Souveränität für eine Politik von Emanzipation und De-Kommodifizierung

von Steffen Stierle, Juni 2017

Diese Rede wurde am Seminar „Reshaping sovereignty and achieving equality in Europe“ des „European Reserch Network for Social and Economic Policy“ (ERENSEP) in Barcelona gehalten.

Der Neoliberalismus war von Anfang an in der Lage, Teile seiner potenziellen Gegner für sich zu gewinnen und erreichte dadurch eine hegemoniale Stellung. In diesem Kontext ist in Europa die Aufgabe nationaler Souveränität zugunsten des supranationalen Rahmens der EU zu sehen, in dem demokratische Entscheidungen zugunsten eine Politik der De-Kommodifizierung kaum mehr möglich sind. Gleichwohl sind die Nationalstaaten weder verschwunden noch obsolet geworden. Sie sind die Ebene auf der politische Projekte des sozialen Schutzes gegen die Aggressionen des Marktes durchgesetzt werden könnten, wenn die Liaison emanzipatorischer Kräfte mit dem Neoliberalismus zugunsten einer Liaison mit den Kräften des sozialen Gesellschaftsschutzes aufgekündigt würde. Derartige Projekte müssten nationalstaatliche Souveränität zurückkämpfen um handlungsfähig zu sein. Der wichtigste Schritt wäre der Ausstieg aus der europäischen Währungsunion. Diese Zusammenhänge werden im Folgenden ausführlicher dargestellt.

Die unheilige Liaison emanzipatorischer Kräfte mit dem Neoliberalismus

Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte eine gesellschaftliche Doppelbewegung hervor: Einerseits Kommodifizierung in einem Ausmaß, das die Gesellschaft als solche existenziell bedroht. Andererseits eine Gegenbewegung, die auf sozialen Schutz vor den Aggressionen des Marktes und damit den Erhalt der Gesellschaft abzielt. Karl Polanyi hat diese Doppelbewegung herausgearbeitet und überzeugend dargestellt, dass es sich bei der Gegenbewegung um eine dezentrale und spontane Reaktion zum Selbstschutz der Gesellschaft handelt (Polanyi 1973 [1944]).

Daraus ergibt sich die Frage, was heute, im Zeitalter des globalisierten, finanzgetriebenen Kapitalismus (des Neoliberalismus) anders ist. Angesichts des pervertierten Ausmaßes an Kommodifizierung (Ausuferung der Finanzmärkte, Arbeitsmarktflexibilisierung, Privatisierung lebensnotwendiger Güter wie Wasser etc.) kommt die Gegenbewegung erstaunlich schwach daher.

Die US-amerikanische Feministin Nancy Fraser liefert einen wichtigen Beitrag zur Erklärung dieses Umstandes, wenn sie auf eine unheilige Liaison emanzipatorischer Kräfte mit dem Neoliberalismus verweist. Der Kampf gegen herrschaftliche Unterdrückung (Paternalismus, Rassismus etc.) spielt in Polanyis Doppelbewegung keine Rolle. Dieser Kampf wird mit den neuen emanzipatorischen Bewegungen politisch relevant, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bühne betreten.

Viele der von ihnen angegriffenen Herrschaftselemente sind mit Elementen des sozialen Schutzes verwoben: Paternalistische Strukturen in den Sozialstaaten der Nachkriegszeit, rassistische Ausgrenzung aus sozialen Sicherungssystemen entlang nationalstaatlicher Grenzen, Verfestigung von Klassenstrukturen im korporatistischen Wohlfahrtsstaat etc. (Esping-Andersen 1990). Fraser stellt fest, dass die Liaison mit dem Neoliberalismus erstaunliche Erfolge in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der sexuellen Freiheit, des Anti-Rassismus etc., zugleich aber ein extrem weitreichendes Zurückdrängen des sozialen Schutzes durch Kommodifizierung ermöglichte. Das sei die Basis neoliberaler Hegemonie (Fraser 2013).

In diesem Kontext sind die Kompetenzübertragungen aus den europäischen Nationalstaaten auf die EU-Ebene und der damit einhergehende Souveränitätsverzicht zu betrachten. Unter neoliberaler Hegemonie steht der Nationalstaat für Rückwärtsgewandtheit, veraltete Autoritäten und Exklusion. Die EU steht für Internationalismus, Fortschritt und Offenheit.

Zum Charakter der EU-Integration

Der oben begründete Siegeszug des Neoliberalismus beschreibt eine globale Entwicklung. Die EU-Integration seit Mitte der 1980er Jahre ist ihre europäische Dimension. Bewusst wurde ein Konstrukt geschaffen, das alle Beteiligten in der Tendenz auf neoliberale Politik festlegt. Der common market zwingt zu einer Wirtschaftspolitik der Deregulierung, die Maastricht-Regeln zu pro-zyklischer, zurückhaltender Fiskalpolitik, die EZB-Statuten zu einer preisstabilitäts- statt beschäftigungsorientierten Geldpolitik.

Entscheidend ist, dass dies nicht eine Frage parlamentarischer Mehrheiten ist. Vielmehr sind diese neoliberalen Festlegungen als Teil der EU-Verträge der demokratischen Umgestaltung entzogen. Wie der Europarechtler Dieter Grimm erklärt, haben die EU-Verträge

„die Funktion übernommen, die im nationalen Staat Verfassungen haben. Verfassungen entziehen bestimmte grundlegende Prinzipien der Mehrheitsentscheidung und bestimmen im Übrigen die Organe der politischen Einheit, ihre Kompetenzen und das Verfahren, in dem politische Entscheidungen gefällt werden. […] Die europäischen Verträge, die vom EuGH konstitutionalisiert worden sind, beschränken sich aber nicht auf solche Bestimmungen. Sie sind voll von dem, was in den Mitgliedstaaten einfaches Gesetzesrecht wäre. […] Wenn es um ihre Auslegung und Anwendung geht, sind die Vollzugs- und Gerichtsorgane der EU, also Kommission und EuGH, unter sich. Rat und Parlament sind jedoch nicht nur ausgeschlossen. Sie haben auch keine Chance, etwas zu ändern“ (Grimm 2017).

Die single currency hat zudem einen Lohn- und Steuerwettbewerb ausgelöst, der Sozialstaatlichkeit, öffentliche Daseinsvorsorge und Arbeitnehmerrechte unter zusätzlichen Druck setzt und zugleich die ökonomischen Ungleichgewichte produziert, die eine Hauptursache der Euroraum-Krise seit 2009/10 sind. Die politischen Reaktionen auf die Krise reflektieren gleichwohl den neoliberalen lock-in und folgen den Interessen der dominanten Akteure des finanzgetriebenen Kapitalismus. Die Troika-Interventionen, das quantitative easing der EZB etc. drehen sich vor allem um die Frage: Wer wird rausgehauen, wer zahlt? Gerettet werden Banken, transnationale Konzerne und Vermögende, die Zeche zahlen Arbeitnehmer, Rentner und Kleinunternehmer.[1]

Zugleich wird die Krise genutzt, um den lock-in zu härten: Fiskalpakt, Europäisches Semester, 6-Pack und 2-Pack sind Beispiele dafür. Stets geht es um die gleichen drei Elemente: Druck auf öffentliche Ausgaben, Druck auf Marktregulierungen und Etablierung von Durchgriffsrechten der EU-Technokratie auf die nationalstaatliche, parlamentarische Politik. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, wie die Vorschläge zeigen, die u.a. im Fünf-Präsidenten-Bericht[2] 2015 oder dem Reflexionspapier der EU-Kommission zur Vertiefung der Währungsunion[3] 2017 vorgelegt wurden.

Zum Charakter und den Potenzialen heutiger Nationalstaaten

Die EU-Integration bedeutet letztlich der Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität zugunsten eines abstrakten, technokratischen Institutionengefüges, das zunehmend apolitisch funktioniert und jene Maßnahmen umsetzt, die es braucht um den finanzgetriebenen Kapitalismus am Laufen zu halten und die Interessen seiner dominanten Akteure zu bedienen. Die heutigen Nationalstaaten sind einst mit ähnlicher Intention entstanden: Sie wurden regionalen, häufig recht solidarisch geprägten Gesellschaften und eher marktfremden Wirtschaftskreisläufen übergestülpt um ausbeuterische Strukturen durchzusetzen. Statt über die Angelegenheiten der Gesellschaft vor Ort zu diskutieren und gemeinsame Lösungen zu suchen, sowie sich gegenseitig zu helfen, waren nun Steuern zu zahlen und die Politik dem abstrakten, fernen Staat zu überlassen. Um die Steuern bezahlen zu können, musste für einen anonymen Markt produziert werden. Um sich auf selbigem zu behaupten musste permanente Effizienzsteigerung betrieben werden etc. Es gibt also aus marktkritischer Sicht wenig Grund, den Nationalstaat zu glorifizieren (Kropotkin 2009 [1902]).

Bis innerhalb dieser Nationalstaaten ein gewisses Maß an Bürgerrechten durchgesetzt werden und funktionierende Gesellschaftsstrukturen etabliert werden konnten, sind Jahrhunderte vergangen. Den persönlichen Rechten des 18. und den politischen Rechten des 19. Jahrhunderts folgte im 20. Jahrhundert vor allem die Durchsetzung sozialer Rechte. Während jedoch persönliche und politische Rechte gut mit dem Kapitalismus vereinbar waren, teilweise durch seine Entwicklungsphasen geradezu erforderlich wurden, fordert der Kampf um soziale Rechte ihn heraus (Marshall 1991 [1950]). Insofern ist es logisch, dass gerade ab dem späten 20. Jahrhundert erneut etwas abstrakteres, größeres, über die Gesellschaften gestülpt wird – globale Institutionen bzw. die EU.

Während es wohl erneut Jahrhunderte dauern würde, auf der neuen Überebene ein vergleichbares Maß an sozialem Schutz und Demokratie durchzusetzen, sind die Nationalstaaten heute keineswegs obsolet. 1950 zählten die Vereinten Nationen 91 Staaten auf der Welt, bis 1980 stieg ihre Zahl auf 177. Im Zeitalter der Globalisierung nahm sie nochmal zu, auf 202 im Jahr 2010. Die meisten davon sind klein. Die durchschnittliche Einwohnerzahl liegt bei 7,1 Millionen. Der Prozess zur nationalstaatlichen Organisierung ist damit nicht abgeschlossen. Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien, Schottland, Flandern, Quebec oder Kurdistan zeigen, dass viele Nationen eine eigene Staatlichkeit auch heute noch für erstrebenswert halten (Streeck 2017; Wahl 2017).

Zweifelsohne ist es richtig, dass es im Zuge der Globalisierung zu einem gewissen Steuerungsverlust der Nationalstaaten kam. Das gilt allerdings weder absolut noch für alle gleichermaßen, wie Peter Wahl erklärt:

„Die USA haben ihre Konzerne durchaus im Griff, wenn es darauf ankommt. Das gilt für Banken ebenso wie für die digitale Industrie, wie Google und Facebook, die sich anstandslos dem NSA unterwerfen müssen, wenn es von ihnen verlangt wird. […] Auch für Deutschland gäbe es noch beträchtliche Spielräume. Immerhin ist das Land die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das Argument vom Steuerungsverlust wird gern missbraucht, um zu verdecken, dass der politische Wille zur Regulierung fehlt. Auch kleinere Länder haben die Möglichkeit, durch die Bildung von Allianzen der Macht der Konzerne etwas entgegenzusetzen, wenn der politische Wille dafür vorhanden ist. […] Auch die Finanzkrise 2008 wurde mit nationalstaatlichen Mitteln bearbeitet […] weil nur der Nationalstaat über die finanziellen, juristischen und politischen Ressourcen verfügte, die Krise wenigstens so weit einzudämmen, dass das Schlimmste verhindert werden konnte“ (Wahl 2017).

Machtpotenziale emanzipatorischer Kräfte im Nationalstaat

Es ist also weitaus realistischer, auf nationalstaatlicher Ebene Kommodifizierung und Unterdrückung entgegenzutreten als zu versuchen, die EU-27 sozial, demokratisch, friedlich etc. umzugestalten. Im Nationalstaat gibt es ein gewisses Maß an demokratischen Rechten, gemeinsamer Identität und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit. Es ist kein Zufall, dass in den Krisenjahren seit 2009/10 fast alle sozial-emanzipatorischen Erfolge auf nationalstaatlicher (bspw. Verhinderung von Kürzungen bei Pensionen und Beamtengehältern durch das Verfassungsgericht in Portugal 2013) oder regionaler (bspw. Stopp von Privatisierungen im Gesundheitssektor in Madrid 2012/13) Ebene erreicht wurden.

Um dieses Potenzial nutzbar zu machen ist es entscheidend, dass emanzipatorische Kräfte die oben thematisierte Liaison mit dem Neoliberalismus aufgeben und an ihrer Stelle eine Liaison mit den Kräften rückt, die für sozialen Gesellschaftsschutz stehen. Unterdrückung und Kommodifizierung müssen gleichermaßen zurückgewiesen werden um im Sinne von Frasers Dreifachbewegung neoliberale Hegemonie zu brechen.

