sind per definitionem, Ausnah­mezustände. Ausnahmezustände aber erfordern zu ihrer Bewältigung außerordentliche Mittel. Es braucht den Einsatz von Maßnahmen jenseits der legalen Routine. Krisen legitimieren also Notstandsmaßnahmen. Krisen sind Einladungen an „Männer der Tat“. Sie bieten die Gelegen­heit, Politiken durchzuziehen, die sonst weder in der Bevölkerung noch auch im politischen Instrumentarium eine Chance hätten. Carl Schmitt, Kronjurist der Nazis hat dies zugespitzt und gleich die entscheidende Frage gestellt: Wer wen? „Souverän ist, wer über den Ausnah­mezustand befindet“. Krisen sind also die Gelegenheit, sich der Souveränität, d. h. der Staats­macht zu bewältigen.

Der offene Staatsstreich ist aber heute nicht mehr die einzige Form, die Krise zu beenden. Heute sucht man nach Möglichkeit nach einer formal-legalen Lösung. Doch auch für sie bieten Krisen die Möglichkeit schlechthin. Dies gilt umso stärker, wenn die Krise nach allgemeinem Urteil echt und umfassend ist.

So war denn auch die Finanz- und Euro-Krise die Gelegenheit schlechthin für die Finanz-Eliten und die EU-Bürokratie. Sie und die ihnen devot untergeordneten nationalen Politiker haben diese Krise auch gründlichst genutzt. Heute hat und ist die EU eine andere Struktur als noch 2008. Und bei dieser Gelegenheit sollten wir auch an die scheinbar unlösbare „Flücht­lings“-Krise von heute denken.

Vor diesem Hintergrund müssen wir die Frage der Finanz- und Eurokrise sowie die Problematik der Währungsunion als Ganzes bedenken.

  1. Die „Optimale Währungsunion“ (OCA – Optimal Currency Area)

Oskar Lafontaine und einige seiner politischen Gesinnungs-Genossen wollen heute die WU auflösen, weil sie die sozial schonende Anpassungs-Politik im Rahmen eigener Währungen verhindert, insbesondere durch die Unmöglichkeit von Ab- und Aufwertungen.

1958 schrieb der britische Ökonom Robert Mundell einen kurzen Aufsatz: „Optimal Currency Area“. Auf ziemlich formalistische Weise versuchte er Kriterien festzulegen, welche den Umfang eines Währungsgebiets abgrenzen sollten, und konzentrierte sich dabei auf die Inflationsrate. Das ist ziemlich fetischistisch. Sind doch Inflationsraten und die Unterschiede zwischen ihnen nur Indikatoren für Differenzen in der Produktivitäts-Entwicklung. Aber dieser Ansatz traf den Nerv der orthodoxen Ökonomie und dominierte ihn für lange. Daran definierten Ökonomen einerseits, Politiker andererseits ihre Haltung zur WU.

Es waren vor allem orthodoxe Ökonomen in der BRD, die sich in der Phase der Planung und Vorbereitung auf die Währungsunion sagten: Die EU, bis 1995 auf 15 Mitglieder angewach­sen und absehbar in der weiterer Ausdehnung, enthält Volkswirtschaften ganz unterschiedli­chen Entwicklungsstands und unterschiedlicher Wachstumsgeschwindigkeit. Da gibt es Griechenland, Portugal und Spanien; aber da finden sich auch die BRD, Österreich und die BeNeLux-Länder. Sie ist also mit Sicherheit keine OCA. Eine Einheitswährung wäre unver­antwortlich. Sie würde alle schädigen.

Das war somit ein orthodoxes, ja ein konservatives Argument. Es baut auf der Norm von der absoluten Dominanz des Markts auf. Das heißt keineswegs, dass ihr Argument nicht richtig ist. Aber es hat Voraussetzungen und es hat eine bestimmte Vision, wie die Weltwirtschaft aussehen soll. Wir argumentieren also in einer Linie mit H.-W. Sinn, wenn wir uns allein auf die OCA abstützen. Das macht, wie schon gesagt, das Argument nicht falsch. Aber es macht nachdenklich.

Auf der anderen Seite standen fast alle Politiker. Im Grund bestritten auch sie die Feststellung nicht. Aber sie zogen andere Konsequenzen daraus. Sie sahen die Rigidität als ihre Chance. Wenn nationale Wirtschaften nicht mehr abwerten konnten, wenn sie bei der Produktivität ins Hintertreffen kommen, dann ist das ein mächtiger Hebel, sie auf den Weg der Tugend zu brin­gen. Denn dann sind ihre Löhne zu hoch und müssen gesenkt werden. Der Lebensstandard der Arbeitenden muss sinken. Sie nannten und nennen es „innere Abwertung“. Und das schrieben sie in die Entwürfe und Verträge und machten es somit verbindlich für die WU-Mitglieder. Denn erinnern wir uns: Die Währungsunion ist keine Option, sie ist für die Mitglieder der EU verbindlich, sobald diese bestimmte Bedingungen erfüllen, die berüchtigten Maastricht-Krite­rien nämlich.

Hier wird also ein praktischer Primat der Politik statuiert und verfolgt. Der steht dem mao­istischen Voluntarismus der 1960er in nichts nach. Aber noch gibt es den ausschließlich von oben nach unten strukturierten europäischen Staat nicht, der dafür Voraussetzung wäre. Ohne den aber funktionierte dies nicht. In dieser Weise verlief die Debatte bis 2007.

In den Jahren bis dahin hatten sich aber innerhalb der Währungszone die Widersprüche akku­muliert. Bis dahin hatten die schwächeren Wirtschaften des Olivengürtels ihre abnehmende Wettbewerbskraft mit billigen Privat- und Staatsschulden überpflastert (Niedrigzinsen auf Grund der bail-out-Erwartung seitens der Banken). Dann aber kam ein unerwarteter Schock: Die steigende Ungleichheit in den USA und der Versuch, sie mit Konsumkrediten zu ver­decken, führte dort zur Finanzkrise und zu Bank-Zusammenbrüchen. Sie wurden rundum als systembedrohlich empfunden. Die Kreditgeber gerieten in Panik und begannen, auch in Europa schärfer hinzusehen. Und damit gerieten vor allem die Südländer in Bedrängnis. Nun stellte sich heraus: In der OCA-These war mehr an Wahrheit enthalten, als die Politiker bisher zugestehen wollten. Das stimmte umso mehr, als die Voraussetzungen dieser These in der Zwischenzeit ausgebaut wurden: die Dominanz der Finanzmärkte in einer deregulierten Welt an erster Stelle.

Denn die EU verfolgte eine widersprüchliche Politik. Auf der einen Seite war eine radikale Deregulierung der Märkte, und vor allem des Finanzmarktes das deklarierte Ziel. Das ist die Grundpolitik zugunsten der Stärkeren. Auf der anderen Seite war die Bürokratie aber gewillt, mit allen ihr verfügbaren politischen Mitteln die Mitglieder auf eine bestimmte Wirtschafts- und Fiskalpolitik hin zu drängen. Überdies übersah das bürokratische Zentrum Brüssel in seiner Abgehobenheit, dass die nationalen politischen Klassen noch immer von der Zustim­mung ihrer jeweiligen Bevölkerung abhängig waren. Folge war eine drastische Verschuldung der Haushalte im Süden, und auch die Staatsschulden begannen dort zu steigen.

Denn die Politiker dort wollten in ihrer Verblendung aus Image-Gründen die Währungsunion, obwohl sie ihre Länder ruinierte. Aber gleichzeitig – und das ist wichtig für die künftige Be­urteilung – mussten sie noch Rücksicht auf ihre Bevölkerungen nehmen. Sie begriffen ganz gut, was ihnen passieren würde, wenn sie das nicht täten – und mittlerweile ist es ihnen pas­siert: Alle Regeierungen, die sich auf die Austerität einließen, sind davon gejagt worden, und einige dieser damals großen Parteien sind praktisch überhaupt von der Bildfläche verschwun­den. Die Regierungen wollten also beides tun: Währungsunion und Menschen zufrieden stellen.

Aber nun drehten die Kreditoren plötzlich den Geldhahn zu. Die Finanzkrise wurde zur Eurokrise, und diese wandelte sich mit der Politik des Abwürgens der peripheren Wirt­schaften zur Staatsschulden-Krise. Das bot die Gelegenheit. Anfangs hatte die Finanz- und Euro-Krise die Eliten besorgt gemacht, und es gelang ihr, diese Sorge an die Bevölkerung weiter zu geben. Nun zögerten sie nicht und griffen zu. Der Fiskalpakt, das europäische Semester, die Entmündigung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik ist heute eine Tatsache, herbei geführt von diesen Versammlungen der nationalen politischen Klassen, in ihren Vereinigungen in den Europäischen Räten.

Darüber hinaus nützte Deutschland seine Chance als Hauptinteressent der „neuen“ Politik und Zwingherr des neu-alten Europas. Südeuropa sowie Irland wurden zu Protektoraten der EZB und, im Hintergrund, von Berlin. Sie bekamen ihre Politik im Detail vorgeschrieben. Als historisch Interessierter ist man ständig an das 19. Jahrhundert erinnert: an das britische Protektorat Ägypten; an das schein-selbständige Griechenland von 1895; an Südamerika.

Aber auch die Länder des Zentrums wurden einer Transformation unterzogen. Der sogenannte Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde auch für sie verpflichtend und in kürzester Zeit durch­gepeitscht. Die Länder verloren ihre Budget-Hoheit und damit das Kernstück bisheriger nationaler Demokratie.

  1. Imperialismus, Ultra-Imperialismus, Supra-Imperialismus, neues Imperium

Das politische Weltsystem besteht aus Staaten, nicht aus Märkten. Diese Staaten und ihre Regierungen sind die eigentliche Interessen-Bündelungen ihrer jeweils hegemonialen Klassen. Früher benutzte man den etwas altmodischen Ausdruck: Gesamtkapitalist. Das ist keine gewissermaßen beliebige Entwicklung. Die kapitalistische Arbeitsteilung, mit so viel Liebe von Adam Smith beschrieben, erfordert als Komplement die Arbeits-Vereinigung. Regulierung erfordert das System und Netzwerk einer abgegrenzten Wirtschaft. Das ist eine unumgängliche Notwendigkeit für die hochproduktive moderne Wirtschaft, und sie wäre es auch jenseits des Kapitalismus.

