DIE ÖVP UND IHRE KURZ-REVOLUTION. Krise der Parteien und der Versuch eines Trittbrett-Fahrers

Die mainstream-Kräfte der europäischen Politik, die rechtszentristischen Parteien also, die Sozialdemokratie und die Christlichdemokraten, stecken seit Jahren in einer tiefen Krise. In den letzten Jahren war es vor allem die Sozialdemokratie, welche gebeutelt und mancherorts fast zerstört wurde. Die PASOK verschwand nahezu und versucht sich jetzt zu retten durch die jämmerliche Tsipras-Performance. PSOE treibt auf ein ähnliches Schicksal zu. Der PS in Frankreich zerbröselt auch gerade. In den Metropolen siechen SPD und SPÖ dahin. Am stärksten dürfte derzeit noch Labour sein, obwohl gerade diese Partei systematisch tot geschrieben wird. Die Euro-Krise hat sie alle ins Mark getroffen: Ihre bisherige Klientel hat begriffen, dass die Sozialdemokratie ihr nicht nur nicht helfen kann, sondern auch nicht helfen will.

Die Parteien aus der christdemokratischen Tradition haben ein ungleiches Schicksal. Zwar haben sich praktisch alle zu neokonservativ-neoliberalen Kräften verwandelt. Aber sie haben sich tendenziell besser gehalten als die Sozialdemokraten. Zwar: Schon 1990 ist die italieni­sche DC zerfallen. Aber Berlusconi hat übernommen. Inzwischen hat aber auch Forza Italia das Schicksal ereilt. Umgekehrt strahlt die CDU / CSU. Das ist der Unterschied zwischen Peripherie und Zentrum. Die britischen Konservativen waren so klug und haben das Brexit-Dictum affirmativ zur Kenntnis genommen und stehen vor einem Erfolg. Wenn Labour vor einer Niederlage steht, dann nicht zuletzt wegen des Klammerns an die EU seitens des dominanten rechten Flügels.

Die ÖVP hingegen war ein Paradox. Sie hatte sich in ihrer Krise ganz gut eingerichtet. Sicher, nach Außen strahlt sie nicht. Aber was will sie eigentlich? Sie hat ihre Politik fast integral durchgebracht, die eben die SPÖ durchsetzt und daran fast zugrunde geht. Im Grunde könnte die ÖVP zufrieden sein. Aber das ist wohl eine zu rationale Sichtweise. Trotzdem: Was hat die ÖVP eigentlich gebissen, dass sie jetzt eine Krise vom Zaun bricht und va banque spielt?

Wir müssen vermutlich von zwei Motivationen ausgehen. In jeder solchen Partei will das Personal einmal an die Tröge. Schumpeter und nach ihm hat aus diesem trivialen Fakt sogar eine „Theorie der Demokratie“ gebastelt, und Anthony Downs hat dies arithmetisiert („Economic Theory of Democracy“).

Aber diese Erklärung ist so trivial, wie es die Parteien eben sind, welche sie beschreibt. Auf Lopatka und Kurz und Blümel, und wie sie sonst alle heißen, mag es schon zutreffen.

Aber hinter den letzten Ereignissen stecken stärkere Triebkräfte. Der Umbau des Österreichi­schen Systems und der Abbau des Sozialstaats wurden nach dem EU-Anschluss und dem Eintritt in die Eurozone zwar zielstrebig in Angriff genommen. Aber speziell nach der Finanz- und Eurokrise begann es sich zu ziehen. Alles ging langsamer vor sich, als es sich die Jungen Hyänen der Eliten und der politischen Klasse wünschten. Zwar wurden die Pensionen ständig gekürzt; das Gesundheitssystem schränkt immer mehr seine Leistungen ein; die „bedarfsori­entierte Mindestsicherung“ kürzte die alten Sozialhilfen. Doch trotzdem sinkt die sogenannte Sozialquote nicht. (Wir wollen hier beiseite lassen, was da die Bürokraten alles in die „Sozial­quote“ einrechnen.) Oder die Gewinne: Sie steigen, aber langsamer als anderswo. Das ist hauptsächlich ein Effekt der Finanzkrise und des Crash-Kurses in den Metropolen, vor allem seitens Deutschlands.

Jedenfalls: Nach der ersten großen Umverteilungswelle nach oben durch Vranitzky und den „linken“ Lacina sowie seines Nachfolgers Rudolf Edlinger überkam die Sozialdemokratie der Selbsterhaltungstrieb. Sie musste auf die verbliebene Basis Rücksicht nehmen. Sie fing also an, ein bisschen zu bremsen. Viel genützt hat es ihr nicht. Die Arbeiter sind mittlerweile weitestgehend bei der FPÖ angelangt.