Andreas Nölke hat herausgearbeitet, dass es für derartige Projekte ein beachtliches Potenzial gäbe. In seinen Grundlinien einer linkspopulären Position unterteilt er die Landkarte des politischen Wettbewerbs in zwei Achsen. Die erste beschreibt das klassische Links-Rechts-Muster; die zweite differenziert zwischen kosmopolitisch und kommunitaristisch. Kosmopolitische Positionen zeichnen dadurch aus,

„dass sie nicht nur in einer globalisierten Ökonomie, einer kulturellen Liberalisierung und einer liberalen Wirtschaftsregulierung die unvermeidbare Moderne zu lokalisieren suchen, sondern auch in Formen des Regierens jenseits des Nationalstaats und einer – notfalls mit Waffengewalt erzwungenen – globalen Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten. […] Kommunitaristische Positionen heben dagegen die Bedeutung von lokaler oder nationaler Demokratie und Solidarität hervor […] um einen funktionsfähigen Sozialstaat aufrechterhalten zu können. [Sie] zeigen eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der wirtschaftlichen Globalisierung und gegenüber internationalen Institutionen, die nationale Demokratie und wirtschaftspolitische Handlungsspielräume unter Druck setzen können, wie beispielsweise TTIP oder die Europäische Union“ (Nölke 2017).

So entsteht ein Koordinatensystem mit zwei Dimensionen. Nölkes Analyse zufolge gibt es eine Repräsentationslücke im links-kommunitaristischen Quadranten. Im klassischen Links-Rechts-Schema gibt es keine Option, die sowohl gegen Unterdrückung wie auch für Gesellschaftsschutz steht: links ist untrennbar mit kosmopolitisch verbunden. Dies hat dazu geführt, dass viele Menschen aus Arbeitermilieus etc., the common man, den Polanyi ins Zentrum der Gesellschaft rückt, der Linken den Rücken kehren und entweder sich ihrer Stimme enthalten, oder, wie Didier Eribon in seiner Rückkehr Reims (2009) beeindruckend darstellt, sich Kräften wie dem Front National zuwenden.

Der links-kommunitaristische Quadrant ist jener, in dem eine Liaison zwischen Gesellschaftsschutz und Emanzipation stattfinden kann. Die relativen Erfolge neuer Akteure wie Unidos Podemos, Cinco Estelle und insbesondere France Insoumise erklären sich dadurch, dass sie sich (unterschiedlich stark) in diesem Quadranten bewegen und dadurch sowohl von rechts als auch aus dem Lager der Nichtwähler Stimmen gewinnen.

Relevanz von Souveränität und politischer Handlungsfähigkeit heute

Damit eine solche politische Strategie eine Machtperspektive bekommt, braucht es politische Handlungsspielräume auf nationalstaatlicher Ebene, mittels derer eine Politik der De-Kommodifizierung im Widerspruch zum globalen Umfeld des finanzgetriebenen Kapitalismus durchgesetzt werden kann. Das Beispiel Griechenland zeigt, dass es ohne eigene politische Handlungsfähigkeit relativ egal ist, ob Konservative, Sozialdemokraten oder Linke regieren. Die Griechen können seit dem Troika-Einmarsch wählen, was sie wollen. Am Ende kommt immer ein neues Austeritätsprogramm. Der von Varoufakis als Finanzminister initiierte und von James Galbraith u.a. ausgearbeitete Plan X zielte darauf ab, durch einen Ausstieg aus dem Euro die notwendige Souveränität zu erlangen, um das Syriza-Programm umzusetzen. Die Regierung entschied sich gegen den Plan, was es unumgänglich machte, das eigene Programm durch ein weiteres Memorandum zu ersetzen (Galbraith 2016).

Der Euro ist die straffeste Klammer der Souveränitätsbegrenzung und Festlegung auf neoliberale Politik. Wolfgang Streeck bringt das gut auf den Punkt:

„Die Ausschaltung der Abwertung als Mittel nationaler Wirtschaftspolitik bedeutet […] die Aufpropfung eines einheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells auf alle der gemeinsamen Währung unterstellten Länder; sie setzt die Möglichkeit einer raschen Konvergenz ihrer sozialen Ordnungen und Lebensweisen voraus und treibt sie voran. Zugleich wirkt sie als zusätzliche Triebkraft jener universellen Expansion von Märkten und Marktverhältnissen, die als kapitalistische Landnahme bezeichnet worden ist, indem sie im Modus dessen, was Karl Polanyi als ´geplantes Laissez-faire´ bezeichnet hat, Staaten und ihre Politik durch Märkte und ihre selbstregulierende Automatik mehr oder weniger gewaltsam zu ersetzen sucht“ (Streeck 2014).

Der Euro zwingt seine Mitglieder in einen erbarmungslosen Steuer- und Lohnwettbewerb, zwingt zu permanenter interner Abwertung und ist die Basis für das Erpressungspotenzial der EZB und die Troika-Interventionen. Er ist derzeit das wohl schärfste Schwert des europäischen Neoliberalismus. Ein Ausstieg ist daher Voraussetzung für eine Abkehr von neoliberaler Politik. Von Mélenchon´s u.a. Plan B[4] über Galbraith´ Plan X bis hin zu Vorschlägen für ein reformiertes European Monetary System[5] oder der Einführung von Parallelwährungen[6] gibt es in der linken Debatte ein breites Set an währungspolitischen Strategien und Alternativen. Sicherlich ist ein Ausstieg mit vielen Schwierigkeiten verbunden, sicherlich wäre er für Griechenland schwieriger als bspw. für Frankreich. Letztlich ist er unumgänglich. Währungssouveränität ist die erste Voraussetzung für die Umsetzung eines sozial-emanzipatorischen Projektes auf nationalstaatlicher Ebene.

Gerade für kleinere Länder wäre die Lösung der Euro-Klammer von herausragender Bedeutung, da sie am wenigsten in der Lage sind, sich innerhalb des Euroraums durchzusetzen und sie daher die größten Souveränitätsverluste zu verzeichnen haben. In der EU geht es kleinen Ländern außerhalb der Eurozone (Dänemark, Schweden) besser als drinnen (Finnland, Griechenland, Irland).

Die EU ist die nächste Schale der Zwiebel der Souveränitätsbegrenzung. Die common market Regeln und ihre einseitige Auslegung durch den EuGH, die Maastricht-Regeln etc. drücken in die gleiche Richtung, wenn auch der Rahmen nicht ganz so straff ist. So geht es kleinen europäischen Gesellschaften außerhalb der EU (Norwegen, Island, Schweiz) zumindest nicht schlechter als drinnen (Streeck 2017).

Die dritte Klammer ist das globale Institutionengefüge aus WTO und die Gesamtkomposition der so genannten Freihandelsverträge. Die WTO ist mittlerweile eine zu lose Klammer als dass es kurzfristig entscheidend zu sein scheint, sie zu überwinden. Nicht Teil von Abkommen wie CETA, TiSA, Jefta etc. zu sein, ist hingegen bedeutend für die eigenen politischen Handlungsspielräume. Da innerhalb der EU die handelspolitischen Kompetenzen weitgehend nach Brüssel übertragen wurden, ist es kaum möglich, sich diesen Verträgen (mit Ausnahme einiger Bereiche) zu entziehen, ohne die EU zu verlassen.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass eine Abkehr vom neoliberalen Pfad auf der nationalstaatlichen Ebene wesentlich realistischer als auf EU-Ebene ist, eine Rückgewinnung von Souveränität voraussetzt, gegen den EU/Euro-Rahmen erstritten werden muss und dass ein solcher Ansatz Aussicht auf breite Unterstützung hat.

Ein solcher Ansatz stünde internationaler Kooperation nicht im Wege, sondern ist im Gegenteil die Voraussetzung für ein alternatives, anti-neoliberales Integrationsprojekt, das nicht spaltet, sondern vereint. Ein solidarisches Europa kann es nur auf Basis souveräner Nationalstaaten geben. Er stünde auch der unbedingt erstrebenswerten Kompetenzrückverlagerung auf die lokale Ebene nicht im Wege, sondern ist Voraussetzung dafür. Verantwortliches Handeln und echte Demokratie lassen sich am besten realisieren, wenn die wichtigen Entscheidungen vor Ort getroffen werden und die Betroffenen möglichst direkt eingebunden sind. Das EU-Konstrukt wirkt tief in die Kommunen hinein und begrenzt die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Bürger massiv. Das gilt allerdings auch für die Nationalstaaten, was wiederum eine zentrale Ursache regionaler Unabhängigkeitsbestrebungen ist. Der Kampf um nationalstaatliche Souveränität wäre somit als erster Schritt zu sehen, dem ein Kampf um kommunale Selbstverwaltungsrechte innerhalb souveräner Nationalstaaten folgen sollte.

Literatur

· Brie, M. (2015): Polanyi neu entdecken, Hamburg.
· Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims, Berlin.
· Esping-Andersen, G. (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton.
· European Commission (2017): White Paper on the Future of Europe, Brussels.
· Fraser, N. (2013): A Triple Movement, in: New Left Review 81, London.
· Galbraith, J. (2016): Welcome to the Poisoned Chalice, Yale.
· Grimm, D. (2017): Es wäre nicht hilfreich, die EU zu parlamentarisieren, in: IPG Journal, Berlin.
· Juncker, J.-C. et. al. (2015): Completing Europes Economic and Monetary Union, Brussels.
· Kropotkin, P. (2009 [1902]): Mutual Aid, London.
· Nölke, A. (2017): Grundlinien einer linkspopulären Position, Frankfurt.
· Marshall, T. H. (1991 [1950]): Citizenship and Social Class, London.
· Polanyi, K. (1973 [1944]): The Great Transformation, Frankfurt.
· Streeck, W. (2014): Buying Time, New York.
· Streeck, W. (2017): Nicht ohne meine Nation, in: Zeit Online vom 22. April 2017.
· Wahl, P. (2017): Die Linke, der Nationalstaat und der Internationalismus, online auf eurexit.de.

[1] Für eine kritische Auseinandersetzung mit den Verteilungswirkungen des quantitative easing, siehe hier: https://www.socialeurope.eu/2017/05/ecb-boosts-inequality-can/.
[2] https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/5-presidents-report_en.pdf.
[3] http://europa.eu/rapid/attachment/IP-17-1454/de/Reflection_Paper_EMU_DE_v4.pdf.
[4] https://lexit-network.org/plan-b-summit-rome-final-statement.
[5] See e.g. https://lexit-network.org/towards-a-new-european-monetary-system-not-the-solution-to-everything-but-better-than-the-status-quo.
[6] See e.g. http://www.levyinstitute.org/pubs/wp_866.pdf.

Italien: Generalstreik des Transportwesens

Alitalia im Ausstand trotz Zwangsverpflichtung

von Wilhelm Langthaler

Heute, den 16. Juni 2017, haben die italienischen Basisgewerkschaften zu einem Generalstreik im Transportwesen aufgerufen. Im Zentrum der Mobilisierung steht Alitalia, die unter kommissarische Verwaltung der Regierung gestellt wurde.

Der auf die Belegschaft ausgeübte Druck ist enorm. Alle offiziellen Gewerkschaften stehen gegen den Streik und selbst unter den Basisgewerkschaften gibt es Rückzüge. Die Regierung hat per Dekret mehr als zweitausend Beschäftige des Standorts Fiumicino zur Arbeit gezwungen – diese reagieren nun mit Dienst nach Vorschrift.

Bisher mussten 200 Flüge von Alitalia gestrichen werden, was für einen Erfolg der Kampfmaßnahmen spricht. Allerdings setzt die Regierung auch auf Verzögerung. Sie hat viele Kündigungen und Kürzungen verschoben oder führt sie in Salamitaktik durch, um den Widerstand zu ermüden.

Die Aktionen des Bodenpersonals sollen sich auch gegen das neoliberale Flaggschiff Ryanair richten. Doch dort gibt es keinerlei gewerkschaftliche Organisierung. Alles basiert auf kleine Zulieferer, die sich auf prekär Beschäftigte stützen und jederzeit getauscht oder ersetzt werden können.

Ziel der Mobilisierung ist die weitere Privatisierung des Transportwesens zu verhindern sowie die Einschränkungen des Streikrechts zu bekämpfen.

Der Streik soll auch den städtischen Nahverkehr, die Bahnen und die Bustransporte umfassen. Wie stark der Aufruf befolgt wird, hängt wesentlich von der Kraft und Verankerung der Basisgewerkschaften zusammen. Dass er doch erhebliche Strahlkraft hat, zeigt sich daran, dass schwankende Elemente der Basisgewerkschaften sich gegen die 24-Stundenausstand zugunsten von 4 Stunden ausgesprochen haben. Das heißt, sie konnten sich nicht frontal dagegenstellen.

Die Medien berichten am Vormittag von Ausfällen in Rom, Mailand, Bologna, Neapel, jedoch nicht flächendeckend.

Website der CUB, Rückgrad des Streiks

DELEGITIMATION UND FALSCHER TROST: Elektoralismus und die Linke in Frankreich und anderswo

Weniger als die Hälfte der französischen Wähler hat am Sonntag die Stimmen abgegeben. Auf Le Monde (13. Juni) rechnet uns die Redaktion vor: Die Macron-Partei hat ganze 15,4 % Zustimmung der wahlberechtigten Bevölkerung erhalten. Die Delegitimierung der neuen Politik springt in die Augen.

Nicht alle hat es gleichermaßen schlimm erwischt. France Insoumise hat z. B. vom Zusam­menbruch der Sozialdemokratie in bescheidenem Ausmaß profitiert. Aber der Großteil der alten Sozialdemokraten ist zum neuen konservativen Held übergelaufen. Der FN bekam die Rechnung für seine Unentschiedenheit, dafür, dass er sich bereits als Regierungspartei präsentierte. Strache hier in Österreich wird dies wahrscheinlich nicht begreifen – sein Problem.

