LEHRSTÜCK ITALIEN: Die Eliten, die Massen und die Populisten

Die europäische Elite gerät in Sorge. Aber auch wieder nicht so übermäßig. Sie tut mehr so als ob. Sie weiß schließlich und lässt es ihre politischen Häuptlinge auch offen und als Drohung aussprechen: „Die Märkte“ werden es den Italienern schon beibringen, wie sie zu wählen haben. Und hat Oettinger nicht recht? „Meine Erwartung ist, dass die nächsten Wo­chen zeigen, dass die Märkte, dass die Staatsanleihen, dass die wirtschaftliche Entwicklung Italiens so einschneidend sein könnten, dass dies für die Wähler doch ein mögliches Signal ist, nicht Populisten von links und rechts zu wählen.“ Der Stil ist mehr als holprig. Aber: „Nichts davon ist falsch“, legt der „Spiegel“ nach, und hat in seiner Art auch recht. Und Juncker fordert von den Italienern „mehr Arbeit, Ernsthaftigkeit, weniger Korruption“. Das ist ja der Richtige, der Luxemburger, der da weniger Korruption fordert. Das war dem Herrn Tajani doch ein wenig zu heftig. Aber wer ist schon der Herr Tajani?

Was kann man nun wirklich erkennen und erwarten? Im Moment ist Matarella in der Symbolik eingeknickt. Er – d. h. seine Auftraggeber – dürften erkannt haben, dass sich die Situation bei einem folgenden Wahlkampf mit Volksabstimmungs-Charakter für die Eliten verschlimmern dürfte, wenn sie den offenen, gewaltsamen Putsch vermeiden wollen. Und so steckt er die Ohrfeige ein, welche die Bestellung des Savona zum „Europa-Minister“ für ihn bedeutet. Das sind die Spielchen in der politischen Klasse, im Umgang unter sich.

Aber bei diesem Spiel sollten wir nicht übersehen: Die Eurofreunde haben sich durchgesetzt. Wenn Giovanni Tria – Wirtschaftsminister anstelle von Savona – im Euro-Exit nur „Kosten ohne Gewinn“ sieht, dann steht er auf demselben Standpunkt wie alle neoliberalen WU-Fanatiker. Lorenzo Fioramonti, angeblich Ökonom und Abgeordneter der 5S, sagt dasselbe und positioniert sich dort, wo jeder Macronianer auch stehen könnte: „Nicht die Gemeinschafts­währung ist das Problem, sondern wie sie gehandhabt wird“ (Sonntagszeitung, 3. Juni 2018). Und wenn sich der „Spiegel“ so darüber entsetzt, dass Tria meint, eigentlich verstoße die BRD mit ihren riesigen Leistungs-Bilanz-Überschüssen ständig gegen den Stabilitätspakt, so sagt er nur das, was man in jedem seriösen mainstream-Journal auch lesen kann.

Die flat tax befürwortet er, und die Einnahmen-Ausfälle will er durch eine entsprechende Erhöhung der Mehrwert-Steuer ausgleichen. Kann es etwas noch Eindeutigeres geben? Die Mehrwertsteuer ist regressiv, belastet stärker die unteren und auch die mittleren Schichten; die oberen Mittelschichten und die Oberschichten kratzt sie nicht. Die aber werden durch die flat tax weitgehend verschont und erhalten zusätzlich durch den „Familien-Bonus“ noch dicke direkte Subventionen. Was selbst Berlusconi in dieser Offenheit nicht wagte, macht nun die sogenannte „Populisten-Regierung“.

Das Grundeinkommen ist vor allem eine Subvention für den südlichen Teil Italiens, oder, sprechen wir offen, ein Stimmeneinkauf – und zwar für die Lega, nicht etwa für M5S. Die Lega hat begonnen, sich zur gesamtitalienischen Partei auszuweiten. Aber noch erinnert man sich an ihre tatsächlich rassistischen Gehässigkeiten gegen die terrani, diese Untermenschen in Süditalien. Sie muss sich also irgendwie glaubwürdig machen. Die Gelegenheit bietet ihr nun M5S auf einem Silbertablett. Im Gegensatz zur Lega hat sie nämlich ihre Hochburgen in Unter-Italien. Es geht um die Arbeitslosen im Süden, die kaum mehr eine Hoffnung haben.

Die Arbeitslosigkeit liegt im nördlichen Teil aktuell auf dem Niveau Schwedens (z. B. Lombardei 6,4 %; Stockholm Region: 6,3 %), im mittleren auf dem Niveau der schlechter bedienten Regionen Frankreichs oder Kroatiens (z. B. Latium: 10,7 %; Nord-Pas de Calais: 12,9 %), im Süden aber auf dem Niveau Griechenlands (z. B. Sizilien: 21,5 %, Thessalien: 20,6 %). Die Indikatoren beziehen sich auf 2017.