Im Kapitalismus allerdings stehen die so organisierten herrschenden Klassen einander als Konkurrenten gegenüber und führen den Kampf um den jeweiligen Anteil am Mehrwerts auf globaler Ebene. Das neu entstehende Weltsystem ist somit ein System der „feindlichen Brüder“. Der Einsatz des Staats-Apparats mit seinen politischen und auch militärischen Mitteln ist somit unvermeidbar, wenn dieser Apparat die herrschenden Klassen organisiert und verkörpert. Der Imperialismus wird zum höchsten Stadium des Kapitalismus.

Aber die Gesellschaft entwickelt sich weiter. Die Vernetzung geht weit über den nationalen Bereich hinaus. Es lag daher nahe, dass Beobachter sich fragten: Wird dieser teils irrationale Kampf bis aufs Messer ewig andauern? Liegt nicht ein Ausgleich, eine friedliche Vereinbarung nahe? Das war die Idee des Karl Kautsky (1914).

Kautsky sah einige Entwicklungen in seiner Zeit und suchte, sie auf seine oft fast peinlich plumpe Weise zu erklä­ren. In der marxistischen Tradition wird nicht selten das Vokabel Vulgärökonomie verwendet, um eine oberflächliche Theorie-Bildung etwa i. S. der Neoklassik zu kennzeichnen. Nun, Kautsky ist ein Musterbeispiel von Vulgärmarxismus in seltener Klarheit. In ähnlicher Weise ver­suchten dann die Leute des Cunow-Kreises einen proletarischen Imperialismus zu rechtfertigen.

Es ging vor allem um die Tendenzen möglicher kapitalistischer Zusammenarbeit seitens des Monopol­kapitals im globalen Maßstab. Doch für Kautsky war kennzeichnend, wie oft und prominent die Wen­dung auftaucht: „Rein ökonomisch betrachtet…“ Er hat ganz im Sinne der Zweiten Internationale, der dann von Stalin in die Dritte Internationale hinüber gezogen wurde, den Zusammenhang von Politik und Ökonomie und ihre gegenseitige fundamentale Bedingtheit in keiner Weise begriffen. Lenin (1916) hatte es leicht, in seiner kompromisslosen und auch groben Art diese Idee, die 1914 so eklatant widerlegt wurde, ins Lächerliche zu ziehen.

Eine ähnliche Geschichte ist auch der Versuch, den Imperialismus aus der Beziehung von Industrie und Landwirtschaft zu erklären. Hier argumentiert Kautsky schlicht und einfach physiokratisch. Den Doppelcharakter der Ware bzw. der menschlichen Produktion insgesamt in ihrer Abhängigkeit von der Stofflichkeit der Natur und von der gesellschaftlichen Organisation macht er zu einer Priorität der Landwirtschaft vor der Industrie. Usf. – Lenin allerdings übersah in seiner Polemik die Tendenzen, die tatsächlich vorhanden waren, die allerdings noch einige Jahrzehnte mit Ansätzen zu ihrer Verwirkli­chung auf sich warten ließen. Verantwortlich dafür war sein fast mystisches Staatsverständnis. Es hinderte ihn zu erkennen, dass politische Steuerung und Staats-Elemente zum Einen durchaus von einer eigenen Kategorie von Personen, der Bürokratie, bedient werden, und diese eigene Interessen entwickeln lassen. Zum Anderen können diese Steuerungs-Instrumente auf mehrere Ebenen verteilt werden. Und das ist für unser Thema entscheidend.

Lenin überging in seiner Polemik die Tendenzen, die tatsächlich vorhanden waren, die allerdings noch einige Jahrzehnte mit Ansätzen zu ihrer Verwirklichung auf sich warten ließen. Verantwortlich dafür war sein fast mystisches Staatsverständnis. Es hinderte ihn zu erkennen, dass politische Steuerung und Staats-Elemente zum Einen durchaus von einer eigenen Kategorie von Personen, der Bürokratie, bedient werden, und diese eigene Interessen entwickeln lassen. Zum Anderen können diese Steuerungs-Instrumente auf mehrere Ebenen verteilt werden. Und das ist für unser Thema entscheidend.

Der Ultra-Imperialismus Kautsky’scher Prägung hat nicht begriffen: Es braucht eine autorita­tive Zwangs-Organisation, um diesen Ausgleich zwischen den nationalen Klassen zu verwir­klichen. Es braucht einen übernationalen Staat. Wird aber ein solcher aufgebaut, dann wandelt sich das Konzept des Ultra-Imperialismus zum Konzept des Supra-Imperialismus. Der hat einen äußeren und einen inneren Aspekt. Wir wollen uns hier hauptsächlich um den Inneren kümmern. Denn als übernationaler Staat wird nun eine neue Struktur aufgebaut: das trans- und übernationale Imperium.

Wir haben dieses Konzept schon einige Male diskutiert, und wir sind uns nicht völlig einig darüber. Ich will auch heute die Debatte nicht in Einzelnen aufnehmen. Wichtig erscheint mir, und hier stimmen wir überein: Auch im Supra-Imperialismus hört die Dominanz der mächtig­sten nationalen Kapitalgruppen nicht zu wirken auf. Unter dem Schein des Übernationalen setzen sich also die nationalen Interessen der wirtschaftlich und politisch Stärksten durch. An sich ist dies geradezu eine Banalität. Aber die globalistischen Intellektuellen sind so blind, dass sie dies nicht sehen bzw. nicht sehen wollen. Dabei ist das die maßgebliche Stellung der heutigen Rolle der BRD im Rahmen der EU. – Heute geht es mir um die spezielle Funktion, welche der Euro in diesem Zusammenhang einnimmt.

  1. Die Konsequenzen

Der Euro ist die Zwangs-Konstruktion, welcher die Verbindung zwischen Politik und Wirt­schaft i. S. der Kapital- und Finanz-Oligarchie durchsetzt. Die Logik dahinter ist die Idee eines Automatismus. Noch will man den Parlamentarismus erhalten, noch will man die „Demokratie“ als Schumpeter’sche Auswahl des Führungs-Personals – welches idealiter dieselbe Politik zu vertreten hat – nicht abschaffen. Es hat in den letzten 70 Jahren zu gut funktioniert und Stabilität hergestellt, als dass man auf dieses wunderbare Instrument ver­zichten möchte. Wie lange dies hält, ist freilich eine andere Frage. Gerade eben gibt es in Portugal eine Entwicklung, die man nur als Putsch kennzeichnen kann, und selbst bürgerliche Zeitungen nennen dies mittlerweise so (Telegraph vom 28. Oktober 2015). Neu ist es nicht. Der italienische Staatspräsident bis vor einem Jahr, Giorgio Napolitano, hat dies die ganze Zeit seines Amts so gespielt. Die Kunst ist es, den Schein der Legalität zu wahren, was allerdings dem Portugiesen Cavaco Silva nicht mehr so recht gelingt.

Aber durch Wahlen bestimmte Politiker sind nicht unabhängig genug, wie etwa Zentral-Banker oder Brüsseler Kommissare. Wir sahen es schon: Sie wollen ihre Posten behalten und kommen so immer wieder in Versuchung, den Bedürfnissen der Bevölkerung doch ein wenig nachzugeben. Es müssen also Strukturen geschaffen werden, welche die geforderte Politik weitgehend mechanisch garantieren. Das ist der Euro, der neue Gold-Standard.

Aber bitte keine Illusionen! Der € funktioniert nicht von selbst und allein. Daran hängt ein ganzes Institutionen-Gefüge. Es ist nicht die EZB allein, obwohl sie wie eine Spinne mitten im Netz sitzt. Der Umbau mittels des Fiskalpakts hat gezeigt, dass die Institutionen viel kapillarer sein, dass sie vom Zentrum aus kontrolliert werden müssen.

Damit sind wir aber beim Kern der Frage. Ein Rückbau des Euro zum EWS und seiner – revi­dierbaren – „Schlange“, dem Kursgitter, ist sicher ein wichtiger Schritt. Aber damit baut man den Rest der mittlerweile sehr engen Zwänge noch keineswegs ab. Die Argumentation von der OCA her ist also zwar notwendig und richtig. Aber sie reicht bei weitem nicht mehr aus. Das ist heute nicht mehr der Kern des Problems.

Wir müssen an die Stelle des neoliberalen Primats der Politik für die Finanz-Oligarchie einen ganz entgegen gesetzten Primat der Politik setzen. Der aber lässt sich nicht durchsetzen, wenn wir nicht den Internationalismus dieser Finanz-Oligarchie aufgeben, nein: brechen. Der Inter­nationalismus des Kapitals und seiner Handlanger kann nur durch eine Renationalisierung gebrochen werden.