Hüten wir uns aber vor dem Schönreden dieses Ergebnisses! Es ist eine Niederlage für die Linke. Und die Delegitimierung kratzt den Herrn Macron und seine Auftraggeber aus Paris, Berlin und Brüssel nicht wirklich. Denn seit einiger Zeit setzen die Eliten nicht mehr auf Legitimität. Sie setzen auf Legalität. Und die basteln sie sich nach ihren Bedürfnissen. Besser und genauer gesagt: Sie hoffen, über die Legalität eine Legitimität vorspiegeln zu können. Deswegen drehen sie ja ständig dort an den Schrauben des Wahlrechts, wo es noch nicht eine solche Verzerrung gibt wie in Frankreich, im UK, in den USA, in Griechenland, in Italien, …

Aber diese jüngsten Wahlen haben es in sich. Und wir sollten darüber nachdenken. Wir können nicht den Beinahe-Wahlsieg des J. Corbyn begrüßen, oder seinerzeit, im Jänner 2015, den des A. Tsipras; dann aber, wenn es nicht so läuft, wie wir es uns wünschen, plötzlich skeptisch werden. Wenn wir den Elektoralismus kritisieren, wenn wir skeptisch zu diesem politischen System sind, müssen wir es auch dann sein, wenn es zufällig einmal Ergebnisse produziert, die uns vielleicht gefallen. Aber wir können uns nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch nicht den Luxus eines leichtfertigen Umgangs mit parlamentarisch-demokratischen Institutionen erlauben.

Halten wir fest: Parlamentarische Prozeduren und Wahlen wurden erfunden, als von einem allgemeinen Wahlrecht noch lange keine Rede war. Sie waren ein Instrument, mit welcher das neu aufsteigende (Groß-) Bürgertum versuchte, für seine Klasse eine Mitsprache, eine politische Partizipation zu erreichen. Es gibt nichts Aufschlussreicheres als die Verhältnisse um 1890 / 1900 herum im Habsburgerstaat: Den Großbourgeois reichten für ein Mandat 68 Stimmen; die „allgemeinen Kurie“ hatte 45.000 Stimmen aufzubringen. Und das war bereits ein Fortschritt gegenüber zwei Jahrzehnten zuvor.

Und doch fürchteten sie das allgemeine Wahlrecht wie; angeblich, der Teufel das Weih­wasser. Und doch räumten sie 1920 – 40 die parlamentarischen Regime der Reihe nach weg, mittels der diversen europäischen Faschismen. Erst nach 1945 ließen sich die Eliten kurzfristig auf das neue Experiment ein, aus Furcht vor dem Sozialismus, aus Furcht vor der Sowjetunion, die sie für sozialistisch hielten. Aber wenn nur entfernt die Möglichkeit einer gewissen Änderung durch Wahlen auftauchte, man denke an Griechenland in den 1960ern, dann wurde wieder geputscht. Auch der Putsch de Gaulles in Frankreich 1958 gehört im Grund hierher.

Erst dann realisierten sie langsam, dass es auch andere Verfahren der Immunisierung gegen demokratische Gefahren gab und gründeten die EU.

Wir stehen vor einem Paradox: Die Eliten fürchten ihre eigenen Institutionen, aber gleich­zeitig verlassen sie sich auf sie, und mit Erfolg, wie es sich zeigt.

Die klassische Linke ist in den hoch entwickelten Ländern tot, wenn wir nach ihrer Massen­basis fragen. Aber es gibt auch keine wirklich neue plebeische Kraft, geschweige denn eine revolutionäre. Die Bevölkerung ist unzufrieden. Aber gleichzeitig ist sie ängstlich. Wir haben also eine recht komplexe Situation vor uns. Der Legalismus hat tiefe Wurzeln in der Bevölkerung. Außerdem traut sie „der Politik“ schon längst nicht mehr. Noch hat sie zum Großteil nicht realisiert, dass er inzwischen vor allem zum Abbau von Partizipation und von Lebens-Chancen der unteren zwei Drittel eingesetzt wird. Wir müssen also einerseits auf diese schleichende Änderung reagieren, und das kann man auch mit der Verteidigung der alten Institutionen. Aber vor allem, und das ist der Sinn dieses Textes: Wir müssen uns in aller Klarheit bewusst sein: Es braucht andere, neue, besser einsetzbare und zielführendere politische Institutionen. Das ist unabhängig von einem augenblicklichen Erfolg oder einer Niederlage.

Über diese Frage sollten wir eine ernsthafte Debatte beginnen.

  1. Juni 2017

Petition: Alitalia gehört den Italienern

Folgende Petition richtet sich an die italienische Regierung, die Fluglinie zu verstaatlichen und damit zu retten. Bisher haben mehrere Tausend Menschen unterzeichnet:

Alitalia all’Italia

[Sinngemäss: Alitalia den Italienern oder Alitalia gehört Italien]

Das (neoliberale) Gerede hat seine Stunde null erreicht: trotz optimaler Marktbedingungen, fallender Ölpreise und den fast am niedrigsten bezahlten Facharbeitern Europas, sind alle Privatisierungsversuche von Alitalia gescheitert.

Irren ist menschlich, beharren ist teuflisch. Die Aufgabe, die die Regierung den drei Kommissaren erteilt hat, ist die Versteigerung von Alitalia, wenn nötig nachdem die Gesellschaft zerschlagen worden ist, um sie für wenige Groschen verkaufen zu können. Dies wäre eine irrationale und selbstmörderische Lösung.

Italien kann und muss eine eigene Fluggesellschaft haben und das ist nur möglich, wenn Alitalia wieder in öffentlichen Besitz kommt.

Mit viel weniger als den 20 Milliarden Euro, die letztes Jahr verwendet worden sind, um die Banken zu retten, könnte ein Plan vorbereitet werden, um Alitalia neu zu beleben und in ein solides und wettbewerbsfähiges Unternehmen zu verwandeln. Als Säule der internationalen Luftfahrt ist Alitalia strategisch viel wichtiger als eine kleine kommerzielle Bank. Das gilt umso mehr, als unser Land, als Wiege der Zivilisation, eine Hauptdestination des europäischen und internationalen Tourismus ist.

Alitalia ist nicht nur ein Symbol unseres Landes, nicht nur einfach ein gewisse Zahl an Flugzeugen; das Unternehmen ist vielmehr ein wertvolles Schwungrad für eine vorbildliche Lieferkette, ein außergewöhnliches Reservoir an Professionalität und Jobs auf höchstem Niveau, ohne die ein Land nicht erwarten kann, eine führende Rolle zu spielen.

Unser Land hat die finanziellen Ressourcen, die Kompetenzen und das Know-How, um eine gesunde und starke nationale Fluggesellschaft zu haben.

Jedes Mal, wenn die Bevölkerung aufgefordert wurde, Opfer zu bringen, ist uns gesagt worden: „Machen wir es wie die Deutschen!“ Diesmal sind wir einverstanden. Machen wir es doch wie in Deutschland, wo Lufthansa zur wichtigsten europäischen Fluggesellschaft geworden ist, auch dank des Staates, der mit einer Beteiligung von 60% gewaltige Investitionen getätigt und die Auslagerung der Wartung und anderer unterstützender Tätigkeiten abgelehnt hat.

Die ernsthaften Schwierigkeiten, in die Alitalia geraten ist, sind in erster Linie den Entscheidungen der Europäische Union geschuldet, die seit den 90 Jahren zunehmend ein Luftfahrt-Oligopol gefördert haben, wo von Anfang an vorgesehen war, dass es in Europa nur drei globale Fluggesellschaften geben soll: Air France, British Airways und eben Lufthansa.

Es ist möglich und wir müssen dieses oligopole Regime brechen, das unserem Land aufgezwungen wurde.

Wir sind die Wiedergeburt von Alitalia nicht nur ihren stolzen Arbeitern schuldig. Es ist auch ein notwendiger Schritt, um der nationalen Gemeinschaft einen strategischen Teil der von der Regierung während der letzten 30 Jahre ausverkauften Souveränität zurückzugeben.

Alitalia wieder zu verstaatlichen ist nicht zuletzt auch notwendig, um den Wildwest-Verhältnissen, die derzeit in der Luftfahrt herrschen, Grenzen zu setzen, wo Gesellschaften (nicht nur Low Cost-Linien) zunehmend die Kontrolle übernehmen, die hohe Gewinne erziehen, indem sie Arbeiter ausbeuten, und schließlich ihre Profite ins Ausland bringen.

Demokratisch-sozial-souverän-neutral

Vorschläge für eine österreichische Systemopposition

Von Wilhelm Langthaler, unter Mitarbeit von Michael Wengraf

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Neuwahlen – und wieder keine Hoffnung auf Veränderung im Sinne der Mehrheit?! Dieser unerträgliche Zustand treibt uns um und an. Wir wollen unter den Interessierten ausloten, wie man einer Opposition der Unter- und Mittelschichten, die sich in einigen europäischen Ländern bereits zu artikulieren beginnt, Wege ebnen kann.

Dafür schlagen wir vier programmatische Achsen vor. Sie sollen dazu dienen, eine wirkungsvolle Systemopposition zu entwickeln. Es handelt sich um die Begriffe: „demokratisch“, „sozial“, „souverän“ und „neutral“. Was sie politisch bedeutsam macht, ist, dass ihnen fast jeder zustimmen würde. Allerdings, das ist gleichzeitig problematisch an ihnen, sind alle vier so allgemein und so unverbindlich, dass auch die herrschenden Eliten sie für sich in Anspruch nehmen. Wobei die Kunst des Herrschens darin besteht, diese Verdrehung öffentlich plausibel zu machen. Das gelang über weite Strecken – doch nun wird die Hegemonie brüchiger. Eine wachsende Zahl an Menschen fühlt instinktiv, dass die Mächtigen das Gegenteil von dem tun, was sie postulieren.

Für uns geht es darum, diese Stimmung aufzugreifen, am Unmut anzusetzen, um ein Programm und Projekt zu entwickeln, dass zweierlei erfüllt: Es muss den Akteuren ermöglichen, sich konsequent für die Interessen der Unter- und Mittelschichten einzusetzen. Begriffe wie „demokratisch“, „sozial“, „souverän“ und „neutral“ müssen im Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie der Oligarchie Schritt für Schritt entrissen werden. Darüber hinaus muss man die Vorbereitungsarbeit für den notwendigen Bruch mit den bestehenden Verhältnissen und den Eliten leisten. An diesem Punkt kommt man ohne historisches Gedächtnis nicht aus: Die Oligarchie tritt die Macht nicht kampflos ab.

Die vier programmatischen Achsen können aber keine fertige Handlungsanleitung sein, sondern lediglich so etwas wie eine Konzeptstudie. Es ist die praktische, von den jeweiligen Akteuren getragene Tat, in deren Zusammenhang und um die herum sich ein Programm entwickelt. Ein solches müsste Schritt für Schritt im Zuge der Entfaltung eines politischen Projekts konkret ausformuliert werden. Dessen Qualität steht in Wechselwirkung zur gesellschaftlichen Kraft, die man zu versammeln vermag.

Zum Problem der Wahlen, die auch den Anlass für diesen Versuch darstellen: Gesellschaftliche Macht wird nur vordergründig durch Wahlen verteilt. Verschiebungen der Kräfteverhältnisse sind viel eher Folge von sozio-politischen Konflikten oder innergesellschaftlichen Kämpfen als von Urnengängen. Doch Wahlen sind Anzeiger. Insofern als die Mehrheit der Österreicher Politik mit den etablierten Parteien, der letztendlich gewählten Vertretung, gleichsetzt, kann eine Systemopposition nicht umhin, sich auch daran zu beteiligen. Erfolg oder Misserfolg sind dann Indikatoren für die jeweilige gesellschaftliche Akzeptanz des Projektes. Wahlen werden damit zu innergesellschaftlichen Kampffeldern, auf denen auch die Herrschenden den Stand der eigenen Hegemonie austesten. Wahlen ermöglichen es zudem in konzentrierter Form mit Menschen in politische Berührung zu kommen. Wir sind uns bewusst, dass wir die kritische Masse für einen wirklichen Wahlkampf noch nicht haben. Doch es gibt Anzeichen dafür, dass der Platz für ein solches Projekt wächst.

Im zweiten Teil dieses Papiers soll der politische Kontext erörtert werden, in dem das systemoppositionelle Projekt möglich werden kann und seine tieferen Begründungen dargelegt werden. Interessierte können sie auch als Einleitung lesen. Trotzdem sollen die vier Achsen auch für sich allein und damit vorne stehen können, als Kern eines populären Programms.

Wir schlagen zudem ein politisches Seminar vor, um gemeinsam mit allen Interessierten die Möglichkeiten auszuloten. Weitere Diskussionsbeiträge, schriftlich wie mündlich, sind willkommen.

Vier Achsen

Demokratisch

„Alle Macht geht vom Volk aus“ – so steht es in der österreichischen Verfassung genauso wie in vielen Konstitutionen anderer Länder. Und so lautet auch der überwältigende Konsens in der Bevölkerung. Somit ist die Volkssouveränität de facto in den Gesellschaftsvertrag aufgenommen worden – beides Begriffe, die auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehen. Diese Unantastbarkeit der Demokratie kann man mit Fug und Recht als eine der größten Errungenschaften der heftigen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts betrachten. Die Oligarchie getraut sich daher auch nicht die formale Demokratie direkt anzugreifen, im Gegenteil sie geriert sich gerne als deren Verteidiger und Garant.