Selbstverständlich wird dies einerseits eine Erleichterung für die Betroffenen im Süden bringen. Aber vergessen wir nicht: Aus einer linken Sicht ist ein Grundeinkommen stets eine zweifelhafte Angelegenheit. Es ginge viel mehr darum, eine entsprechende Politik des Arbeitsmarktes zu betreiben. Das Grundeinkommen wurde als neoliberales Instrument nicht zufällig vor allem von solchen Theoretikern wie Milton Friedman und seinen Gesinnungs-Genossen propagiert. Hier handelt es sich um eine Form der Notstandshilfe auf nicht beson­ders eindrucksvollem Niveau. Was dies bewirken könnte, wäre eventuell – mit Glück – einen Nachfrageschub. Es wäre also ein keynesianisches Mittel der Wirtschafts-Politik. Die Frage stellt sich, wie sehr dies aber funktioniert. Man kann nicht oft genug auf Frankreich in den 1980ern hinweisen, also zu einer Zeit, wo der EG-Binnenmarkt noch keineswegs so durchge­setzt war wie heute. Auch damals ging ein erheblicher Teil in den Import. Das aber war der Anlass zur damaligen politischen Wende in Frankreich hin zum bundesdeutschen Paradigma und zur Austerität …

Im Übrigen muss man immer wieder betonen: Öffentliche Schulden bedeuten, wenn man nicht von vorneherein davon ausgeht, dass sie nicht zurück gezahlt werden, eine Überga­be des gesellschaftlichen Ressourcen an die Gläubiger. Schulden sind eine Machtfrage. Drastisch und bildhaft ausgedrückt: 133 % des BIP als öffentliche Schuld heißt: Das gesamte Produkt des kommenden Jahres und noch ein Drittel des darauf folgenden dazu gehört den Gläubigern.

Man könnte mir nun vorwerfen: Aber hast Du Dir den Illusionen über die Populisten, Illusi­onen über die M5S gemacht? Ich reiche den Vorwurf weiter. Beim letzten Treffen In Rom Mitte Mai konnte ich nur verwundert feststellen, wie sehr unsere italienischen Genossen Hoffnungen auf die kommende Regierung als einem Bruch mit der bisherigen Politik setzen. Und damit vergessen, dass auch Links-Populisten Populisten sind: also Politiker, die viel­leicht ein Problem erkennen, aber weder gewillt noch von ihren Ausgangs-Punkten her theoretisch und praktisch in der Lage sind, eine entsprechende Politik zu führen. Dass also eine populistische Regierung eine Enttäuschung sein muss.

Warum dann das Geschrei der Eliten und ihrer Intellektuellen und Journalisten?

Sie fürchten den politischen Effekt des Ungehorsams. Wenn die Vorgaben der Oligarchie so gar nicht befolgt werden, dann könnte dies dazu führen, dass die Bevölkerung vielleicht auch in radikalerer Weise ungehorsam wird.

Es ist geradezu grotesk. Da müssen wir auf Salvini, den Rechten hinschauen, der sich nicht scheut, immer wieder auch an faschistoides Vokabular anzustreifen und sogar Minister-Posten für die Fratelli d’Italia verlangt, seine neofaschistischen Freunde. Denn hier kündigt er in einer symbolischen, reaktionären Weise den Kultur-Gehorsam auf, wie es auf der Linken offenbar niemand mehr in progressiver Weise wagt. Denn Di Maio kann gar nicht mehr umfallen; der liegt nur mehr. Der ist ja nicht einmal mehr ein Populist. Da die wenigen, die ihn vielleicht noch herausfordern könnten, offenbar aufgeben und sogar das Land verlassen („Diba“, Alessandro di Battisti wird hier genannt, den ich nicht beurteilen kann), gibt es offenbar in seiner Organisation niemand als Alternative.

Die Eliten und ihre Sprecher aber besorgen zwar in gewisser Weise unsere Anliegen, indem sie Alarm und Krisen-Stimmung aufrecht erhalten. Aber auch das ist ein zweischneidiges Schwert. In den letzten Jahrzehnten haben stets die Herrschenden den Krisen-Modus genutzt, um ihre Anliegen durchzubringen. Die Linke hat mit ihrem gebannten Warten auf die revolutionäre Krise stets übersehen, dass die Rechte und der mainstream mit der „Krise“ stets auch die Massen soweit unter Druck gesetzt haben, dass sie parierten. In diesem Sinn hat Oettinger Recht, und dass er es so offen sagt, ist vielleicht sogar ein Beweis, wie sicher sich die Herrschaften in Wirklichkeit fühlen.

Albert F. Reiterer, 3. Juni 2018