Das Wort Renationalisierung und überhaupt Nation ist für liberale Intellektuelle insbesondere im deutschsprachigen Raum gewöhnlich ein Schock. Leider trotten die Nachtrapp-Politiker der Linken und die meisten ihrer Intellektuellen in kulturellem Schafsgehorsam hinterher. Wir müssen es also erklären. Das Problem ist nicht zuletzt eine Frage der Begrifflichkeit, ja sogar der Worte. Wir vertreten keineswegs einen integralen Nationalismus. Worum es geht, das sind überschaubare Grenzziehungen, und die muss man theoretisch nicht nach nationalen Kriterien vornehmen. Etwas abstrakt formuliert:

Nationale Zugehörigkeiten sind zwar für sehr viele Menschen, für einen Großteil der Bevöl­kerung, eine wichtige Motivation. Aber sie sind doch in ihrer sozialen und ökonomischen Funktion eine Oberflächen-Erscheinung. Die Tiefenstruktur erfasst dies nur unzulänglich. Grenzziehungen zwischen Gesellschaften, um soziale Systeme und politische Einheiten mitt­lerer Rechweite herzustellen, sind wesentlich für Partizipation und bewusste, demokratische Selbstbestimmung. Zwischen dem Lokalen und Regionalen auf der einen Seite, den Le­benswelten des Alltags, und dem Mondialen und Globalen auf der anderen Seite, den inzwi­schen in Vielem bestimmenden Über-Einheiten, braucht es verstehbare und beeinflussbare Größen. Erst das wird eine Politik möglich machen, welche wieder der Bevölkerung Einfluss gewährt. Diesen Aspekt müssen wir in den Vordergrund schieben. Dafür sind allerdings Grenzen zwischen den Gesellschaften nötig. Grenzen aber können keineswegs undurchlässig sein. An sie knüpfen sich auch Identitäten. Sie müssten aber nicht ethnisch oder national sein. Faktisch sind solche Zugehörigkeiten gegenwärtig in aller Regel national. Der Nationalstaat ist also keine chauvinistische Lärmorganisation. Er ist eine politische Einheit, eine abstrakte Gemeinschaft mittlerer Größenordnung, welche den Menschen u. a. die Zumutbarkeit des Teilens miteinander näher bringt.

Die nationalen Grenzen haben zudem einen Charakter, welcher die Erfahrung der Bevölke­rung mit gegenseitigen Unterstützungen aufnimmt. Ich spreche vom europäischen Sozialstaat. Andere Erfahrungen hat sie in dieser Hinsicht nicht. Hier könnte eine neue Solidarisierung ansetzen, welche sich mit Aussicht auf Erfolg gegen die „europäische Solidarität“, dieses Zusammenstehen der Mächtigen in ihrer verbrecherischen Politik, stellen kann.

Und damit kommen wir von einem Schritt zum anderen.

Wir müssen endlich aus der hegemonialen Zwangsjacke des Europa-Mythos heraus. Noch immer glauben auch Politiker der Linken, sie müssten sich als „begeisterte und überzeugte Europäer“ präsentieren. „Unsere Europäische Union“ schreibt Varoufakis in seiner letzten auch deutsch verfügbaren Broschüre. So unterschiedlich klingt es auch bei Lafontaine nicht. Das ist nicht „unsere“ EU: Haben diese Leutre denn nicht begriffen, was „Europa“ heute bedeutet? Dass es das Deckblatt genau dieser Politik ist, welche sie – und wir – beseitigen wollen?

Der Euro ist der Kern der EU, jenes Paradigmas neoliberaler Politik für die Spitzen der Gesellschaft, für das Finanz- und Großkapital. Wenn wir uns vom Euro befreien wollen, so wollen wir uns damit von der EU, von diesem Europa des Supra-Imperialismus befreien. Mit dem Euro stellen wir also nicht „nur eine Währung“, „nur ein Geld“ in Frage. Mit dem Euro wollen wir uns der Zwangsjacke entledigen, die uns an einer neuen, einer alternativen Politik, einer Politik für die große Mehrheit der Bevölkerung hindert.

Albert F. Reiterer

Literatur

Buzan, Barry / Waever, Ole / de Wilde, Jaap (1998), Security. A New Framework for Analysis. Boulder, CO.: Lynne Rienner.

Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.

Lenin, W. I. (1975 [1916]), Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Werke 22, 189 – 309.

Mundell, Robert A. (1961), A Theory of Optimum Currency Area. In: AER 51, 657 – 665.

Mundell, Robert A. (1973), Uncommon Arguments for Common Currencies. In: Johnson, Harry G. / Swoboda, Alexander K., eds. The Economics of Common Currencies: Proceedings. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Mundell, Robert A. (1997), Optimum Currency Areas. Extended version of a luncheon speech presen­ted at the Conference on Optimum Currency Areas, Tel-Aviv University, December 5, 1997. http://www.columbia.edu/~ram15/eOCATAviv4.html (download: 27. Oktober 2013)

Schumpeter, Joseph A. (1976 [1942]), Capitalism, Socialism and Democracy. With a new introduction by Tom Bottomore. New York: Harper & Row.

Sozialstaat statt Euro-Diktat – Referenten

Im Rahmen der Konferenz Sozialstaat statt Euro-Diktat in Graz sind Referenten sowohl aus Österreich als auch aus dem Ausland (Deutschland, Griechenland) zu Gast. Damit ist eine spannende und inhaltsreiche Diskussion zur Krise der Europäischen Union, den Widersprüchen der Währungsunion und dem Widerstand der Menschen garantiert. Im folgenden werden die wichtigsten Referenten zu den drei thematischen Blöcken der Konferenz kurz vorgestellt.

 

Bruchlinien durch Europa – Der Euro und die strukturelle Krise der EU.

Albert Reiterer, EuroExit
Albert Reiterer habilitierte in Politikwissenschaften an der Universität Innsbruck. Er war Lehrbeauftragter an den Instituten für Soziologie sowie Volkskunde der Universität Wien, am Institut für Soziologie der Universität Graz und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Seine universitären Forschungsschwerpunkte waren die Themen Ethnizität, Nationen-Bildung, Nationalismus und Minderheiten. Seit seiner Pensionierung bearbeitet er systematisch die Prozesse der Entdemokratisierung und Peripherisierung im Zuge der europäischen Einigung und insbesondere die Rolle des Euro. Dazu veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze und Broschüren. Albert Reiterer war federführend an der Ausarbeitung der Grundthesen des Personenkomitees EuroExit beteiligt (Manifest).

 

Runder Tisch der Opposition – Österreichische Ansätze für eine demokratische und soziale Alternative jenseits des Euro-Regimes

Werner Murgg, KPÖ Steiermark
Werner Murgg promovierte in Philosophie und Geschichte an der Universität Graz. Er ist seit 1988 Mitglied der KPÖ Steiermark und wurde 1995 in den Gemeinderat von Leoben gewählt, 2005 wurde er Stadtrat. Seit 2005 ist Werner Murgg auch als Abgeordneter der KPÖ Steiermark im steierischen Landtag. Werner Murgg hat federführend an zahlreiche programmatische Dokumente der steirischen KPÖ mitgearbeitet. Er arbeitete systematisch die Verbindung des Kampfes auf Gemeinde- und Betriebsebene gegen die Sozialabbaupolitik der steirischen SPÖ-ÖVP Koalition („Reformpartnerschaft“) und des Kampfes gegen die EU sowie für die Rückgewinnung demokratischer Souveränitätsrechte heraus.

Boris Lechthaler, Solidarwerkstatt
Boris Lechthaler arbeitet als Versicherungsangestellter in Oberösterreich und ist bei der Solidarwerkstatt Österreich engagiert. Er ist 1999 aus Protest gegen die grüne Kriegspolitik gegen Jugoslawien aus der Grünen Partei ausgetreten und hat 2008 die Bewegung für eine Volksabstimmung über den EU-Lissabon-Vertrag mitinitiiert. Die Solidarwerkstatt arbeitet für ein freies, solidarisches, neutrales und weltoffenes Österreich und fordert den Austritt Österreichs aus der EU. Boris Lechthaler fungiert auch als einer der Sprecher des Proponenten des Personenkomitees EuroExit.

David Stockinger, Sozialdemokrat/innen gegen ein Berufsheer
David Stockinger ist langjähriger Aktivist der Sozialdemokratie, wo er als Vorsitzender der SPÖ Schwechat fungiert, und in zahlreichen politischen Bewegungen. Er engagiert sich insbesondere für den Kampf zum Erhalt der österreichischen Neutralität und gegen die NATO. Stockinger bezeichnet sich selbst als linken Patrioten, der für ein unabhängiges und sozialistisches Österreich eintritt. Darüber hinaus ist er seit vielen Jahren in internationalen Solidaritätsbewegungen, insbesondere der Kubasolidarität, aktiv.

 

Unterordnung oder Bruch: Griechenland und die Polarisierung Europas

Inge Höger, Die Linke (BRD)
Inge Höger war Mitglied der Gewerkschaft ÖTV und ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Sie war Gründungsmitglied der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG). Im Juni 2005 wurde sie auch Mitglied der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Nach der Verschmelzung von PDS und WASG im Jahr 2007 wurde Höger Mitglied der Partei Die Linke und als Sprecherin des Kreisverbandes Herford gewählt. Seit 2005 ist Inge Höger über die Landesliste Nordrhein-Westfalen der Linkspartei Mitglied des Deutschen Bundestages, wo sie von November 2005 bis September 2006 stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke war.

Nikos Galanis, Volkseinheit (Griechenland)
Nikos Galanis (geb. 1960) ist gelernter Mechaniker. Seit 1977 ist er in der griechischen Linken aktiv und war in verschiedenen marxistisch-leninistischen Bewegungen engagiert. Er war Gründungsmitglied der Kommunistischen Organisation Griechenlands (KOE) und bis 2011 Mitglied im deren Politischem Sekretariat. 1994 und 1998 trat er als Bürgermeisterkandidat im der Stadt Nikea (Attika) und 2007 als Kandidat auf der Parlamentsliste der Syriza an. Galanis war zwischen 2007, sei Eintritt der KOE in Syriza, und 2011 Mitglied des Politischen Sekretariats von Syriza. 2011 gründete er mit Dissidenten der KOE, die einer zunehmenden Auflösung in Syriza skeptisch gegenüberstanden, die politischen Organisation PAREMVASI. 2015 beteiligten sich Galanis und seine Organisation an der Gründung der Volkseinheit (LAE) wo er derzeit als Mitglied des vorläufigen Sekretariats der Organisation fungiert.