Die Aushöhlung der Demokratie geschieht vor allem durch Einschränkung der Befugnisse demokratisch legitimierter Institutionen zugunsten der oligarchischen supranationalen EU-Bürokratie. Wo das nicht ausreicht, kommt es zum autoritären Umbau, der oftmals Elemente des Mehrheitswahlrechts und des Präsidentialismus beinhaltet, um die Macht der Oligarchie abzusichern.

Augenfällig ist die immer stärkere Abschottung der Medienapparate (der vierten Macht im Staat). Sie verbreiten hinter einer scheinbar bunten und liberalen Kulturindustrie und einem in Beliebigkeit ausufernden Pluralismus exklusiv die Sichtweisen und die Ideologien der Eliten. Oppositionelle Stimmen, die den Interessen der Oligarchie zuwiderlaufen, werden entweder ausgeblendet oder mit einem Kampagnenjournalismus bekämpft, der schon an Vernichtungsfeldzüge gemahnt. Fazit der orchestrierten Meinungsmache: Das bestehende System ist alternativlos und jeder Fluchtversuch endet „tödlich“.

Wie es bereits Gegenstand der Auseinandersetzungen im vergangenen Jahrhundert war, darf Demokratie nicht nur formal betrachtet werden. Vielmehr müssen die realen Machtverhältnisse zugunsten der Mehrheit verschoben werden, so dass letztere den entscheidenden Einfluss auf die Geschicke des Staates und der Gesellschaft ausübt. Reale Demokratie heißt nicht nur seine Stimme abgeben, sondern einiges mehr: Die Medien beeinflussen zu können, Zugang zu Erwerb, Bildung und Gesundheitsversorgung zu haben – und vor allem über Produktion und Verteilung, also über die Wirtschaft, mitzubestimmen. Demokratie muss auf die Sphäre des Sozialen ausgedehnt, zur aktiven Massendemokratie werden.

Sozial

Worin besteht der harte Kern des herrschenden Liberalismus? Vor allem wohl ganz allgemein in der Herrschaftssicherung für die Besitzenden und in der Rechtfertigung sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Verbrämt wird das durch eine kulturliberale Ideologie, die alle frei und gleich erscheinen lässt – ungeachtet der realen sozialen Möglichkeiten.

Vor allem den Bedürftigen predigt der Liberalismus Askese, um danach – Lohn für die Tüchtigen unter den Einsichtigen – irgendwann einmal in Glück und gesichertem Wohlstand zu leben. Doch was ist falsch an diesem „common sense“, dass man zuerst sparen und verzichten muss, um etwas aufzubauen und schließlich die Früchte der Entbehrung zu ernten? Der Fehler besteht darin, dass eben kein „Aufbau“ stattfindet! Tatsächlich geht es nicht darum, Investitionen auf Kosten des individuellen Konsums zu forcieren, die letztlich im Dienste des Gemeinwohls stünden, wie die Liberalen immer wieder beteuern. Darüber könnte man durchaus streiten, doch machen die Herrschenden eben genau das nicht. Im Gegenteil, die Schwäche der Investitionen ist einer der größten ökonomischen Probleme. Vielmehr geht es der Oligarchie um die Umverteilung von unten nach oben sowie um die exklusive Verfügungsgewalt über Wirtschaft und Gesellschaft.

Die zentrale Maßnahme zur Überwindung der globalen Wirtschaftskrise besteht darin, die soziale Schere endlich zu schließen. Das gilt ebenso für den Innenmaßstab der österreichischen bzw. europäischen Gesellschaft wie im globalen Rahmen für das Verhältnis zwischen sogenannten „Zentren“ und „Peripherie“. Umverteilung zugunsten der Reichen funktioniert massiv im sozialen und im geographischen Raum. Die ungerechte Verteilung der Ressourcen wirkt als Konsumbremse und mittlerweile auch als Bremse der Produktivität. Tatsache ist: Es könnte viel mehr und für alle ausreichend hergestellt werden, doch die Schieflage in der Verteilung sowie der gänzliche Ausschluss der ärmsten Schichten führen zu globaler Stagnation. Dadurch werden sozialer Niedergang und Armut noch beschleunigt. Nur China, das im Gegensatz dazu das soziale Niveau großer Teile seiner Bevölkerung gehoben hat, bewahrt die Weltwirtschaft noch vor dem Absturz. (Dass auch in China noch viel zu korrigieren ist, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden. Dadurch unterscheidet sich das Reich der Mitte aber in seiner historischen Entwicklung nicht von der des Westens.)

Dabei geht es nicht um „Gleichmacherei“. Im Gegenteil: Die Welt und die Menschen bleiben auf vielen Ebenen unterschiedlich und dies zu respektieren, ist Voraussetzung für Demokratie und Selbstbestimmung. Erst eine Gleichheit der Chancen ermöglicht aber eine wirkliche Vielfalt individueller Entwicklung. Im Gegensatz dazu ist es völlig inakzeptabel, dass eine Handvoll Menschen die Hälfte des Weltvermögens kontrolliert, während der überwiegende Teil der Erdbevölkerung von Besitz und Mitbestimmung ausgeschlossen bleibt. Diese Schieflage stellt im Übrigen den prägnantesten Ausdruck für die Negation des von Globalisierern und Freihändlern so gerne beschworenen „Leistungsprinzips“ dar. Das tausend- oder millionenfache der anderen zu besitzen, kann eben gar kein persönliches, hart erarbeitetes Verdienst sein. Es ist vielmehr Folge eines parasitären Rentiers- bzw. Aktionärsdaseins, dessen einzig wahre Leistung darin besteht, anderen zu nehmen.

Die liberale Gut-Böse-Gegenüberstellung von Markt versus Staat ist ideologischer Unfug. Ohne Staat gab, gibt und wird es keinen Markt geben – das konnte man zuletzt in der Finanzkrise beobachten. Im gleicher Weise muss der angebliche ökonomische Sachzwang der Standortkonkurrenz als von den globalen Eliten gewünscht und erzeugt entlarvt werden. Es geht nicht um mehr oder weniger Staat, sondern in wessen Interesse der Staat in die Wirtschaft eingreift. Volkssouveränität kann nur erlangt werden, wenn die Mehrheit mittels Politik und Staat Wirtschaft und Gesellschaft demokratisch gestaltet.

Souverän

Volkssouveränität bedeutet Herrschaft des Volkes. Das hat einen internen Aspekt, der darin besteht, dass die Mehrheit und nicht eine kleine Elite die Macht ausübt. Es gibt aber auch einen externen Aspekt, der in dem Prinzip nationaler Selbstbestimmung – und eben nicht von Fremdherrschaft – besteht. Universal gedacht, schließt das Prinzip der Selbstbestimmung mit ein, dass es anderen Nationen ebenfalls gewährt wird, selbst wenn sie sich neu konstituieren oder abspalten wollen. Wer selbst frei sein will, soll und darf andere nicht unterdrücken. Interner und externer Aspekt sind hier also untrennbar miteinander verknüpft.

Österreich hat in der Moderne beide Erfahrungen gemacht, selbst zu unterdrücken sowie unterdrückt zu werden. Die k.u.k.-Monarchie war ein Völkergefängnis, aber gleichzeitig von großdeutschen Bestrebungen und Expansion bedroht. In der Zwischenkriegszeit warfen sich die Herrschenden dem faschistischen Italien an den Hals, um schließlich doch vor den Nazis zu kapitulieren. Gegen den großdeutschen Nationalsozialismus verfestigte sich das Projekt der österreichischen Nation vor allem bei den Unter- und Mittelschichten.

Nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und im Gleichgewicht der Kräfte während des Kalten Krieges entstand eine internationale Ordnung, die auf zumindest nominell unabhängigen Nationalstaaten beruhte. Waren in Europa formale Demokratie und Sozialstaat Ausdruck des sozialen Kompromisses der 1970er Jahre, so hatte für die Peripherie die Bildung von souveränen Nationalstaaten eine ähnliche Funktion. Darin lag viel Entwicklungspotential – auch wenn die Möglichkeiten nur teilweise und mit sehr unterschiedlichem Erfolg ausgeschöpft wurden.

Nach der Wende 1989/91 wurde das alles beiseite geschoben – die Globalisierung nahm Fahrt auf. Die (nationalen) Verteidigungsmechanismen der Schwachen sollten zum Vorteil der Starken beseitigt werden. Die globalen Eliten, die nun keinen bedeutenden staatlichen Gegner mehr hatten, tarnten ihren Herrschaftsanspruch als „Internationalismus“. Sie entlehnen einen Begriff der Linken und stellten ihn dabei auf den Kopf. Die Nationen sollten aufgelöst werden. Sie mussten als jene Felder verschwinden, auf denen soziale Auseinandersetzungen noch in politisch halbwegs sinnvoller Weise ausgetragen werden. Ihnen wurden nicht die sozialen und demokratischen Errungenschaften der Unter- und Mittelschichten nach dem Zweiten Weltkrieg zugeordnet, sondern der Nationalismus der Zeit der großen Kriege. Doch damals bekämpften sich die Eliten bis aufs Blut, weil sie gegeneinander um die Weltherrschaft rangen. Dabei hatten sie den extremsten Nationalismus entwickelt und mobilisiert. Heute sind sie dagegen unter Führung der USA vereint. In trauter Einheit bringen sie sich gegen die peripheren Nationalstaaten in Stellung, von denen ihnen wenigstens einige noch Widerstand entgegensetzen oder sich zumindest nicht unterordnen wollen. Dafür werden die Opfer nun von den Tätern des alten Nationalismus gescholten und letztlich in die Nähe des Faschismus bzw. Nationalsozialismus gerückt. So ergeht es allen, die das profitable Freihandelsregime kritisieren – egal, ob sie das in den „Zentren“ oder an der „Peripherie“ tun. In dieser Diffamierung besteht auch die eigentliche Aufgabe des „modernen“ und herrschaftlich-institutionell betriebenen Antifaschismus.

Aber Nationen und auf ihnen beruhende Staaten sind schlicht das Organisationsprinzip von verschiedenen Gesellschaften bzw. Herrschaftsformen. Die Globalisierer wollen einen Weltmarkt, auf dem es nur isolierte Individuen als hilflose Akteure gibt („global village“) und keine (National)staaten, die das Recht des Stärkeren einschränken könnten. Die Nationen sind daher in der konkreten Situation potentiell Träger der Volkssouveränität, in ihr konstituieren und organisieren sich die unterschiedlichen Gesellschaften politisch.

Das kann auf chauvinistische, rassistische und imperialistische Art und Weise geschehen, wie wir das in der Zeit der großen Kriege gesehen haben. Aber das kann auch auf demokratische und einschließende Weise vollzogen werden, wie es im Zuge vieler nationaler Befreiungsbewegungen passierte – in aller Welt aber auch in Europa im Kampf gegen den deutschen Faschismus.

Nationen sind politische Projekte und selbst historisch bedingte Phänomene. Sie sind gestalt- und veränderbar, also nicht per se gut oder böse. Ihre Rolle hängt von der Stellung einer Nation im Weltsystem ab und natürlich wie sie in der Praxis agieren. Gegen die Globalisierung und ihre am weitesten fortgeschrittene Form, die EU, können insbesondere die randständigen Nationen eine wichtige demokratische Rolle in der Erkämpfung der Volkssouveränität spielen.

Neutral

Die österreichische „immerwährende Neutralität“ ist das Produkt einer langen und wechselvollen Geschichte. So wie sie im Staatsvertrag festgeschrieben wurde, ist sie Ausdruck des Kräftegleichgewichts zwischen den Siegermächten. Ein ausgesprochener historischer Glücksfall. Die Eliten wollten sie nicht, sondern bevorzugten die radikale Westbindung, die zur Spaltung des besiegten Deutschlands geführt hatte. Sie verachteten den scheinbar machtlosen Kleinstaat und insgeheim spukte des große Deutschland noch immer in den Gehirnen.

Doch sehr schnell fand die Neutralität in der österreichischen Bevölkerung überwältigenden Konsens. An ihrem Höhepunkt in den 1970er Jahren spielte das kleine Österreich eine herausragende weltpolitische Rolle; nicht nur zwischen Ost und West, sondern zum Beispiel auch bei der Anerkennung der Palästinenser. Diese kämpfen bis heute gegen die israelische Besatzung, die wie ein Mahnmal der kolonialen europäischen Vergangenheit in die Gegenwart hinein wirkt. Sie produziert permanent einen schrecklichen Konflikt, der seinerseits bis nach Europa zurückwirkt.

Nach der Wende versuchten die Herrschenden die Westbindung Österreichs noch enger zu gestalten und die Neutralität gänzlich zu entsorgen. Proklamiertes Ziel war die Mitgliedschaft in der Nato. Man unterstützte nicht nur politisch den Krieg gegen Jugoslawien, sondern ließ unter Missachtung der Verfassung auch Nato-Militärtransporte durch Österreich zu. Doch formal scheiterte der Beitritt in das US-geführte Militärbündnis abermals an der überwältigenden Ablehnung in der Bevölkerung.