Aber sie hat sich den Ärger der Eliten zugezogen.

Und das versuchen nun, die Jungen Hyänen zu nutzen.

Ob die Rechnung aufgeht, ist durchaus fraglich. Die ÖVP hat sich Kurz an den Hals geworfen, weil er hohe Popularitätswerte hat. Politik und Politik-Berater sind bekanntlich lernresistent. Hohe Sympathie-Werte hatte auch SP-Klima; hatte auch VP Zernatto (in Kärnten). Beide stanken elend ab. Das ganze erinnert an den neuesten, den Schulz-Hype.

Aber es gibt einen wichtigen Unterschied. Dieser Typ, der Kurz, ist klüger, als man es ihm auf den ersten Blick zutrauen möchte. Sicher: Als er sich vor 6 Jahren bei der Wien-Wahl engagierte, da griff man sich an den Kopf. Hat er noch alle? Aber er hat blitzartig gelernt. Er lässt sich lenken von Bürokratie und Hintergrund, wer immer dies ist. Seit er in der Bundes­regierung sitzt, hat er aus seiner Warte kaum Fehler gemacht. Und er greift konkrete Themen auf, welche den Leuten nicht unwichtig sind.

Er wird geschickt gesteuert, von wem wissen wir nicht wirklich. Die Eliten glauben, mit ihm einen Griff gemacht zu haben. Die ÖVP macht er zur „Liste Kurz“ und auch das zeigt: Er hat irgendwie die Krise der dominanten Parteien begriffen.

Zwar: Die Umfragen brauchen wir derzeit nicht ernst zu nehmen. Seit Monaten pusht ihn Fellner und sein „Österreich“. Aber die 34 % der wöchentlichen Veröffentlichung gehören in die Kategorie: „Wenn es über 50 % sein sollen, kostet es etwas mehr!“ Es gibt Institute, die arbeiten eben so. Aber auch IFES gibt der Kurz-ÖVP 28 % und damit gleich viel wie der Kern-SPÖ und mehr als der FPÖ. Letztere hat in ihrem Eifer, sich zur Regierungspartei zu stilisieren, wahrscheinlich ihre Chance schon ziemlich verspielt. Man wird sehen.

Stimmt dies aber, so gäbe es auch die Chance für eine oppositionelle Bewegung. Dass dies Düringer sein kann, glaube ich persönlich nicht. Vielleicht muss auch etwas vorher passieren, und zwar real, nicht nur fiktiv in den Umfragen.

Vor allem aber: Es ist Zeit, dass wir uns an das Körnchen Wahrheit erinnern, welches in den anarchistische Schmierereien auf Wiens Hauswänden enthalten ist: „Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten.“ Verändern wir dies ein wenig: Wenn Wahlen etwas ändern, werden sie nicht selten wirklich verboten.

Inzwischen ist es auch wieder anders. In der EU können sie nichts ändern. Sie brauchen daher gar nicht verboten werden. Allerdings irren sich die Eliten auch. Als Pinochet 1988 eine Volksabstimmung ansetzte, dachte er nicht im Traum daran, dass er sie verlieren könnte. Als David Cameron die Brexit Volksabstimmung ansetzte, war er völlig überzeugt, sie zu gewinnen.

Zumindest bei den ersten Schritten auf eine neue Zukunft müssen wir darauf setzen, mit den herkömmlichen Mitteln etwas zu verändern.

Von einer revolutionären Krise sind wir meilenweit entfernt. Aber: „diese oder jene Krise der ‚Spitzen‘, Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss erzeugt, durch den die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen hervorbricht“ (Lenin) – das kön­nen wir schon sehen. Denn eine Hegemoniekrise ist ein vielschichtiges Phänomen. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung, eine Minderheit noch, stellt die politische und parapolitische Repräsentation in Frage. Das ist entschieden mehr als das schon seit drei Jahrzehnten von gelahrten Politikwissenschaftern beobachtete „De-Alignment“ und „Re-Alignment“. Noch gelingt es den Eliten, dies auf die oberflächlich-politische Sphäre zu beschränken.

Ob Kurz auf die Nase fällt, oder aber ob sein Roulett aufgeht, was ich bezweifle, wird an der Situation in Österreich kaum was ändern. Allerdings könnte es einen Zeitverlust von mindestens ein paar Jahren bedeuten.

Albert F. Reiterer, 18. Mai 2017