Konferenz 31.10.: Sozialstaat statt Euro-Diktat

Österreichweite Konferenz des Personenkomitees EuroExit gegen Sozialabbau

 

„Die Krönung des europäischen Einheitswerks“ sollte der Euro werden. Das Pathos der Eliten wurde zu einer Wirklichkeit, die sich die Bevölkerung anders vorgestellt hat. Aber die Bevölkerung zögert, aus ganz unterschiedlichen Gründen in den verschiedenen Gesellschaften. Sie fürchtet, dass ein Austritt aus der monetären Zwangsjacke die Lebensumstände noch verschlimmern könnte. Es ist Zeit, aus dieser Sackgasse heraus zu kommen. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Das Personenkomitee EUROEXIT orientiert klar und eindeutig auf den Austritt aus der Eurozone. Die Währungsunion ist die Konstruktion, die die schmutzigen Ziele der Eliten durchsetzen soll. Der Neoliberalismus und die Gesellschaftsspaltung ist das Programm der EU. Der Euro soll die Entwicklung unumkehrbar machen. Es geht um einen Ausbruch aus der neoliberalen Bevormundung und der Wiedergewinnung von Souveränität. Nur ist sozialer und demokratischer Fortschritt wieder möglich.

Das Personenkomitee EUROEXIT richtet sich an alle, die die Politik des Zwangs und der sozialen Zerstörung ablehnen. Der erste Schritt ist eine Vernetzung.

 

31. Oktober 2015

PROGRAMM

13.00 – 15.00 Uhr: Bruchlinien durch Europa – Der Euro und die strukturelle Krise der EU. (Albert Reiterer, Universitätsdozent i.R. Soziologie, Personenkomitee EuroExit)

15.30. – 17.30 Uhr: Runder Tisch der Opposition – Österreichische Ansätze für eine demokratische und soziale Alternative jenseits des Euro-Regimes u.a. mit Werner Murgg (KPÖ Steiermark), Boris Lechthaler (Solidarwerkstatt), David Stockinger (Sozialdemokrat/innen gegen ein Berufsheer) und lokalen sozialen Initiativen.

Ab 18.00 Uhr: Podiumsdiskussion: Unterordnung oder Bruch: Griechenland und die Polarisierung Europas – mit Nikos Galanis (Volkseinheit Griechenland) und Inge Höger (Bundestagsabgeordnete Die Linke Deutschland) und anderen.

 

Veranstaltungsort: LAGERGASSE 98A • 8020 GRAZ

MIGRATION III – „HUMANITÄRE HILFE“: KULTURKAMPF ALS NEUER KLASSENKAMPF

Die Eliten und ihre Intellektuellen nutzen die Migration

Ein neuer Kulturkampf ist ausgebrochen. Da macht sich also eine Profil-Journalistin namens Edith Meinhart (28. September 2015) auf die Suche nach „dem Stammtisch-Wähler“. Und im Kurier vom 25. Oktober 2015 sind andere (Walter Friedl / Ingrid Steiner Gashi) sehr beunruhigt über die geringe Bereitschaft zur Weltoffenheit bei den „sozial Schwachen“.

Endlich können die mainstream-Medien und ihre Auftraggeber guten Gewissens auf die intoleranten und ausländerfeindlichen Unterschichten losgehen. Ist nur ein Pech, dass mittler­weile auch, wie sie es formulieren, „die Mitte“ nicht mehr von der Entwicklung ausgespart ist, dass selbst Lehrer und Bankangestellte, also typische Figuren der unteren Mittelschicht, ja sogar bis in die mittlere Mittelschicht, also deutlich über den Median der 50 % hinweg, dort angekommen sind, dass sie – mangels ihnen erkenntlicher Alternative und dank jahrzehnte­langer Hetze – nur mehr die Möglichkeit sehen, bei der Strache-Partei ein Kreuzerl zu machen.

Gegen „die Furcht der sozial Schwachen, die ohnehin knappen Mittel“ – wer sagt eigentlich, dass die Mittel knapp sind? Die Gewinne sind hoch wie nie! – „jetzt mit den Zuzüglern teilen zu müssen“, schlägt ein deutscher Zyniker, angeblich Politologe, vor, „die Meinungsführer­schaft wieder zu erlangen“ (?), und „die Bevölkerung durch eine Politik der Symbole zu beruhigen“ (im Kurier). Kann man es noch offener sagen, worum es den Herrschenden geht?

Die Geschehnisse der letzten zwei Monate, die „Flüchtlings-Krise“, ist wirklich eine Krise. Aber man muss sie richtig verstehen. Es ist eine offene Krise des Weltsystems. Die Merkel-Chuzpe wird ihr wenig bringen, trotz Sukkurs solcher Kaliber wie Faymann. Zuerst löste sie den massiven Zustrom aus; dann weigert sie sich, wie gewöhnlich, ihren Fehler zuzugeben. Sie will die Anderen dafür in die Pflicht nehmen. Machen wir uns jedoch nichts vor: Die Menschen wären so oder so gekommen, wenn auch nicht in dieser geballten Menge. Wir müssen uns also mit dem Problem seriös auseinander setzen.

Hier aber geht es vorerst um einen spezifischen Aspekt. Die Eliten und ihre Hilfskräfte fühlen sich für einmal wirklich im Recht und glauben, auf ihr sonst manchmal bei der massiven Umverteilung nach oben doch erkenntliches schlechtes Gewissen verzichten zu können. Vertreten sie nicht das Prinzip des Humanitären? Leben sie nicht für Einmal wirklich dem Universalismus nach, der sonst so durchsichtig nur der Eigennutz ist?

Es ist ein Himmelsgeschenk für sie, denn da ist was dran: Sie sind plötzlich gute Menschen auf Kosten von Anderen, und langfristig wird ihnen dies auch noch in der Umverteilung etwas bringen. Denn Massen-Zuwanderung senkt die Löhne der Unterschichten, hebt aber tendenziell die Einkommen oben.

Es ist ein wirklicher Kulturkampf, und wie jeder Kulturkampf, ist er beladen mit materiellen Interessen. Denn wer kann widersprechen, dass Menschen aus Syrien – Kriegsflüchtlinge, wenn auch vielleicht nur die Hälfte der Ankommenden – dringlich Hilfe brauchen? Aber nochmals: Auf wessen Kosten? Schon macht die Idee von einer neuen Massensteuer die Runde. Und vor allem: Man braucht bloß die Beiträge in diesen Medien lesen, im Profil, im Standard, im Kurier! Nun kann man endlich in aller Deutlichkeit sagen, wie letztklassig diese „sozial Schwachen“ sind, wie unmenschlich und wie selbstsüchtig. Gewöhnlich müssen politisch Korrekte ja höchst sorgsam mit ihren Worten umgehen und dürfen nicht wirklich sagen, was sie denken. Hier haben sie nun endlich die Möglichkeit, ihren Gefühlen und ihren Ressentiments gegen die unten freien Lauf zu lassen.

Nur zu Klarstellung: Wir gehören nicht zu jenen, die glauben, sie müssten ins Gänsehäufl gehen, um dort prächtige Proletarier-Körper zu bewundern. Die meisten von uns sind auch nicht bereit, ihren eigenen Lebensstil zu verleugnen, um plebeische Sitten und Gebräuche in den Himmel zu heben. Wir wollen die Bedingungen ändern, welche die Menschen so zurichten. Wir fragen nach, wie diese Menschen zu dem wurden, wie sie eben sind. Wir wollen keine Unterschicht-Menschen und keine subalterne Klassen mehr.

Einen „Kulturkampf“, einen Klassenkampf gegen die Unterschichten zu führen, weil sie nicht die Haltungen und den Stil der Mittel- und Oberschichten aufweisen, weil sie um ihren bescheidenen Lebensstandard fürchten, den ihnen die herrschende Politik immer mehr schmälert, das ist wahrhaft dieser oberen Mittelschichten und ihrer Heuchelei wert.

Vielleicht sollten wir uns auch erinnern: Die Erste Internationale, die Internationale, die noch von Marx und Engels mitbegründete wurde, entstand auch aus einer vergleichbaren Situation. Die Weltausstellung in London 1862 zog eine Menge fremder Arbeitskräfte an. Nicht zuletzt aus dem deutschen Sprachraum kamen jene, die in London zumindest für kurze Zeit Arbeit und Einkommen erwarteten. Die Folge war, dass sich die britischen Arbeiter gegen die Lohn­drücker vom Kontinent wandten. Dagegen versuchten nicht zuletzt die Sozialisten im Londo­ner Exil, eine sinnvolle Politik zu entwerfen. Eine Folge u. a. war die Internationale Arbeiter-Assoziation.

Doch das hilft uns heute nicht weiter. Es zeigt nur, dass Immigration von den Eliten und vom Kapital stets für ihre eigenen Interessen missbraucht wurde. Es ist damit die blauäugigste Naivität, in die Slogans der liberalen Zeitungen einzustimmen: „Welcome Refugees“ ist ein purer Hohn für alle jene, die es bereits absehen können, wie nach den Kosten der sogenannten Steuerreform nun auch die Kosten der Flüchtlingsversorgung und der Immigration, welche diese Stimmung nutzen will, wieder von ihnen getragen werden müssen: durch reale Senkung der Pensionen; durch Manipulieren an den „Zumutbarkeits-Bestimmungen“; durch Nicht-Valorisieren des Pflegegelds; durch Erhöhung der Mehrwertsteuer; Verlängerung der Arbeitszeiten („Flexibilisierung“); usw.

Internationalismus heißt weder, auf nationale Zugehörigkeiten verzichten, noch auch, der Schmutz-Konkurrenz niedriger Löhne durch die sosehr geförderte Immigration den eigenen Standard opfern. Es ist geradezu unverantwortlich, auf die Slogans der Eliten und ihrer Helfer einzusteigen, und zu deren Bedingungen ihren Dreck aufzuarbeiten.

Für uns ist dies Alles ein Problem. Wir geben auch nicht vor, schon valide Antworten darauf zu haben. Wir müssen dies neu durchdenken. Aber wir werden sicher nicht in den Chor derer einstimmen, die nur zu gut wissen, was sie tun – und die dies nun endlich mit bestem Gewissen tun wollen, da sie doch den armen Menschen an der österreichischen Grenze helfen, bevor sie die Regierung durchwinkt.

  1. Oktober 2015

Ein Hinweis

Ein nützliches Buch ist

Collier, Paul (2014), Exodus. Warum wir die Einwanderung neu regeln müssen. München: Siedler.