Was indes gelang, war der EU-Beitritt, der mit vielen schönen Versprechungen versüßt wurde – unter anderem damit, dass die Neutralität nur modifiziert und nicht abgeschafft werden müsste. Wie wenig das der Realität entspricht, sieht man am Bürgerkrieg in der Ukraine, der durch das EU-Assoziationsabkommen ausgelöst wurde. Mit der Abtrennung der Ostukraine vom russischen Wirtschaftsraum wurde deren industrielle Lebensgrundlage zerstört. Die EU hat aggressive Sanktionen gegen Russland beschlossen und erhöht die Kriegsgefahr – während doch die Lehre aus der Geschichte sein sollte, gutes Einvernehmen mit Russland zu suchen. Wer Teil der EU ist, ist also Teil einer nach außen hin mitunter feindselig und aggressiv auftretenden Macht mit militärischen Ambitionen. Damit kann man nicht neutral sein. Nicht zu Unrecht vermerkte der deutsche Historiker Dieter Mertens einmal, Europa sei ein Kriegsruf.

Statt mit den USA, der EU und Deutschland Großmachtambitionen zu verfolgen, wären wir als kleiner Staat besser beraten nach guten Beziehungen zu allen Nachbarn sowie Regional- und Weltmächten zu streben. In einer Schaukelpolitik sollten die widerstreitenden Interessen ausbalanciert werden, um die größtmögliche Selbstständigkeit zu erzielen. Neutral heißt nicht gleichgültig. Wir streben eine gerechtere Weltordnung an, die auf nationale Selbstbestimmung aufbaut, auf Grundlage von wirtschaftlicher Entwicklung und möglichst umfassender demokratischer Mitbestimmung der Mehrheit der jeweiligen Völker.

Wider die Logik des kleineres Übel – für den Bruch mit der EU

Eigentlich ist die Situation in Europa und Österreich dramatisch: Schritt für Schritt übernimmt eine Oligarchie die Macht und zerstört die Grundlage des sozio-kulturellen Kompromisses, der das letzte halbe Jahrhundert zumindest bei uns geprägt hat.

Die Schere zwischen reich und arm geht seit drei Jahrzehnten immer weiter auf. Nicht nur dass eine neue Armut der Ausgeschlossenen entstanden ist, sondern auch die Schicht der working poor wächst. Immer breiter wird die Teilhabe an einem menschenwürdigen Leben eingeschränkt. Eine akzeptable Existenz ist keineswegs mehr gesichert. Selbst jene Mehrheit, die sich selbstzufrieden Mittelstand nannte und fest an den Fortschritt glaubte, rutscht tendenziell sozial ab und wird von Zukunftsängsten geplagt. Latente Unzufriedenheit schlägt in Kulturpessimismus um.

Die Sozialpartnerschaft, die im Verein mit dem proportionalen Parlamentarismus, von oben her die Teilhabe der breiten Massen am System sicherstellte, ist nur mehr der Schatten ihrer selbst. Ihre weitere Existenz verdankt sie der Funktion, die Konterreform nach unten hin zu vermitteln, während das bipolare Parteiensystem bereits massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Die Aushöhlung der Sozialpartnerschaft als Herrschaftsmodell ist ein Synonym für die Demontage der wenigstens geringfügigen Teilhabe breiter Schichten am gesellschaftlichen Reichtum. Sie bedeutet umgekehrt aber auch die abnehmende Wirkung des Konsumismus als Mittel der Sozialdisziplinierung (Herbart Marcuse).

Längst ist die Macht von einer schmalen Elite aus Industrie, Banken, staatlicher Bürokratie und Medien übernommen worden. Nicht, dass sie zuvor nicht auch bestimmend gewesen wären. Doch sie waren zumindest gezwungen, substanzielle Zugeständnisse zu gewähren, Kompromisse einzugehen, ihre Macht wurde durch die Mehrheit des Volkes beschränkt.

Die ungezügelte „Diktatur des Kapitals“ (Hannes Hofbauer) ist wiederhergestellt. Was die Verteilung anlangt, befinden wir uns bereits bei einem Ausmaß der Ungleichheit wie vor dem Ersten Weltkrieg. Doch politisch ist die Situation eine völlig andere als jene des Klassenkampfes der Zwischenkriegszeit als Reaktion auf die Diktatur. Denn ungezügelt heißt nicht ungeschminkt. Tarnen und Täuschen kann einen großen Vorteil verschaffen. Zudem wirkt die Kraft der Enttäuschung von vergangenen sozialen Experimenten schwer. Das Scheitern des Sozialismus sowjetischer Prägung kann aber nicht ein Scheitern von jeglicher gerechter Gestaltung von Gesellschaft – wie vielfach suggeriert wird – bedeuten.

Der alte Konservativismus der Rechten mit Rasse, Stand und Religion spielt nur mehr eine Nebenrolle. Vielmehr wurden von den Eliten die Werte der Linken adoptiert, transformiert und dabei auf den Kopf gestellt. Heute herrschen verschiedene Spielarten des Liberalismus, der für sich als politisch korrekt kanonisierte westliche Werte wie individuelle Menschenrechte, Frauenrechte und formale Gleichbehandlung für Minderheiten unterschiedlicher Art in Anspruch nimmt – unter Abtrennung von ihrem sozialen Kontext. In der Zivilgesellschaft werden diese abstrakten Werte kanonisiert und mit ihr wird auch eine wirkmächtige Bastion gegen Angriffe auf das herrschende System unterhalten: Alles in allem eine Vergewaltigung der Aufklärung, deren Erbschaft der Liberalismus exklusiv an sich zu reißen versucht.

Der Schlüssel zum Begreifen der Lage ist aber die Globalisierung – sowohl in ihrer sozio-ökonomischen als auch in ihrer politisch-militärischen sowie ihrer ideologisch-kulturellen Dimension. Was in Österreich passiert, ist nur Teil des umfassenden Programms, an das wir als EU-Mitglied gebunden sind:

Da wird ein rücksichtsloses globales Freihandelsregime durchgesetzt, dass alle Grenzen und Hindernisse für die Eliten niederreißt. Jeder Schutz für die Schwachen, sei es nun innerhalb einzelner Gesellschaften oder zwischen den Staaten, muss verschwinden. Er wird unter dem Stich- bzw. Schmähwort Protektionismus geächtet. Auf der Jagd nach Profit strömt das Kapital dorthin, wo die Produktionsbedingungen günstiger sind und die Kosten, einschließlich der Löhne, am geringsten. Genauso stört „übertriebener“ Umweltschutz. Die globale Standortkonkurrenz treibt eine scheinbar unaufhaltsame Spirale nach unten, die alle Errungenschaften des letzten Jahrhunderts in Trümmer schlägt. Dass ein solches System politisch-militärisch gegen jeden Widerstand abgesichert werden muss, liegt auf der Hand und konnte nicht nur beim Überfall auf den Irak beobachtet werden. Dazu dient die globale US-Armee, die immer darauf achtet, dass niemand ihre Überlegenheit in Frage stellt, sowie ihre diversen Bündnissysteme allen voran die Nato. Deshalb auch die offene Feindseligkeit gegenüber Russland und seiner bewaffneten Macht. Legitimiert wird die Machtausübung wiederum mittels vermeintlicher Verteidigung der Menschenrechte und der Rede von humanitärer Hilfe, der „responsability to protect“, die aus dem linksliberalen Wertekanon schöpft.

Der Staat wurde zum Feind erklärt – insofern er Ausdruck des sozialen Kompromisses war und damit auch die Funktion des Schutzes für die Mehrheit ausübte. Nun erklärt man die Irrationalitäten des Marktes zum Allheilmittel. Als es aber darum ging den Finanzcrash abzuwenden, war es für die Eliten selbstverständlich mit staatlichen Geschenken von 10-20% des Sozialprodukts gerettet zu werden. So verkommt der Staat zum Selbstbedienungsladen der Eliten und vom Instrument der Dämpfung der sozialen Gegensätze zu deren Verstärker.

Institutionell drückt sich die Globalisierung in immer stärkeren supranationalen Organisationen aus. Der IWF und die Weltbank haben da eine lange Geschichte vorzuweisen. Zumindest seit den 1980er Jahren treiben sie als Exekutoren des „Washington Consensus“ die halbe Welt mit Notkrediten in die Armut. Was die WTO an „Handelshemmnissen“ nicht aufbrechen konnte, sollen nun Handelsschiedsgerichte erledigen. Es geht um „Investitionssicherheit“, die über dem Willen des Volkes stehen muss. So wollen beispielsweise die Atomkonzerne, die jahrzehntelang staatlich bezuschusst wurden, nun für den deutschen Atomausstieg nochmals die Hand aufhalten. Und nicht zu vergessen: Die internationale Justiz spricht direkt gegenüber dem Individuum Weltrecht, unter Umgehung des Völkerrechts und bisweilen sogar wider dieses. Dort haben die schwächeren Staaten nichts mehr zu melden. Es herrscht das Recht des Stärkeren, jenes der globalen Eliten nämlich, die im Hintergrund die USA und ihre Verbündeten wissen. Nicht ohne Grund müssen sich nicht Bush und Blair vor dem Weltgericht verantworten, sondern vor allem diverse Afrikaner.

Der mit Abstand größte und mächtigste supranationale Parastaat ist die Europäische Union, die hiesige Form der Globalisierung. Im Kalten Krieg entstanden, wandelte sie sich ebenfalls in den 1980er Jahren zum Motor der neoliberalen Konterreform. Die politische Macht wurde den nationalen repräsentativen Systemen, die zumindest formal der Volkssouveränität unterworfen waren, sukzessive entzogen. Das geschah zugunsten einer nicht gewählten Bürokratie, die einzig den herrschenden Oligarchien rechenschaftspflichtig ist. Der Lobbyismus ist ein Ausdruck dieses Faktums, das Europäische Parlament fungiert als Feigenblatt.

Die Einheitswährung Euro ist Krönung und Radikalisierung dieses Eliten-Regimes, das nun zu Gunsten des stärksten Staates, nämlich Deutschland, wirkt. Wie der IWF zwingen die supranationalen Institutionen den südlichen Ländern Verarmungs- und Schrumpf-Programme auf. Dadurch werden sie in einer Dauerkrise gehalten und deindustrialisiert, während die deutsche Exportmaschine mit einer unterbewerteten Währung von einem Erfolg zum nächsten eilt. Dass dabei auch immer weniger an die Beschäftigten in Deutschland abfällt, ist evident. Die extremen Leistungsbilanzüberschüsse, die stagnierenden Löhne, die sinkende Lohnquote legen davon Zeugnis ab. Die EU und der Euro dienen einzig der Durchsetzung der Macht der Starken, während die Schwachen auf der Strecke bleiben. Das soziale Europa bleibt eine Chimäre. Im Gegenteil: Die soziale Konterreform ist die Quintessenz der EU-Verträge, vom Binnenmarkt, über Maastricht bis Lissabon. Die sich unter unseren Augen abspielende griechische Katastrophe muss als tragischer Beleg dafür gewertet werden.

Bemerkenswert ist, dass die Eliten nur ausnahmsweise und exemplarisch für ihr ultraliberales Programm Gewalt anwenden mussten – nämlich in Jugoslawien. Überwiegend ergaben sich die Länder der östlichen und südlichen Peripherie freiwillig, also mit großen Mehrheiten, in das System. In Griechenland ist bis heute eine Mehrheit für den Verbleib in EU und Euroraum. Die Erzählung von Demokratie, sozialem Ausgleich und Zugehörigkeit zum Zentrum wurden geglaubt. Hinzu kam der Narrativ vom Friedensprojekt EU. Auch wenn heute die sozioökonomischen Hoffnungen verflogen sind, so halten bedeutende Teile der Mittelschichten an der EU als Garanten des (links)liberalen Wertesatzes fest – ungeachtet der Tatsache, dass die sich verschärfende Ungleichheit innerhalb und zwischen den Staaten zum Treibhaus für heftige Konflikte auch nationalen Charakters zu werden droht. In der Ukraine wuchsen sie sich unter starker Beteiligung der EU bereits zum Bürgerkrieg aus.

Doch ein Jahrzehnt Wirtschaftskrise haben die Verhältnisse in Bewegung gebracht. Die Unter- und Mittelschichten wollen die liberalen Verheißungen immer weniger glauben und wenden sich politisch ab – an der Peripherie mehr, im Zentrum weniger. Indizien dafür sind: Das griechische Referendums-Nein; der Brexit; die Opposition der Visegrad-Staaten; die italienische Ablehnung der autoritären Verfassung; der Aufstieg von Podemos in Spanien; die zögernde Haltung der von der Linken geduldeten portugiesischen Minderheitsregierung; der Zerfall des französischen Parteiensystems und der Achtungserfolg Mélenchons, aber auch der wachsende Zuspruch für Corbyn in England usw.

Dieser Einbuße an Hegemonie der Eliten entspricht gegenwärtig kein konsistentes politisches Gegenprogramm. Die Krise des Systems offenbart sich vor allem auf kulturell-identitärer Ebene. Das liberale Einheitsdenken des „extremen Zentrums“ (Tariq Ali) wird brüchig. Einerseits wird es zunehmend als Diktat verstanden. Andererseits gibt es Adaptierungsversuche, die zentrifugal wirken: Es wird an ihm angeknüpft, teilweise transformiert, bisweilen sogar radikalisiert.