ÖSTERREICHISCHE NEUTRALITÄT ZWISCHEN HABSBURG-NOSTALGIE UND GROßMACHT-AMBITIONEN

KP Graz / Steiermark, Zum österreichischen Nationalfeiertag – 24. Oktober 2015

Das politische Projekt des eigenständigen Österreich und die Eliten

Vor 60 Jahren, am 26. Oktober 1955, proklamierte das österreichische Parlament die immer­währende Neutralität unseres Landes – „aus freien Stücken“. Letzteres traf nur teilweise zu, wie wir gleich hören werden. Die politische Klasse war damals keineswegs zur Gänze vom Sinn dieser Ausrichtung überzeugt. Österreich, oder vielmehr seine politische Führung, musste zu seinem Glück gezwungen werden.

Die Neutralität wurde in Österreich für historisch kurze Zeit die eigentliche Staatsraison, der Kern des politischen Projekts österreichische Nation. Nicht nur außerhalb hat man dies nicht wirklich begriffen. Auch in Österreich selbst gab es Probleme. Die Intellektuellen waren in ihrer großen Mehrzahl stets deutsch-national gewesen. Nun, in der Zweiten Republik, ver­stummten sie für kurze Zeit. Heute sind sie wieder umso lautstärker zu hören – und zwar wieder anti-österreichisch.

Allerdings hat sich das Klima geändert. Die deutschen Intellektuellen, seinerzeit in ihrer überwiegenden Mehrzahl auf Seiten der Herrschenden, ob diese schwarz-rot-gold oder braun waren, sind globalistisch geworden. Die österreichischen Intellektuellen waren seit je abhän­gig und wenig originell, äfften ihren deutschen Confrères nach. Der latente Deutschnationa­lismus verkleidete sich heute also. Er wurde auch globalistisch. Das Ganze erinnert sehr an eine Situation im Kärnten der Ersten Republik. „Deutschland durften wir nicht rufen, Öster­reich wollten wir nicht sagen; so wurde unser Kampf eben Kärnten“ – diese Feststellung von Hans Steinacher (1943) aus der Nazizeit braucht nur wenig geändert zu werden, um die intel­lektuelle Situation seit 1990 zu kennzeichnen. Heute heißt dieses Motto der hegemonialen und machtorientierten Intellektuellen: Österreich wollen wir nicht sagen, Deutschland dürfen wir nicht; so sagen wir eben Europa. Es gibt allerdings auch vereinzelt welche, die direkt für den Anschluss optieren, etwa Robert Menasse.

Ich möchte drei Situationen aus Wendepunkten unserer Geschichte ansprechen. Sie zeigen: Das nationale Projekt Österreich musste ersetzt werden, weil es ein Projekt der sozialen und politischen Bescheidung war. An seine Stelle sollte und musste das Großmacht-Projekt Europa treten. Das neue Imperium soll den Eliten ihre unbeschränkte Herrschaft garantieren. Den von ihnen abhängigen Intellektuellen kann es aber endlich wieder als Projektionsfläche für ihre platoni­schen Träume vom Philosophenkönig im Weltstaat dienen.

1918 / 1920

Vor einem halben Jahrhundert, noch zur Zeit der Großen Koalition, erschien in Wien das Buch eines Journalisten über die Erste Republik: „Der Staat, den keiner wollte“ (Andics 1962). Es ist die Variation eines anderen Buchtitels; der stammt allerdings kennzeichnender Weise – der Journalist kam aus großdeutschem Haus – aus der Nazizeit: „Der Staat wider Willen“ (Lorenz 1940). Die Titel sind zumindest eine Irreführung, wenn nicht eine Lüge. Vielleicht aber auch nicht: Denn die Eliten und ihre Intellektuellen sind es schließlich, welche den Staat konstituieren. Das war somit die Auffassung der Eliten von damals.

Es ist wahr: Im Gründungsakt vom 12. November 1918 beschlossen die Parteien einstimmig: „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik… Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“ (StGBl. 5). Und die Bevölkerung? Noch im August 1918 hatten nicht wenige Verblendete von einem Sieg der Mittelmächte gefaselt. Es erinnert an die Göt­terdämmerung im Führerbunker von 1945. Die Niederlage ungeschehen machen war sowohl 1918 als auch 1945 ein Anliegen der Eliten ebenso wie vieler Teile der Bevölkerung. Aber der Zugang war in beiden Situation ganz unterschiedlich. Es entstand jeweils ein völlig unterschiedliches politisches Projekt aus dieser Haltung.

Geschichtsschreibung ist die Aufarbeitung des Geschehens vonseiten der Herrschenden. Es gibt also wenig an Belegen über die Stimmung in der Bevölkerung. Aber vereinzelt haben wir doch etwas. Otto Bauer war damals bekanntlich Außenminister. Er schickte seinen Freund und Partei-Genossen L. M. Hartmann als Botschafter nach Berlin. Hartmann war ein glühender Deutschnationaler. In Berlin glaubte er, dies ausleben zu müssen. Er erzählte allen, die es hören wollten: Österreich werde eben eine Volksabstimmung abhalten und dann auf alle Fälle Teil von Großdeutschland sein. Das kam der Regierung in Wien in die Quere, die sich in Paris eben mühte, erträgliche Friedensbedingungen auszuhandeln. Otto Bauer schrieb also am 15. Juli 1919 einen unwirschen Brief an seinen Freund. Und da gibt es eine hoch interessante Stelle: „Auch auf die Form des Plebiszites möchte ich mich nicht festlegen. Die Christlichsozialen machen ständig gegen den Anschluss Stimmung, und auch innerhalb der Arbeiterschaft ist die Begeisterung für den Anschluss unleugbar schwächer geworden … “ (Reiterer 1993, 116). Er fürchtete also, die Volksabstimmung zu verlieren. Wenige Jahre später wird er erklären: „Die Masse der Arbeiter stand damals [Ende 1918] dem Anschluss­gedanken noch kühl gegenüber; sie hatte den deutschen Imperialismus während des Krieges allzu tief gehasst, als dass sie sich nun für den Anschluss an dasselbe Deutschland hätte begeistern können“ (Bauer 1923).

Worum ging es? Der Anschluss war für die Eliten eine Möglichkeit, den Großmacht-Traum weiter zu verfolgen. Es war die SD, welche dies schon damals zu ihrer verstümmelten Form des Internationalismus gemacht hatte. Sie konnte sich auf Friedrich Engels berufen. „Eine Nation, die 20.000 bis 30.000 Mann [an Truppen] höchstens stellt, hat nicht mitzusprechen“ (MEW 27, 268 – Brief an Marx). Der Großmacht-Nationalismus war von ihm in einer Brutalität vertreten worden, der schon wieder erstaunlich ist. Man hat Engels auch den ersten Revisionisten genannt. Gerade an dieser Stelle kommt dies besonders deutlich heraus.

Mit dieser Orientierung auf das im Ersten Weltkrieg spektakulär gescheiterte Projekt der übernationalen Großmacht verzichteten die habsburgischen und die deutschen Eliten aber auch auf ein gangbares Projekt Österreich. Wie hätte es anders sein können? In der „Öster­reichischen Revolution“ (Bauer 1923) hatte Bauer dies theoretisiert und ideologisiert: Für ihn war alles, was dunkel war, österreichisch. Sein Zukunftslicht sah er nur in Deutschland. Diese Haltung war der letzte Grund für das Scheitern der Ersten österreichischen Republik.

Intellektuelle und Politik: zwischen Hegel und Kant

Einige grundsätzliche Bemerkungen sind hier wohl angebracht. Als sich der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft entwickelte, lief sozial eine parallele Entwicklung ab. Aus einem plebeischen Impuls wurden wurde die revolutionäre Bewegung zu einer ausgearbeiteten Strategie.

Es gab viele plebeische Aufstände in der Geschichte, von den Roten Augenbrauen im China der Chin über die mitteleuropäischen Bauernaufstände bis zur sardischen Macchia. Alle scheiterten. Oft genug mündeten sie nach kurzfristigen Erfolgen sogar in noch schlimmere restaurative Regime. Denn plebeische Bewegungen kennzeichnen sich durch das Fehlen eines Alternativ-Entwurfs.

Dazu bedurfte es, in einem bestimmten Sinn (Gramsci 1971 bzw. 1975), der Intellektuellen. Die proletarische Bewegung war stets ein politischer Verbund von Unterschichten, Arbeitern und anderen, mit Intellektuellen. Aber Intellektuelle kennzeichnet eine Ambivalenz. Sie sind eine privilegierte Gruppe. Und sie können der Versuchung der Macht nicht widerstehen. „Power corrupts.“ Die sozialistische Bewegung braucht Intellektuelle. Aber diese dürfen die Bewegung nicht kontrollieren. Das ist ein weites Feld, ein zu weites für hier.

Intellektuelle berufen sich stets auf Traditionen, denn sie müssen von irgendwoher lernen. Solche intellektuelle Kontinuitäten werden dann zu politischen Strategien.

Engels und mit ihm der Marxismus fand sein Leitbild in Hegel. Aber Hegel war der Staatsphilosoph, der Intellektuelle des aufsteigenden preußisch-deutschen Imperialismus. Er war der Ideologe der Herrschaft und der Großmacht.

Auch im deutschen Idealismus, dem der junge Marx entstammt, gibt es eine andere Tradition. Warum nützen wir heute, nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahrhunderte, nicht Kant und seinen „Ewigen Frieden“? Dort entwarf der späte Kant eine Struktur des internationalen Sys­tems, welches diametral gegen die Tendenzen der Gegenwart geht. Hier finden wir eine menschliche Dimension gegenüber dem „Weltgeist“ und dem entseelten Apparat des Welt­staats. Es ist ein Entwurf, welcher politische Alternativen noch zulässt – und deswegen gegenwärtig den Eliten zuwider läuft. Setzen wir dem globalen Machtstaat des G. W. F. Hegel ein lokales, nationales und regionales Feld der politischen Aktivität gegenüber! Ein solcher Paradigmenwechsel ist in der konsequenten Linken längst fällig.

1945

Nach der Götzendämmerung des Tausendjährigen Reichs war es das erste Anliegen des neu gegründeten Österreich und seiner Regierung, sich von der deutschen Katastrophe abzukop­peln (Reiterer 1988). Einige aus dem Anhang der neu-alten Parteien wollten dies nicht. Sie beteiligten sich auch nicht am neuen Aufbau. Es waren wenige prominente Sozialdemokraten, die in London den Krieg überstanden hatten. Der angeblich Linke Friedrich Adler war unter ihnen der bekannteste. Er wollte in dieses neue Österreich, das er so sehr verachtete, gar nicht zurück kehren. Karl Czernetz kam zurück und wurde politisch aktiv. Er wird national vorerst schweigen und mühsam umlernen. Später profilierte er sich auf einer anderen Schiene. Er nützte eine SArt Pseudo-Marxismus für seine Artikel vorwiegend in der „Zukunft“. So nannte man ihn den „Chefideologen“ der SPÖ. Unnachahmlich war wieder Karl Renner. Der alte Opportunist hatte sich 1938 den Nazis angedient (Renner 1991 [1938]), obwohl ihn niemand gefragt hatte. Nun war er wieder wer: Bundespräsident.

Die Suche nach einer neuen Identität und einem neuen Programm wurde nach 1945 – neben den Kommunisten – eher von den Konservativen gepflegt. Aus ihrer vorerst taktischen Bewegung wurde bald eine Strategie. Sie wäre allerdings um ein Haar gescheitert. Diesmal kamen die Widerstände von Außen. Die USA hatten die NATO gegründet und wollten die Welt säuber­lich eingeteilt wissen. Eine Neutralität passte nicht in dieses Konzept. So wurden die Verhandlungen um den Staatsvertrag, die im Grund bereits Ende 1948 in allen wesentlichen Punkten abgeschlossen waren, über sieben Jahre verschleppt.

Aber die USA hatten ihre Hilfskräfte auch in Österreich. Es waren wieder die Sozialdemo­kraten. Ich möchte hier nicht auf die Einzelheiten eingehen (Stourzh 1988). Faktum ist jeden­falls, dass sich insbesondere Bruno Kreisky, damals Staatssekretär im Außenministerium, zusammen mit Vizekanzler Schärf in der Delegation bei den Moskauer Verhandlungen, heftig gegen die Neutralitäts-Erklärung wandte. Noch bei den letzten Verhandlungen in Moskau 1955 drohte er laut Ludwig Steiner und Botschafter Bischoff mit seiner Abreise wenn die Neutralität beschlossen würde, wie Ludwig Steiner und der Botschafter Norbert Bischoff berichten. Die Konservativen, Raab zuvorderst, ließen ihn ins Leere laufen und setzten sich durch. Raab soll ihm auf seine Drohung gesagt haben: „Na, dann fahren S‘ halt, Herr Staats­sekretär!“

Die Neutralität wurde zum Banner des neuen Österreich. Sie war ursprünglich nur als völker­rechtliche Finesse gedacht. Doch die Österreicher fassten sie sehr schnell ganz anders und politisch integral auf. Sie wurde zur Weigerung, sich auf das Spiel der Großmächte einzulas­sen. Das Wohl der Bevölkerung sollte im Vordergrund stehen. Es war in Hinkunft keine Tugend, unbedingt das Fünfte Rad am Wagen irgend eines Bündnisses zu sein.

Aber ganz ging man der Versuchung der Großmannssucht nicht aus dem Weg, und das sollte später bedeutsam werden. Da waren die Altkonservativen. Sie pflegten den Habsburger-My­thos, der den „Völkerkerker“ von damals in ein fröhliches Miteinander in einem friedlichen übernationalem Staat umdeutete. Wir kennen die Masche von heute: die EU als „Friedens-Projekt“, da die Menschen ihre schädlichen sozio-ökonomischen Wirkungen nicht mehr übersehen wollen.

Das war aber auch nicht zuletzt ein Kennzeichen der Ära Kreisky. Derselbe Kreisky, der sich so erbittert gegen die Neutralität ausgesprochen hatte, wurde nun ironischer Weise zu ihrem Standarten-Träger. Allerdings garnierte er dies mit Versuchen, Konfliktvermittler zu spielen, wo die maßgeblichen Konfliktparteien meist kein Interesse an einer solchen Mediation hatten. Immerhin: Dies schärfte bis zu einem gewissen Grad das Bild dieses Kleinstaats. Zu Hause aber bot dies der Sozialdemokratie einen gewissen Ersatz für den Habsburger-Mythos, Speziell einige der extrem-konservativen Kreise (für sie steht u. a. der Name Coudenhove-Kalergi) hatten sich aber bereits umorientiert. Sie hatten sich, zusammen mit Otto Habsburg, Abgeordneter der CSU im Europäischen Parlament, schon auf die E(W)G festgelegt.

1990 / 1994 und danach

Gehen wir wieder eine Generation weiter!

1985 kam es zu einem innerparteilichen Putsch in der SPÖ. Die Träger der alten politischen Kreisky-Linie wurden entfernt. Außenpolitisch traf dies den damaligen Außenminister Erwin Lanc, der gewissermaßen das Kreisky-Erbe in der Außenpolitik verwaltete. Gesamtpolitisch war dies die Festlegung auf den neoliberalen Kurs, der anderswo mit den Namen Thatcher, Reagan und Delors verbunden war. In Österreich stehen dafür Vranitzky und Lacina.

Bei den Christlichsozialen aber fand die entschiedene Orientierung auf die EG statt. Sie wurde von allen Flügeln mitgetragen: Die Alt-Konservativen des Partei-Obmanns Mock wurden flankiert von den rechten Neokonservativen des Schlags Andreas Khol und den angeblich Liberalen des Heinrich Neisser. Eine Extratour versuchte eine Zeitlang Erhard Busek, der den Habsburg-Mythos „Mitteleuropa“ gerne mit der EWG gekoppelt hätte. Das hätte dann dazu dienen sollen, Österreich in diesem Gebiet wieder eine Führungsrolle zu verschaffen. Aber die Višehrad-Staaten waren gar nicht neugierig darauf. Der EG-Beitritt wurde für alle diese Tendenzen zum strategischen Ziel: Sie hatten insbesondere nach den Wahlen von 1986 begriffen: In Österreich selbst würden sie auf demokratischen Weg keine Chance haben, den neoliberalen Paradigmenwandel durchzusetzen. In diesem Ziel trafen sie sich bald mit der Mehrheit der Grünen, verkörpert durch Alexander van der Bellen.

Mit Franz Vranitzky hatten SPÖ+ÖVP die passende Figur gefunden. Gegenüber dem biede­ren und beschränkten Mock und seinen Nachfolgern war der ehemalige Androsch-Sekretär und nun Bankdirektor imstande, die SPÖ auf den neuen Weg festzulegen. Den Weg dazu ebnete ihm Fred Sinowatz, der sich gerade politisch gegen Waldheim massiv verkalkuliert hatte und übrigens bald wegen falscher Zeugenaussage strafrechtlich verurteilt werden sollte.

1990 war es dann soweit. Im ersten Golfkrieg kam die neue Außenpolitik zu Ehren, und die Neutralität wurde in einer Nacht und Nebel-Aktion weitgehend entsorgt. Schon vorher, am 17. Juli 1989, schickte man den „Brief nach Brüssel“ ab, das Gesuch um EG-Beitritt. In der Volksabstimmung von Mitte 1994 aber wurde insbesondere die Basis der SP, nicht zuletzt in den Betrieben, einer wahren Terror-Kampagne unterzogen. Man erreichte damit und mit einer Propaganda-Walze, die nur noch mit der Nazi-Volksabstimmung für den früheren Anschluss, den von 1938, verglichen werden kann, zwei Drittel der Stimmen. Wieder spielte der Bezug auf Großmacht-Illusionen eine Rolle. Die paar verbliebenen Kreiskyaner, die sich als Linke sahen, aber verließen die Partei: Egon Matzner etwa, der frühere Programm-Koordinator; oder Erwin Weissel mit seinem berührenden Anklage-Brief an die neue SPÖ-Führung.

Die Gegenwart

Die österreichische Neutralität ist tot, wie auch das Projekt Österreich, die österreichische Nation als eigenständige Politik, nicht mehr existiert. Wie könnte es auch anders sein? Das westeuropäische Imperium, der postnationale Staat der Eliten und in ihrem alleinigen Inter­esse verfolgt eine neue Politik des Supra-Imperialismus: Kautsky’s Idee (1914) des Ultra-Imperialismus, von Heinrich Cunow und seiner Gruppe zu einem bewussten proletarischen Imperialismus verschärft, ist dabei eine Synthese mit dem klassischen Imperialismus des 19. Jahrhun­derts eingegangen. Mit den USA steht dieser Supra-Imperialismus zwar in ökono­mischer Konkurrenz und Konflikt. Gleichzeitig ist er aber bestrebt, deren militärische und politische Kapazitäten in den globalen Antagonismus zu nützen. Folge ist, dass sich insbeson­dere die Brüsseler Bürokratie in oft peinlicher, vor allem in gefährlicher Weise, den Marsia­nern jenseits des Ozeans unterwirft – sosehr, dass sogar andere Fraktionen der EU-Bürokratie dies korrigieren wollen, Das Urteil des EuGH C 362/14 zum Daten-Transfer vom 6. Oktober 2015 ist die Dokumentation eines solchen Dissenses innerhalb der verschiedenen Fraktionen der EU-Bürokratie..

In Österreich heißt das Gesicht dieser Unterwerfung Sebastian Kurz. Manche meinen, dass man diesen Schnösel damit zu hoch einschätzt. Aber seine totale Unterwerfung unter die österreichische außenpolitische Bürokratie ist schließlich eine wesentliche politische Ent­scheidung. Denn die unterwirft sich in ihrer Unfähigkeit selbst wieder total allen Brüsseler und Berliner Regungen. Der junge Mann mit seiner inzwischen entwickelten Fähigkeit, dies nach außen hin zu verkaufen, zeigt besonders deutlich den Charakter solcher Politik: Österreichische Außenpolitik ist zur reinen PR-Aktion für Berlin und Brüssel geworden.