Die Einheit, die harmonisierend wirkende Identität, wird nun auf andere Weise mittels aggressivem Othering (Veranderung) konstruiert: Die „marktkonforme Demokratie“ (Angela Merkel) proklamiert „keine Toleranz gegen Intoleranz“ zu üben. Im 20. Jahrhundert wirkte noch das linke gesellschaftliche Projekt einer gleicheren Verteilung identitätsstiftend, obschon seine rechte Abwehr im Dienste der Eliten den Feind nach außen zu verlegen suchte (jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, der barbarische Russe). Heute rücken Links und Rechts zusammen, um die neue Identität gegen „das Andere“ aufzubauen. Alte Schablonen werden modifiziert: Die Aufgeklärten, die Geläuterten, die Toleranten, die Gebildeten müssten sich mit allen Mitteln gegen die Aggression der „islamischen Barbaren“ (Stereotyp aus den Türkenkriegen) von außen und der „Populisten“ von innen zur Wehr setzen. Wer zu dumm ist, um zu verstehen, dass sich die Eliten zum Wohle aller die Taschen vollstopfen (neoliberales Freihandelsregime), der soll ausgeschlossen werden. Nachdem die offene Infragestellung der Demokratie durch die liberale Eigendefinition nicht möglich ist, eignet sich die institutionelle Verschiebung von Machtbefugnissen auf supranationale Institutionen für diese Operation am besten.

Wir müssen uns mit dem größten Stolperstein für ein systemoppositionelles Projekt auseinandersetzen, den identitären Konsequenzen der Migration. Denn das mächtige Feindbild der Anderen hält von der Mobilisierung gegen die Oligarchie und ihr System ab. Es wirkt als Spaltpilz nach der Methode Teile-und-Herrsche. So passen die „islamische Barbaren“ und die „Populisten“ nicht zusammen – und wollen es selbst gar nicht. Es sind gerade diese an die historische Rechte anknüpfenden sogenannten Populisten, die die Externalisierung des Feindes am meisten betreiben, damit von der Verantwortung der Eliten für die Globalisierung ablenken und diese de facto entschuldigen.

Die massiven Migrationsströme sind Folge der liberalen Globalisierung. Peripherisierung und extreme Armut verwüsten Teile des Planeten, ganz abgesehen vom Klimawandel, der Folge des industriellen Raubbaus der Eliten des 20. Jahrhunderts ist. Nicht nur Krieg, der in Folge des Kolonialismus (Frühform der Globalisierung), nie ohne westliche Verstrickung stattfindet wie in Nahost oder Afghanistan, machen die Existenz in vielen Regionen und Ländern unmöglich. Auch die von der EU zahlreichen afrikanischen Staaten aufgezwungene Freihandelsverträge EPA tragen das ihre dazu bei. Dabei sind die Migrationsströme in die globalen Zentren noch verhältnismäßig gering, wenn man sie mit den dutzenden Millionen pro Jahr vergleicht, die zwischen den armen Staaten wandern. Nachdem der Aufstand der „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) mit aller Brutalität militärisch, politisch und wirtschaftlich vom Westen niedergewalzt wurde, darf sich niemand wundern, wenn die Verzweifelten als Flüchtlinge vor unserer Tür stehen.

Die globale Oligarchie hat mit der Massenmigration kein Problem, zumindest nicht unmittelbar ökonomisch, sondern nur vermittelt politisch. Das radikale Freihandelsregime fordert nicht nur die unbehinderte Bewegung der Produktionsfaktoren Waren, Kapital und Arbeitskraft, sondern will sie sogar fördern – der „Produktivitätssteigerung“ wegen. Lange war die Auslagerung an billigere Standorte das Zauberwort. Noch besser aber, wenn die Dritte Welt zu uns kommt mit deren Konkurrenzwirkung die sozialen Errungenschaften unter permanenten Druck gesetzt werden können: Wenn man mit „privilegierten“ nationalen Arbeitskräften konfrontiert ist, muss man eben „globale“ importieren, die keine „Privilegien“ mehr haben. Auch das gehört zur Globalisierung.

Die Rechtspopulisten vertauschen Ursache mit Wirkung. Sie postulieren: Nicht das System der Globalisierung ist das Problem, sondern der „Andere“, der Immigrant, bevorzugt markiert durch den islamischen Glauben, wird als Feind proklamiert. „Take back control“ kann gegen die Eliten gerichtet werden, aber auch gegen Migranten, die als Repräsentanten des Verlusts an Mitsprache und Identität dienen. Beispielhaft ist das politische Spiel mit den Kosten für die Versorgung der Migranten, die den Kürzungen der sozialen Transfers gegenübergestellt werden, als wäre die Flüchtlingshilfe dafür kausal verantwortlich. So kann sich die Rechte als Systemopposition inszenieren, die für die Interessen des „kleinen Mannes“ eintritt. Tatsächlich ist sie zu keinem Bruch mit den Eliten bereit – keine konsequente Ablehnung von Euro und EU, die die soziale Konterreform zur Verfassung macht. Stattdessen ruft sie nach Polizeistaat und autoritärem Umbau, was letztlich Wasser auf die Mühlen der Oligarchie bedeutet.

Der Rechtspopulismus ist aber noch in einem mehr vermittelten, umfassenden Sinn der Oligarchie zweckdienlich. Diese malt gerne die Gefahr eines neuen Faschismus an die Wand. Dagegen bedürfe es eines republikanischen Schulterschlusses. Ein gutes Beispiel dafür bot vor kurzem Frankreich: Gegen Le Pen müssten alle Demokraten Macron wählen. Wer das verweigere, verhelfe den neuen Nazis zur Macht. Mit Hilfe dieses Mechanismus konnten die in Bedrängnis geratenen Eliten bisher immer noch ihren Kopf aus der Schlinge ziehen. Mit einem Medienfeuerwerk wurde der neoliberale Macron als Retter in letzter Not inszeniert, selbst wenn das traditionelle Parteiensystem im Zuge der Operation in die Brüche ging. Auch in Österreich spielte Van der Bellen dieses Spiel und sicherte dabei das alte Regime.

Gewiss gibt es Elemente der Kontinuität zwischen Faschismus und jener Rechten, die sich nun von den herrschenden Eliten abgesetzt und eine plebejische Basis geschaffen hat. Doch gibt es keinen zur Revolte bereiten Massenanhang. Es ist auch keine Unterstützung durch eine Elite in Sicht, die der extremen Rechten die Macht ausliefere, weil sie sonst Gefahr liefe mittels einer sozialen Revolution hinweggefegt zu werden. Man darf nicht vergessen, dass der Faschismus vor allem eine Reaktion auf die Oktoberrevolution 1917 und den Aufstieg sozialistischer Kräfte darstellte, die er niederschlagen sollte und es schließlich auch tat. Viele mögen die Aufblähung der populistischen Rechten aus moralischer Empörung betreiben. Aber – abgesehen davon, dass dies einer eklatanten Verharmlosung des Faschismus gleichkommt – haben solche Manöver den Zweck, das liberale Regime zu legitimieren oder zumindest als kleineres Übel zu positionieren.

Aus dieser Falle muss man sich schnellsten befreien. Nicht nur, weil das liberale Zentrum zu wählen, letztlich die populistische Rechte stärkt (Didier Eribon), sondern weil der wirkliche Feind das allumfassende liberale Regime ist. Eine radikale soziale und demokratische Opposition kann letztlich nur gegen das liberale Regime errichtet werden, dem große Teile des Volkes endlich und richtigerweise nicht mehr trauen. Nicht nur die französischen Präsidentenwahlen haben sehr klar gezeigt, dass die populistische Rechte nicht hegemoniefähig ist. Zu stark sind die demokratischen Traditionen im Volk. Im Gegensatz zum Rechtspopulismus ist eine demokratisch-soziale Kraft, so sie sich entscheiden gegen die Oligarchie wendet, in Perspektive durchaus im Stande, Mehrheiten zu erobern.

Was ist nun der Kern der Krise der Großen Koalition in Österreich? Seit drei Jahrzehnten setzt sie die neoliberale Konterreform um. Die ÖVP prescht vor, die SPÖ japst nach – denn mittels der scheinbar linken Position des Ausschlusses der FPÖ kettet sie sich fest an die ÖVP. Beide verlieren durch diese in Österreich quasi institutionalisierte Politik an Zustimmung. Um ihre Klientel zu beruhigen, bremsen die Sozialdemokraten ab und an. Und sogleich schreit die Medienmaschine: Reformstau und Stillstand. Den Erwartungen auch symbolisch Rechnung tragend, haben sozialdemokratische Spin-Doktoren einen Managertypen ins Rennen geschickt – Kern. Die ÖVP schlägt mit krawattelosen Slim-Fit-Anzügen zurück, die liberalistische und atlantizistische Gangart verschärfend. Anders als Schüssel seinerzeit hat Kurz verstanden, dass der die ÖVP prägende konservative Katholizismus zur Subkultur einer Minderheit abgestiegen und mit ihm kein Staat mehr zu machen ist. Dabei ist sein erstes Opfer die christliche Caritas (Nächstenliebe). Mit antimuslimischen Chauvinismus will er Teile des Mittelstands zurückgewinnen – denn darin treffen einander Konservative und Liberale nur allzu oft.

Als einzige vermeintliche Opposition konnte bisher vor allem die FPÖ profitieren, die vom rechten Deutschnationalismus kommend „Ausländer raus“ mit sozialen Elementen anreicherte. Damit konnte sie um den historischen Eliten- und Mittelstandskern an Wählern auch einen wichtigen plebejischen Anhang sammeln. Die einzige Unterbrechung dieses Höhenfluges bezeichnete die Phase der schwarz-blauen Koalition, durch die sie mehr als halbiert wurde. Der Grund: Die FPÖ-Wählerschaft erwartet sich, wenn auch auf diffuse Weise, eine Umkehrung des sozialen Niedergangs, die die Freiheitlichen nicht zu bieten vermochten.

Wer Rot-Grün wählt, unterstützt nicht das vermeintliche kleinere Übel, sondern treibt den Mechanismus an, der an der Wurzel des Aufstiegs der FPÖ liegt. Eine echte Opposition muss Nein sagen können zur neoliberalen Politik der Oligarchie mit allen notwendigen Konsequenzen: Und zwar sowohl gegen die offenen Regime-Parteien zu stehen (VP, SP, Grüne, Neos) also auch gegen diejenigen, die den Unmut zurück ins System lenken (FP). Und sie muss für den Bruch mit der EU kämpfen, der institutionellen Konkretisierung der Globalisierung.

DIE SIEGER DER GESCHICHTE. Auch ein Nachruf auf einen Helden Brüssels

Im Wahlkampf für den Nationalrat 1970 spielte ein Plakat mit dem Bild des Bundeskanzlers Klaus eine Rolle. Darauf stand: „Ein echter Österreicher!“ Und alle wusste, was gemeint war. Der Klaus ist kein polnischer Jude, wie der andere da, dieser Kreisky. Der Erfinder dieses Plakats war Alois Mock. Es heißt, Kreisky sei zeit seines Lebens diesem Herrn Mock doch etwas reserviert begegnet.

Die Medien, die sonst überall Antisemitismus wittern wie die Trüffelschweine ihre Schwammerl, erwähnen in ihren Nachrufen diese so kennzeichnende Aktion ihres Helden nicht.

Mock war nicht aufzuhalten. Als Kurzzeit-Unterrichtsminister war er eher peinlich und unbedarft. Er musste danach jahrelang warten. Schließlich wurde er langjähriger ÖVP-Partei-Obmann. Nach den Wahlen von 1986 jedoch wurde er Vizekanzler und, vor allem, Außen­minister. Als solcher zog er den EG-Anschluss mit aller Zähigkeit und allem Fanatismus durch. Bei den Verhandlungen war er wegen Parkinson ernsthaft gehandicapt. Die österrei­chische Bundesregierung ließ ihn gewähren. Leute aus der technischen Ebene haben später kopfschüttelnd erzählt, wie er eine Position nach der anderen, die ihnen wichtig waren, preisgab. Dabei saß die Vertrauensfrau des SP-Kanzlers Vranitzky – jene Brigitte Ederer, die durch den „Ederer-Tausender“ unsterblich wurde. Sie nickte dies Alles ab. Später schrieben sogar konservative Zeitungen, etwa die NZZ: Österreich hat sich in den Verhandlungen reich gerechnet, weil die Verhandler nicht in der Lage waren, zwischen Kursen und KKP (Kauf­kraftparitäten: die österreichische Währung, der Schilling, stand außen im Vergleich zum inneren Wert viel höher) zu unterscheiden. Und jetzt zahlt es dafür die überhöhten Beiträge.

Das war die Hauptleistung des A. Mock. Es war eine Leistung, ganz objektiv beurteilt. Das hat Österreich wesentlich stärker umgemodelt als die ganze Ära Kreisky.

Man muss auf diese Zeit zurück schauen und vielleicht auch noch das eine oder andere Dokument dazu lesen. Man kommt tatsächlich aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Nach der Wahl 1986 wollte Mock, trotz Niederlage, unbedingt Kanzler werden. Zuerst versuchte er, mit der nunmehrigen Haider-FPÖ ins Geschäft zu kommen. Aber seine Partei ging nicht mit. Die hatten längst begriffen: Mit Vranitzky als Bundeskanzler war dies politisch ein viel besseres Geschäft. Aus ihm war viel mehr heraus zu holen. So ließen sie den schönen Franz Bundeskanzler sein. Er machte ja doch ihre Politik, und zudem hielt er die SP ruhig; vielmehr: er drehte sie um, vor allem bezüglich EG.