Ist also das österreichische Projekt nun schon Vergangenheit, wiederum von den Eliten verspielt, wie in der Ersten Republik? Leider ist diese pessimistische Sicht ziemlich realistisch. Aber noch ist dieser konservative Durchmarsch nicht ganz am Ziel. Gerade die Grazer KP und die steirische KP insgesamt zeigt, dass ein linkes Projekt auch in Österreich nicht völlig chancenlos ist. Wir werden allerdings noch viel zu tun haben, bis wir auf der gesamtösterreichischen Ebene damit durchdringen. Es ist Zeit, dass wir damit beginnen. Brechen wir auf: Zurück in die Zukunft!

Literatur.

Andics, Helmut (1962), Der Staat den keiner wollte. Freiburg: Herder.

Bauer, Otto (1923), Die österreichische Revolution. Wien: Volksbuchhandlung.

Gramsci, Antonio (1971), Quaderni del carcere. Introduzione di Luciano Gruppi. Roma: Riuniti (6 vol.). Bzw.: Gramsci, Antonio (1975), Quaderni del carcere. Edizione critica dell’Istituto Gramsci. A cura di V. Gerratana. Torino: Einaudi.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1995[1822/30]), Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Frankfurt / M.: Suhrkamp.

Hilger, Andreas / Schmeitzner, Mike / Vollnhals, Clemens (2006), Hg., Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945 – 1955. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht darin vor allem Steiniger)..

Kant, Immanuel. (1795 / Reprint 1987). Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Stuttgart: Engelhorn.

Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.

Lorenz, Reinhold (1940), Der Staat wider Willen. Österreich 1918 – 1938. Berlin: Juncker und Dünnhaupt.

Reiterer, Albert F. (1986), Vom Scheitern eines politischen Entwurfs. Der ‚österreichische Mensch‘ – ein konservatives Nationalprojekt der Zwischenkriegszeit. In: ÖGL 31, 19 – 36.

Reiterer, Albert F. (1987), Die konservative Chance. Österreichbewußtsein im bürgerlichen Lager nach 1945. In: Zeitgeschichte, 14. Jahr, 379 – 397.

Reiterer, Albert F. (1993), Österreichische Identität – deutsche Kultur – europäische Integration? In: Novotny, Helga / Taschwer, Klaus, Hg., Macht und Ohnmacht im neuen Europa. Zur Aktualität der Soziologie von Norbert Elias. Wien: Wiener Universitätsverlag, 107 – 122.

Renner, Karl (1991 [1938]), Die Gründung der Republik. Deutschösterreich, der Anschluss und die Sudetendeutschen. Dokumente eines Kampfs ums Recht. Mit einer Einführung von Eduard Rabovsky. Wien: Globus.

Steinacher, Hans (1943), Sieg in deutscher Nacht. Ein Buch vom Kärntner Freiheitskampf. Wien: Wiener Verlag.

Stourzh, Gerald (1975), Geschichte des Staatsvertrags 1945-1955. Österreichs Weg zur Neutralität. Graz: Styria.

NUR DER EURO?

Oskar Lafontaines Brief und seine Vorstellungen einer neuen Politik

Oskar Lafontaine hat am 11. Oktober 2015 in il manifesto einen Offenen Brief an die italienische Linke geschrieben, dessen deutsche Fassung am 14. Oktober in der Jungen Welt vom 14. Oktober erschien. Der Brief könnte eine kleine Sensation darstellen. Wir müssen uns mit ihm auseinandersetzen – kritisch, aber ohne Häme und Bösartigkeit.

Oskar Lafontaine stellt die Frage, ob es eine Möglichkeit linker Politik „im Rahmen der Europäischen Union“ gebe. Seine Antwort ist eindeutig: NEIN. Und daraus zieht er die Folgerung: Es ist an der Zeit, den Aufbau einer Neuen Linken über- bzw. international anzustoßen. Sie soll sich nicht mehr als Gefangene des Eurosystems gerieren, wie die bis­herige alte (reformistische) Linke. Dazu gehört ganz offenbar auch die deutsche Partei DIE LINKE. Aber diese Neue Linke muss die Massen-Basis der alten Linken bewahren und ausbauen. Dazu gehört vorrangig auch die „Begegnung mit neuen Kräften jenseits des traditionellen Parteienspektrums“.

Das könnte eine Wende darstellen – wenn es richtig verstanden wird. Die Nennung von Bepe Grillo in einem Atemzug mit Silvio Berlusconi dämpft allerdings die Hoffnung gewaltig, die man auf diesen innovativen Politik-Vorschlag setzen könnte.

Damit sind wir bei den analytischen und politischen Schwächen dieses Weckrufs angelangt.

Oskar Lafontaine weist auf wesentliche strukturelle Faktoren des Euro-Systems hin. Zentral ist die Rolle der unverantwortlichen EZB und ihre Entschlossenheit und Möglichkeiten, jede Alternative zur gegenwärtigen Politik abzuwürgen. Aber unmittelbar darauf folgt die Fest­stellung, „dass die europäischen Verträge und das europäische Währungssystem fehlerhaft konstruiert sind. Das ist ein altes Motiv nicht nur Oskar Lafontaines, sondern der ganzen Richtung, für die er immer noch steht. Es ist der Stil, die Formulierung, die mehr als die nüchterne Aussage hier entscheidet. Denn die legt immer noch die Vermutung nahe: Das Euro-System war im Grund eine gute Idee, nur schlecht ausgeführt.

Aber der Euro ist nicht „fehlerhaft konstruiert“. Er ist so gewollt wie er ist. Das will Oskar Lafontaine nicht einsehen. Möglicherweise hängt er noch an seiner Vergangenheit. Immerhin war er deutscher Finanzminister, als die Transformation in den Euro erfolgte. Vor allem aber: Er hat seine Position ganz offenbar nicht zu Ende gedacht. Das zeigt sich an einem ganz fundamentalen Punkt-

Oskar Lafontaine schlägt nämlich als Ersatz für die heutige Einheitswährung die Rückkehr zu einem verbesserten EWS vor. Dieses System der „Schlange“ reduziert aber die Problematik des Euro auf die Fragen der fixen Wechselkurse. Die sind wichtig genug. Aber sie sind keineswegs alles und sie sind inzwischen nicht mehr der Kern des Euro-Systems. Der Kern sind heute alle Maßnahmen, welche die neoliberale und Austeritäts-Politik zur einzigen Möglichkeit, zum TINA aller Mitglieder in der EU machen. Man sollte nicht vergessen, dass das EWS, diese Schöpfung seines Vorgängers und parteiinternen Widersachers Helmut Schmidt seinerzeit durchaus als Fehlschlag betrachtet wurde. Dabei war allerdings der Gesichtspunkt jener eines Proto-Euro mit endgültig fixierten Kursen.

Trotzdem ist dieser Vorschlag erwägenswert. Aber was weiter? Bleiben wir dann beim EWS und der Schlange stehen, die eben von Zeit zu Zeit re-adaptiert wird?

Das ist vielleicht der fundamentale Punkt, wo sich unsere Vorstellungen und Wege teilen.

Und dann stellt sich eine triviale und gleichzeitig höchst entscheidende Frage. An wen richtet sich der Brief an die italienische Linke eigentlich? Manchmal hat man den Eindruck, es sind immer noch die Demokraten. Dann wieder denkt man doch eher an die Strömungen der Linken, von Fassina angefangen. Das aber ist entscheidend.

Oskar Lafontaines Brief ist eine wichtige Bewegung, könnte es jedenfalls sein. Man soll ihn daher nicht sosehr nach seinen Schwächen beurteilen. Eher ist es sinnvoll, den Brief als einen jener wichtigen Impulse zu sehen, wo endlich an ein breiteres linkes Spektrum die Anforde­rung gestellt wird: Beginnt endlich mit dem Denken! Löst Euch von Euren Illusionen! Spre­chen wir über Alternativen zum gegenwärtigen Bleimantel von Politik und ihrer neoliberal kontrollierten Medien-Öffentlichkeit! Überlassen wir eines der wichtigsten Themen der Bevölkerung doch nicht der Rechten und ihren Rattenfängern!

Aber zu Ende gedacht ist dies nicht. Wir müssen erst noch die Themen dieser Sonate, welche Oskar Lafontaine seit etwa einem Jahr anschlägt, gründlichst variieren und verarbeiten.

  1. Oktober 2015

Zwei Nachträge vom 19. Oktober:

„Der Brief ist von Fassina bestellt.

Es ist eine Medizin für ein Milieu, das bereits starke Resistenzen aufgebaut hat, wo die Medizin nicht wirken kann.

Fassina will das altlinke Milieu um SEL und Rifondazione auf Anti-Euro-Position bringen, dem es in Wirklichkeit darum geht, mehr Gewicht gegenüber der PD zu bekommen um sich dann wieder entsprechend an sie verkaufen zu können.“ (W. Langthaler)

Ein weiterer Hinweis: Im Neuen Deutschland von heute (19. Oktober) findet sich wiederum ein Interview mit O. Lafontaine. Zu den Aussagen von Lafontaine ist nur eine Frage zu stellen. Er bezeichnet sich selbst als „überzeugten Europäer“ und will „die europäische Idee und den europäischen Zusammenhalt retten“. Was bedeuten diese Gemeinplätze, Codeworte aller EU-Turbos, in Lafontaines Mund strategisch und taktisch konkret, welchen Inhalt transportieren sie?

Und noch eine Anmerkung zum Interview: Das eigentlich Interessante ist die Art, wie ND das Gespräch führt. Alle alten Versatzstücke der €- und EU-Retter tauchen da auf. Es ist aber die Linie DER LINKEN. Was will diese Partei wirklich? Wofür steht sie politisch?