Nochmals die Dokumente. Im Arbeitsübereinkommen zum Abschluss der Koalitions-Verhandlungen (16. Jänner 1987) gibt es keinen Abschnitt „Außenpolitik“. Dafür heißt das zentrale und bei weitem umfangreichste Kapitel „Budget“. Die „Sanierung“ muss über Leistungskürzungen, „ausgabenseitig“ erfolgen. Gleichzeitig, trotz Defizit, wird aber eine „merkbare Absenkung des [ESt-] Tarifs“ vereinbart. Um die KöSt eiert man herum: Man wird sie einige Zeit später um die Hälfte senken, die Konzerne also großzügig beschenken.

Erst in der Regierungs-Erklärung (28. Jänner 1987) taucht die Außenpolitik auch auf. Bezüglich der EG hält man fest, dass man die „Teilnahme an der Weiterentwicklung des europäischen Integrations-Prozesses“ anstrebe. Von einem Anschluss ist noch nicht offen die Rede. Noch bestand die Sowjetunion, und noch glaubte man, zur Zurückhaltung verpflichtet zu sein. Man hat bisweilen auch den Eindruck, mit der Fixierung auf das Budget und den Leistungsabbau wäre das eigentliche Hauptziel schon festgeschrieben.

  1. Mock aber bohrte weiter und hatte Erfolg. Ziemlich kurze Zeit später schickte die Bundesregierung den „Brief nach Brüssel“ ab: das Anschluss-Gesuch.

Als Partei-Obmann war Mock der ÖVP nicht erfolgreich genug. Sie ersetzte ihn durch einen Clone, diesen bald auch wieder, usf.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Guido Schmidt, Außenminister in der Anschlussregierung von 1938, wegen Hochverrates vor Gericht gestellt. Seyss-Inquart, der Anschluss-Kanzler, wurde in Nürnberg gehängt. Ist der Hinweis auf das Verhalte der beiden wirklich so weit hergeholt?

Alois Mock wird ein Staatsbegräbnis bekommen. Franz Vranitzky lebt noch bequem, und wie man vernimmt in guter Gesundheit und ruht sich auf seinen Lorbeeren aus.

Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Noch sind die Gefolgsleute und Marionetten des Finanzkapitals und der EU ganz klar die Sieger.

Wie lange noch?

Albert F. Reiterer, 1. Juni 2017

Nach den Landtagswahlen in NRW

Eine etwas andere Wahlauswertung oder was ist eine siegreiche Niederlage?

von Thomas Zmrzly, Duisburg

1. Allgemeine Stimmung vor den einzelnen Landtagswahlen war und ist, dass in verschiedensten Umfragen zwischen 60 – 80% der Befragten mit ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation zufrieden oder sehr zufrieden sind. Im Gegensatz dazu haben bis zu 80% der Wählerinnen und Wähler in Frankreich vor den Präsidentschaftswahlen geäußert mit ihrer Situation unzufrieden zu sein. Hier wird deutlich wie sonst nirgends, dass Deutschland Gewinner der Krise und des €uro-Regimes ist, während selbst Frankreichs Ökonomie darunter grundsätzlich leidet. Obwohl es einigen Wechsel der Wählerinnen und Wähler aus dem Nichtwählerlager und zwischen den Parteien gegeben hat, ist dies nicht einfach in Stimmen für die Linke umzusetzen. Der Wechsel hat allein überwiegend im bürgerlichen Lager statt gefunden. Zwischen rotgrün und schwarz-gelb. Erstaunlich ist, dass fast keine Stimmen von der Linken zur AfD gewandert sind.

2. Trotzdem ist die Armut bzw. relative Armut in NRW und hier im speziellen im Ruhrgebiet nirgendwo so groß und konzentriert im Westen der Republik. Beispielhaft sei angeführt , das jedes vierte Kind von Sozialtransfer abhängig ist, in NRW die größten Schulklassen, die Studierenden mit den wenigsten Lehrpersonal auskommen müssen etc.. Die meisten Städte des Ruhrgebiets sind solche mit abnehmender Wohnbevölkerung. Neben den Hartz – IV Betroffenen, den Niedriglöhnern und den prekär Beschäftigten gibt es in den Ruhrgebietsstädten eine räumliche Trennung zwischen abgehängten Stadtteilen und denen der Mittel – und Oberschicht.

3. Landtagswahlen sind generell schwieriges Terrain für Linke. Es ist generell leichter auf städtischer bzw. kommunaler Ebene und auf Bundesebene Wahlen zu organisieren. Wenn nicht wirklich landesspezifische Themen in der Luft liegen, was bei den meisten Wahlen nicht der Fall ist, dann kann eine grundsätzlich antagonistische Kraft sich nicht wirklich profilieren und geht im nicht themenbezogenen Wahlkampf unter. Oft reduziert sich dieser dann noch medial auf Regierung und größte „Oppositionskraft“, also einen „Wechsel“ im bürgerlichen Lager.

4. NRW ist das mit Abstand größte Bundesland. Fast ein Viertel aller Menschen Deutschlands leben in NRW. Um ein Vorstellung davon zu entwickeln wie groß und gleichzeitig wie politisch schwierig die Organisation einer Wahl ist sei nur folgendes angemerkt: Österreich hat 6.5 Millionen Wahlberechtigte, Belgien 8 Millionen, und selbst die Niederlande hat mit 12,9 Millionen weniger als NRW, das knapp mehr als 13 Millionen Wahlberechtigte hat. Obwohl allein 10 Millionen Menschen in der Metropolenregion Rhein -Ruhr leben ist der Anteil der ländlichen Bevölkerung nicht unerheblich, und hat letztlich entscheidend dazu bei getragen, dass die Linke aufgrund von fehlenden 8500 Stimmen nicht in den Landtag eingezogen ist.

5. Die LINKE NRW konnte ihr Ergebnis verdoppeln von ca. 200 000 Stimmen in 2012 auf 415 000 (2,6% auf 4.9%). Dies gelang vor allem in den Städten und weniger auf dem Lande. Die Schwerpunktsetzung des linken Landesverbandes auf soziale Themen haben diesen Erfolg erst ermöglicht, ein weitgehend auf Eigenständigkeit setzender Wahlkampf wie auch der Einsatz der bekanntesten Linken Sahra Wagenknecht auf Kundgebungen, wie auch als Cover der zentralen Wahlzeitung. „Bildung, Erziehung, Pflege, öffentliche Verwaltung – überall gibt es großen Personalmangel. Wir wollen dafür streiten, dass mehr tarifgebundene Arbeitsplätze geschaffen werden, dass es ein Investitionsprogramm für NRW gibt, der öffentliche Personennahverkehr ausgebaut und für die Menschen günstiger wird, dass die öffentliche Hand 100 000 Wohnungen baut, in denen Mieten bezahlbar sind und dass es Gebührenfreiheit in der Bildung gibt.“ (Repräsentatives Interview mit Özlem Demirel) Darüber hinaus wurde ein Mindestlohn von 12€ gefordert und auch flächendeckend plakatiert. Die Unterscheidungsmerkmale zu allen bürgerlichen wie auch zur rechtspopulistischen AfD waren gut sichtbar. Die Linke konnte jeweils 60000 Stimmen von ehemaligen Grün und SPD-Wählern gewinnen und 40000 aus dem Nichtwählerlager.

6. Wer mit AktivistInnen der Partei in den Zentralregionen spricht, dem fällt auf, dass die Kampagne („Zeig Stärke“) überwiegend positiv bewertet wurde, und dass sie weitgehend landespolitisch entschieden und durchgeführt wurde. Die Unterstützung aus Berlin hielt sich in Grenzen. Ist die LINKE NRW doch inhaltlich der Antagonist zum rechten Parteiflügel in Berlin. Wird die Orientierung auf Rot-rot-grün,wie vom rechten Parteiflügel (Bartsch FDS, Kipping EmaLi) und Mittelerde (Axel Troost,SL) als einzige Perspektive für einen progressiven Politikwechsel propagiert, mehrheitlich abgelehnt. Im Punkto Euro/EU wie auch in der Antikriegspolitik steht die Partei in NRW klar auf den Positionen, die der letzte Bundesparteitag bzw. Landesparteitag formuliert hat, und ist im Gegensatz zu Berlin und den Ostverbänden nicht bereit, dies auf dem Altar einer Regierungsbeteiligung zu opfern.

7. Wahlen werden nicht im Wahlkampf entschieden, sondern können in diesen nur zugespitzt oder vergeigt werden. In diesem Sinne ist das Ergebnis durchaus repräsentativ und die fast 5% sind als ein enormer Fortschritt zu bewerten, ohne öffentlich damit von einem Erfolg ohne gleichen sprechen zu können, da schließlich die 5% Hürde nicht genommen wurde.

8. Es zeigen sich einige klassische Tendenzen der Parteientwicklung ab. Da wäre zum einen die Tendenz vor Ort den Aktivismus auf Dauer nicht halten zu können. Die abnehmende Unterstützung in den sozial benachteiligten Stadtteilen nimmt zu und konnte nur dort durchbrochen werden, wo entweder der Aktivismus erneuert oder wo zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit kein Widerspruch existiert. Die „Verparlamentarisierung“ hat auch in NRW schon in einigen Städten wie z.B. in Duisburg dazu geführt, dass es schon Parteigliederungen gibt, welche nahezu überwiegend im Parlament arbeiten und nur noch ein wenig Parteianhang besitzen.

9. An die AfD wurden fast keine Stimmen mehr abgegeben. Nur mehr dort, wo DIE LINKE de facto nicht mehr präsent ist, konnte die AfD als Anti-Mainstreampartei in den abgehängten Stadtteilen punkten. Die AfD hat den Abgehängten nichts anzubieten. In diesem Sinne war die Konzentration auf die soziale Frage doppelt richtig, weil sich diese Strategie in NRW gleichfalls gegen den progressiven Neoliberalismus (Nancy Fraser) von SPD/Grünen wie auch gegen die neoliberale Rechte (AfD) richtete. Im Wahlkampf gab es eine politische Positionierung gegen Rotgrün, wie sie selbst in antifaschistischen Bündnissen oder in der Gewerkschaftsarbeit nicht stattfindet, wo sich alles immer einer dubiosen Einheit unterordnen muss.

10. Die verschiedensten Kritiken von rechts wie von links, die z.B. weniger oder mehr Antirassismus fordern, haben selbst immer noch keine Antwort auf die Frage gefunden, wie einer größerer Teil der Gesellschaft für eine andere Perspektive gewonnen werden kann. Die Flüchtlingsfrage selbst hat im Wahlkampf keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt Wie übrigens auch im Wahlkampf in Schleswig-Holstein). Die CDU hat in den letzten 10 Tagen nochmals den Sicherheitsdiskurs hoch gefahren, aber auch hiermit nicht fundamental punkten können. Eine Verschiebung in dieser Frage geben die Vor und -nachwahlbefragungen jedenfalls nicht her.

11. Eine Bewertung, die die letzten Wahlen als Rechtsrutsch oder institutionellen Rechtsschwenk bewertet, weil in Folge die CDU – Regierung im Saarland bestätigt, in Schleswig-Holstein und in NRW rotgrüne Regierungen durch CDU/FDP abgelöst wurden, setzt aber voraus, dass es elementare Unterschiede zwischen Links (SPD/Grüne) und – Rechtsliberalen (CDU/FDP) existierten, und die Rechtsliberalen mit Angriffen auf soziale Errungenschaften gewonnen hätten. Weder das Eine noch das andere ist aber der Fall. Insofern bleibt nur die Tatsache, dass die AfD in alle drei Landtage eingezogen ist zur Untermalung obiger These. Diese hat aber auf absehbare Zeit keine Chance auf Umsetzung ihrer Politik in Landesregierungen oder gar Bundesregierung. Eine gesellschaftliche Verschiebung nach rechts hat in Folge der Bewegung von Pegida und des politischen Aufschwungs der AfD im 2016 gegeben. Die Bewegung ist vorbei und der zumindest demoskopische Aufstieg der AfD vorläufig zu Ende. Die Parteiführung selbst ist auf der Suche nach neuen Themen, und die Eigendarstellung als Anti – Mainstreampartei gelingt immer weniger. Diese gilt es zu erkennen und eben politisch zu bekämpfen, wie es die Die Linke NRW in der Wahlkampagne mit der Konzentration auf soziale Themen aufgezeigt hat.

12. Auch wenn die Kampagne also insgesamt politisch richtig und erfolgreich war, ist es aber entscheidend, ob sie die richtigen Lehren aus der „siegreichen Niederlage“ zieht. Weder darf sie zu einer verlängerten Arm des progressiven Neoliberalismus werden wie es die Parteirechte in NRW ,vertreten durch die Strömung Sozialistische Linke, gebetsmühlenartig fordert , noch darf sich der linke Flügel einigeln, weil die undemokratische 5% nicht übersprungen wurde.