DIE NEUE BESCHEIDENHEIT

Ein Blick auf die Wiener Wahlen

„Damit können wir leben“, meinte der Wahlkampfleiter der Wiener SPÖ, als er noch glaubte, das Ergebnis sei 36 % zu 35 % SPÖ : FPÖ. „Damit kann I leben“, wiederholte der Bürger­meister, als er schon wusste, dass es nicht ganz so schlimm war und die Verluste der SPÖ „nur“ rund 5 Punkte, mehr als 10 % des Anteils von seinerzeit, ausmachten. Man muss eben bescheiden sein. Auch Faymann feiert in seinem inoffiziellen Parteiblatt den „Erfolg“ und freut sich, dass es jetzt bis 2018 keine Wahlen mehr gibt. Ich wünsche ihm noch etliche solche „Erfolge“, dann ist die SPÖ dort, wo sie hingehört…

Beginnen wir mit einem taktischen Blick. Die FPÖ hatte ein „Duell“ ausgerufen und damit der SPÖ den größten Gefallen getan, den diese sich wünschen konnte. Es war vermutlich Strache selbst, der diese Linie wählte. Wir wissen ja, er hat kein Hirn, „ka G’spür“, auch nicht in solchen Fragen, die für alle Politiker ganz im Vordergrund stehen. Überall, wo seine eigene Hand erkenntlich wird, geht es ziemlich sicher daneben, von der Einigung mit der Kärntner Bagage bis zur Übernahme der Frau Stenzel. Schon das wäre ein Grund, sich nicht allzu sehr vor ihm zu fürchten.

Aber versuchen wir lieber zu erkennen, was es politisch mit solchen Manövern auf sich hat.

Im Grund versucht hier die FPÖ und Strache persönlich, ein ähnliches Manöver zu fahren, wie vor gut einem Jahrhundert Karl Lueger in Wien: Er möchte die Unzufriedenen um sich scha­ren, aber gleichzeitig bestimmte Kreise der Eliten bedienen und absichern. Er baut also eine Rechts-Partei mit plebeischen Wählerstock auf, die von einer Gruppe von „gut-bürgerli­chen“ Freiberuflern geführt wird. Denn nichts Anderes ist diese sogenannte Burschenschafter-Partie, vom ehemaligen Justiz-Minister Ofner bis zum Fast-Nazi Andreas Mölzer. Strache selbst bildet mit seinem Adlatus Kickl und ähnlichen Figuren das Bindeglied zwischen den beiden Gruppen. Gerade für Wien ist diese Kombination und Strategie besonders offensicht­lich: Den Wahlkampf hat Strache geführt, und zwar fast als eine Ein-Mann-Show. Aber der Kopf der Wiener FPÖ, sowohl vor den Wahlen auch jetzt wiederum ist Johann Gudenus. Der aber kommt aus dem niederösterreichischen Provinz-Adel. Archäologisch Interessierten dürfte die Gudenus-Höhle ein Begriff sein, am Zusammenfluss von Krems und Kleiner Krems und unter der Burg der Familie.

Damit ist aber über den Klassen-Charakter der FPÖ schon ziemlich viel gesagt.

Warum aber fürchten sich die anderen Bürgerlichen so vor dieser Truppe?

Selbst in unserem parlamentarischen System, welches ohnehin durch die EU schon soweit kastriert ist, dass innerhalb des Systems keine Änderung mehr möglich ist, bedeutet ein plebeischer Charakter eine Gefahr. Es ist nie so sicher, dass man eine solche „Bewegung“ – ein Lieblingswort von Jörg Haider – wirklich unter Kontrolle halten kann. Und dann noch diese Unterschicht-Typen! Vor einigen Wochen konnten wir ja im „Profil“ nachlesen, wie eklig diese auf eine Journalisten wirkte, wie sehr sie diese Leute verabscheut.

Und überdies stimmen die Typen nicht zur Gänze in den Halleluja-Chor zur EU ein. Die Journalisten – und leider mit ihnen auch die meisten Strache-Wähler – haben ja übersehen, dass Strache seinen Schwenk schon gemacht hat. Er ist ja keineswegs gegen die EU. Er ist nur dafür, dass die Menschen in ihrem Frust Dampf ablassen können. Also spricht er sich nicht für einen EU-Austritt aus; „die EU von innen reformieren“ will er. Usw.

Wir brauchen dies hier nicht näher ausführen, wir kennen es gut genug. Anderswo, in Italien z. B. mit seiner linken Tradition, hat sich die neue plebeische Strömung nach links gewandt. Zwar sind auch dort viele Ambivalenzen vorhanden, und die M5S hat sozusagen rot und schwarz in ihren Reihen. Aber die Tendenz ist erkennbar. Hierzulande, in einem Kernland des westeuropäischen Zentrums, scheint es selbst den Unterschichten schwer, sich auf eine wirkliche Alternative zu postieren.

Doch zurück zu den Wiener Wahlen. Es gibt noch einige interessante Details, mehr als hier genannt werden können. Die Detail-Ergebnisse stehen noch nicht zur Gänze fest, weil Wahlkarten und Briefwähler noch nicht ausgezählt sind.

Die ÖVP ist ihren neokonservativen Junglöwen mittlerweile zu zahm und in kultureller Hinsicht offenbar zu reaktionär. Sie hat, von ohnehin äußerst niedrigem Stand auf fast die Hälfte ihrer Stimmen (106 Ts. auf 59 Ts., allerdings ohne Briefwähler) abgebaut. Die gingen offenbar zum Großteil zu den Neos, wenn man SORA trauen darf. Das Institut hat sich aller­dings in der Prognose der Ergebnisse noch eine Stunde vor den ersten „richtigen“ Ergebnissen nicht ausgezeichnet. Sogar zur SPÖ ging ein doch erheblicher Teil früherer Wähler der ÖVP. Auch das kennzeichnet einen Stimmungswechsel unter den harten Konservativen. Für die ÖVP insgesamt bedeutet dies nichts Gutes.

Die Grünen als SP-Anhängsel, die sich in Wien vor allem dadurch auszeichnet, dass sie die Kern-Klientel der SP stets sein wenig schikaniert, sind Opfer ihrer eigenen Panikmache ge­worden. Dazu kommt: Sie sind nicht mehr unterscheidbar von den anderen Regierungspar­teien. Man muss das Interview des Herrn Ellensohn zu Mittag im ORF gehört haben, um das so richtig zu begreifen. Das war „gekonnt“ wie es eben alle machen, die von einer vor der Wahl abgegebene Stellungnahme schon am Tag nach der Wahl nichts mehr wissen wollen.

Um „Strache zu verhindern“, haben offenbar doch einige der früheren Grünwähler ihr Kreuzerl bei der SP gemacht. Aber es war von Anfang weg klar: Die Wiener SP ist Gefangene ihrer eigenen Strategie vor fünf Jahren, nämlich in der Koalition mit den Grünen nicht nur die billigste Lösung zu wählen, sondern auch damit einen deutlichen Schritt aus ihrer proletarischen Tradition heraus zu treten. Nun haben sie allein von den Zahlenverhältnissen kaum mehr eine andere Wahl.

Und ANDAS? Es gab für Oppositionelle kaum eine Motivation, diesen jämmerlichen Wurm­fortsatz der Grünen zu wählen, die sich zusammensetzt aus der EU-frommen Wiener KP unter dem Einfluss des Walter Baier und mit dem Gesicht des Didi Zach sowie den österreichischen Piraten – über sie brauchen wir wirklich kein Wort verlieren, siehe Innsbruck – mit der Spit­zenkandidatin Juliana Okropiridse, einer politisch unbedarften Physik-Studentin. Sie haben offenbar ernsthaft geglaubt, Chancen zu haben, schließlich aber nicht einmal das Ergebnis der KP von 2010 erreicht, das wiederum unter dem Ergebnis von 2005 lag. Wir haben nicht den geringsten Grund, uns über den Misserfolg dieses Versuchs zu freuen. Im Gegenteil. Das Problem ist nur: Auch mir ist nicht klar, warum ich gerade diese Liste hätte wählen sollen.

Eine Landtags- und Gemeinderatswahl hat selten soviel Aufmerksamkeit erregt wie diese. Doch die Regierungsparteien haben 2007 die Legislaturperiode verlängert, damit sie nicht ständig vom Volk gestört werden. Eine der Folgen ist, dass dieses Volks nun noch mehr als bisher auch andere Wahlen nützt, um der Regierung zu sagen, was es von ihr hält. Die GR-Wahlen wie auch die LT-Wahlen vor zwei Wochen sind also vor allem unter diesem Ge­sichtspunkt zu sehen. Wien ist zwar kein Paradies, und insbesondere die Vize-Bürgermeis­terin Brauner hat mit ihren Finanz-Spekulationen Einiges angerichtet und etliche Hunderte Millionen versenkt. Aber im Vergleich zu westeuropäischen Großstädten ist Wien noch halbwegs akzeptabel, auch wenn sich speziell die Grünen nach Kräften bemühen, dies zu ändern.

Noch eine Bemerkung ist am Platz. Offensichtlich haben viele noch immer nicht begriffen: Man stimmt heute nicht für eine Partei, sondern dagegen. Ein erheblicher Teil der Strache-Wähler hält weder ihn noch seine Partei für besser als die Konkurrenten. Aber die Regie­rungsparteien fürchten nun einmal ihn am ehesten. Also ist es gar nicht so irrational, der FPÖ die Stimme zu geben, wenn man die Regierung abstrafen will.

Und zum Schluss: Wahlen dieser Art sind Ersatz-Handlungen. Ich meine, dass sie immerhin eine, fast die letzte, Möglichkeit bilden, seinen Frust auszudrücken. Aber auch Nichtwählen ist unter diesen Umständen ein politischer Ausdruck. Was wir endlich ernsthaft diskutieren müssen, sind Alternative zu dieser Art von Wahl. Denn es scheint, als ob allein der Gedanke an Alternativen fast vollständig aus unseren Überlegungen verschwunden ist. Politische Tätigkeit auf Wahlen im Parlamentarismus zu reduzieren, ist der entscheidende Schritt zur Aufgabe jeden ernsthaften Anspruchs auf Änderung

12.°Oktober 2015, 14.00