 

Eine sehr detaillierte und in weiten Teilen sehr gute Wahlauswertung des LandessprecherInnenrates der AKL NRW findet sich unter: http://www.antikapitalistische-linke.de/?p=2054

 

 

DIE ÖVP UND IHRE KURZ-REVOLUTION. Krise der Parteien und der Versuch eines Trittbrett-Fahrers

Die mainstream-Kräfte der europäischen Politik, die rechtszentristischen Parteien also, die Sozialdemokratie und die Christlichdemokraten, stecken seit Jahren in einer tiefen Krise. In den letzten Jahren war es vor allem die Sozialdemokratie, welche gebeutelt und mancherorts fast zerstört wurde. Die PASOK verschwand nahezu und versucht sich jetzt zu retten durch die jämmerliche Tsipras-Performance. PSOE treibt auf ein ähnliches Schicksal zu. Der PS in Frankreich zerbröselt auch gerade. In den Metropolen siechen SPD und SPÖ dahin. Am stärksten dürfte derzeit noch Labour sein, obwohl gerade diese Partei systematisch tot geschrieben wird. Die Euro-Krise hat sie alle ins Mark getroffen: Ihre bisherige Klientel hat begriffen, dass die Sozialdemokratie ihr nicht nur nicht helfen kann, sondern auch nicht helfen will.

Die Parteien aus der christdemokratischen Tradition haben ein ungleiches Schicksal. Zwar haben sich praktisch alle zu neokonservativ-neoliberalen Kräften verwandelt. Aber sie haben sich tendenziell besser gehalten als die Sozialdemokraten. Zwar: Schon 1990 ist die italieni­sche DC zerfallen. Aber Berlusconi hat übernommen. Inzwischen hat aber auch Forza Italia das Schicksal ereilt. Umgekehrt strahlt die CDU / CSU. Das ist der Unterschied zwischen Peripherie und Zentrum. Die britischen Konservativen waren so klug und haben das Brexit-Dictum affirmativ zur Kenntnis genommen und stehen vor einem Erfolg. Wenn Labour vor einer Niederlage steht, dann nicht zuletzt wegen des Klammerns an die EU seitens des dominanten rechten Flügels.

Die ÖVP hingegen war ein Paradox. Sie hatte sich in ihrer Krise ganz gut eingerichtet. Sicher, nach Außen strahlt sie nicht. Aber was will sie eigentlich? Sie hat ihre Politik fast integral durchgebracht, die eben die SPÖ durchsetzt und daran fast zugrunde geht. Im Grunde könnte die ÖVP zufrieden sein. Aber das ist wohl eine zu rationale Sichtweise. Trotzdem: Was hat die ÖVP eigentlich gebissen, dass sie jetzt eine Krise vom Zaun bricht und va banque spielt?

Wir müssen vermutlich von zwei Motivationen ausgehen. In jeder solchen Partei will das Personal einmal an die Tröge. Schumpeter und nach ihm hat aus diesem trivialen Fakt sogar eine „Theorie der Demokratie“ gebastelt, und Anthony Downs hat dies arithmetisiert („Economic Theory of Democracy“).

Aber diese Erklärung ist so trivial, wie es die Parteien eben sind, welche sie beschreibt. Auf Lopatka und Kurz und Blümel, und wie sie sonst alle heißen, mag es schon zutreffen.

Aber hinter den letzten Ereignissen stecken stärkere Triebkräfte. Der Umbau des Österreichi­schen Systems und der Abbau des Sozialstaats wurden nach dem EU-Anschluss und dem Eintritt in die Eurozone zwar zielstrebig in Angriff genommen. Aber speziell nach der Finanz- und Eurokrise begann es sich zu ziehen. Alles ging langsamer vor sich, als es sich die Jungen Hyänen der Eliten und der politischen Klasse wünschten. Zwar wurden die Pensionen ständig gekürzt; das Gesundheitssystem schränkt immer mehr seine Leistungen ein; die „bedarfsori­entierte Mindestsicherung“ kürzte die alten Sozialhilfen. Doch trotzdem sinkt die sogenannte Sozialquote nicht. (Wir wollen hier beiseite lassen, was da die Bürokraten alles in die „Sozial­quote“ einrechnen.) Oder die Gewinne: Sie steigen, aber langsamer als anderswo. Das ist hauptsächlich ein Effekt der Finanzkrise und des Crash-Kurses in den Metropolen, vor allem seitens Deutschlands.

Jedenfalls: Nach der ersten großen Umverteilungswelle nach oben durch Vranitzky und den „linken“ Lacina sowie seines Nachfolgers Rudolf Edlinger überkam die Sozialdemokratie der Selbsterhaltungstrieb. Sie musste auf die verbliebene Basis Rücksicht nehmen. Sie fing also an, ein bisschen zu bremsen. Viel genützt hat es ihr nicht. Die Arbeiter sind mittlerweile weitestgehend bei der FPÖ angelangt.

Aber sie hat sich den Ärger der Eliten zugezogen.

Und das versuchen nun, die Jungen Hyänen zu nutzen.

Ob die Rechnung aufgeht, ist durchaus fraglich. Die ÖVP hat sich Kurz an den Hals geworfen, weil er hohe Popularitätswerte hat. Politik und Politik-Berater sind bekanntlich lernresistent. Hohe Sympathie-Werte hatte auch SP-Klima; hatte auch VP Zernatto (in Kärnten). Beide stanken elend ab. Das ganze erinnert an den neuesten, den Schulz-Hype.

Aber es gibt einen wichtigen Unterschied. Dieser Typ, der Kurz, ist klüger, als man es ihm auf den ersten Blick zutrauen möchte. Sicher: Als er sich vor 6 Jahren bei der Wien-Wahl engagierte, da griff man sich an den Kopf. Hat er noch alle? Aber er hat blitzartig gelernt. Er lässt sich lenken von Bürokratie und Hintergrund, wer immer dies ist. Seit er in der Bundes­regierung sitzt, hat er aus seiner Warte kaum Fehler gemacht. Und er greift konkrete Themen auf, welche den Leuten nicht unwichtig sind.

Er wird geschickt gesteuert, von wem wissen wir nicht wirklich. Die Eliten glauben, mit ihm einen Griff gemacht zu haben. Die ÖVP macht er zur „Liste Kurz“ und auch das zeigt: Er hat irgendwie die Krise der dominanten Parteien begriffen.

Zwar: Die Umfragen brauchen wir derzeit nicht ernst zu nehmen. Seit Monaten pusht ihn Fellner und sein „Österreich“. Aber die 34 % der wöchentlichen Veröffentlichung gehören in die Kategorie: „Wenn es über 50 % sein sollen, kostet es etwas mehr!“ Es gibt Institute, die arbeiten eben so. Aber auch IFES gibt der Kurz-ÖVP 28 % und damit gleich viel wie der Kern-SPÖ und mehr als der FPÖ. Letztere hat in ihrem Eifer, sich zur Regierungspartei zu stilisieren, wahrscheinlich ihre Chance schon ziemlich verspielt. Man wird sehen.

Stimmt dies aber, so gäbe es auch die Chance für eine oppositionelle Bewegung. Dass dies Düringer sein kann, glaube ich persönlich nicht. Vielleicht muss auch etwas vorher passieren, und zwar real, nicht nur fiktiv in den Umfragen.

Vor allem aber: Es ist Zeit, dass wir uns an das Körnchen Wahrheit erinnern, welches in den anarchistische Schmierereien auf Wiens Hauswänden enthalten ist: „Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten.“ Verändern wir dies ein wenig: Wenn Wahlen etwas ändern, werden sie nicht selten wirklich verboten.

Inzwischen ist es auch wieder anders. In der EU können sie nichts ändern. Sie brauchen daher gar nicht verboten werden. Allerdings irren sich die Eliten auch. Als Pinochet 1988 eine Volksabstimmung ansetzte, dachte er nicht im Traum daran, dass er sie verlieren könnte. Als David Cameron die Brexit Volksabstimmung ansetzte, war er völlig überzeugt, sie zu gewinnen.

Zumindest bei den ersten Schritten auf eine neue Zukunft müssen wir darauf setzen, mit den herkömmlichen Mitteln etwas zu verändern.

Von einer revolutionären Krise sind wir meilenweit entfernt. Aber: „diese oder jene Krise der ‚Spitzen‘, Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss erzeugt, durch den die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen hervorbricht“ (Lenin) – das kön­nen wir schon sehen. Denn eine Hegemoniekrise ist ein vielschichtiges Phänomen. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung, eine Minderheit noch, stellt die politische und parapolitische Repräsentation in Frage. Das ist entschieden mehr als das schon seit drei Jahrzehnten von gelahrten Politikwissenschaftern beobachtete „De-Alignment“ und „Re-Alignment“. Noch gelingt es den Eliten, dies auf die oberflächlich-politische Sphäre zu beschränken.

Ob Kurz auf die Nase fällt, oder aber ob sein Roulett aufgeht, was ich bezweifle, wird an der Situation in Österreich kaum was ändern. Allerdings könnte es einen Zeitverlust von mindestens ein paar Jahren bedeuten.

Albert F. Reiterer, 18. Mai 2017

„GUT GEGANGEN“. Macron Präsident – und was weiter?

Die Eliten und ihre Intellektuellen haben einen großen Erfolg eingefahren. Daran ist nicht zu rütteln. Die Wahlbeteiligung war zwar etwas niedriger, 74,7 % gegen 77,7 % im ersten Wahlgang. Sie liegt somit aber nur wenige Punkte unter jener vom letzten Mal. Die ungültigen und weißen Stimmen allerdings erreichen 4,1 Mill. und damit 11,5 % der abgegebenen Stimmen. Das ist tatsächlich eine relevante Größenordnung. Eine Delegitimierung des Macron aus diesen Daten zu konstruieren, bleibt bei seiner Mehrheit trotzdem schwierig. Noch immer sind es 66 % der Wahlberechtigten, aber immerhin hat es diese massive Willensäußerung noch bei keiner Präsidentenwahl gegeben. Laut Innenministerium macht also der Stimmanteil Macrons 44 % der Wahlberechtigten aus. Unsere hiesigen Medien verschweigen die doch massive Protestgeste.

Der „republikanische“ Schulterschluss hinter dem extremistischen neoliberalen Kandidaten hat somit funktioniert. Damit stellt sich die Frage nach einer linken Strategie, welche klar gescheitert ist.

Warum hat Mélenchon nicht eindeutig gesagt: Keine Stimme für Macron! Wir gehen nicht hin!?

Er hätte damit einen guten Teil seiner Wähler und Anhänger verprellt, so sagt man uns. Die halten immer noch Macron für das kleinere Übel. Aber das ist ja kein Argument, das ist doch das Problem! Denn diese versimpelte Sicht baut auf einer von Grund auf verfehlten politischen Analyse. Und die hat die Linke in völliger geistiger Trägheit seit Jahrzehnten mitgeschleppt. Sie macht sich nicht die Mühe, die Verhältnisse neu anzusehen. Le Pen = „Faschismus“. Selbst auf einer Wahlversammlung ist dieser Slogan gar zu einfältig.

Dabei ist diese Sorte von Antifaschismus die einzige Basis, auf Grund welcher die Eliten ihre Welt noch zusammen halten. Dass sie damit erfolgreich sind, ist fast schon grotesk. Ihre sozialen und politischen Vorfahren waren es schließlich, welche zum Faschismus als ihrer Rettung gegen die Arbeiter-Bewegung griffen.

Aber anstelle einer Dekonstruktion fällt die Linke auf ihren eigenen abgegriffenen Mythos aus einer Tradition hinein, welche schon seit Jahrzehnten nicht mehr greift. Und ist dabei noch bereit, die Trümmer der Sozialdemokratie zu retten. Die schaffen sich mit (z. B.) En Marche eine neue Organisation oder versuchen es wenigstens, um weiterhin ihre Politik für die Eliten und Obere Mittelschichten weiterführen zu können.

Aber, so sagt man uns, passt bloß auf: Ihr findet Euch im selben Eck wieder wie Horst Mahler oder in Österreich jener Günter Rehak, der in den 1960er als Linker im VSStÖ begann und mittlerweile bei der deutschnationalen Rechten landete und dabei Otto Bauer zitiert – letzteres übrigens mit einigem Recht!

Die Warnung mag zu Recht kommen oder aber ein schmutziges politisches Manöver sein. Worum es geht, ist in historisch-theoretischer Sicht das alte Problem des Verhältnisses von Unterschichten und Intellektuellen, von Massen und aktiven Militanten. Dieses Problem haben wir nicht in Ansätzen bewältigt. Wenn wir nicht eine Karikatur des Leninismus, wenn wir nicht in der guten Gesellschaft der Neuen Rechten von Glucksmann und Lévy enden wollen, geht es um diese Frage, die in aller Offenheit endlich diskutiert werden muss. Ich gebe zu, es ist ein schwieriges Problem, es ist Dialektik pur, welche da auf uns wartet.

Aber einfach so weiter zu tun wie bisher, das führt zu Mélenchon – und damit auch zu Macron.

Albert F. Reiterer, 8. Mai 2017

Video Diskussion Krise der Globalisierung 4. Mai 2017

mit

Brüche für eine soziale und demokratische Alternative
(von links nach rechts)

· Hanna Lichtenberger, Politikwissenschaftlerin Uni Wien, Blog Mosaik
· Rainer Handlfinger, SP-Bürgermeister von Ober-Grafendorf
· Christian Zeller, Professor für Wirtschaftsgeographie Uni Salzburg
· Boris Lechthaler, Solidarwerkstatt und Euroexit

Moderation: Wilhelm Langthaler, Buchautor „Europa zerbricht am Euro“

Veranstaltungsankündigung