DIE PIKETTY-TÖTER SIND WIEDER UNTERWEGS. Die NZZ fürchtet um die neoliberale Hegemonie und startet einen Angriff

Es ist nun schon wieder einige Jahre her. Thomas Piketty sorgt für Aufruhr unter seinen Zunft-Kollegen. Er weist nach, dass die Ungleichheit in einer Reihe von Ländern massiv zunimmt, dass insbesondere das oberste Prozent und das oberste Promille soviel vom Einkommen einsacken wie schon seit einem Jahrhundert nicht mehr. Und er stellt die wenig gewagte Prognose: Es geht so weiter, und der Kapitalismus – den er verteidigt – wird sich damit Probleme einhandeln.

Insbesondere in den USA macht er damit Furore. Es ist keineswegs aus der Welt, den Bei­nahe-Erfolg des Bernie Sanders mit diesem enormen Bestselling in Verbindung zu bringen. Beide Geschehnisse stammen aus derselben Stimmung. Pikettys Buch wurde zum Gefahr für die Eliten. Man muss also etwas dagegen tun.

Die ersten Angriffe von Journalisten der „Financial Times“ waren zu durchsichtig und prall­ten 2014 ab. Noch plumper machten es die Zunft-Genossen, manche Ökonomen, die auch ganz ersichtlich von Neid auf den Erfolg getrieben waren. Der Leib- und Magen-Ökonom des DGB und der SPD, Peter Bofinger, ein BRD-„Wirtschaftsweiser“, der vor zwei Jahrzehnten auch ein „Manifest“ für den Euro geschrieben hat, manipulierte und log offenbar bewusst. Im „Spiegel“ vom 2. Juni 2014 zitierte er als Beleg für angeblich widersprüchliche Daten eine Graphik aus Pikettys Buch. Doch die wenige Seiten später in einer weiteren Graphik aufschei­nenden von ihm als fehlend monierten Daten lässt er beiseite. Dies war, wie gesagt, gar zu offensichtlich.

Piketty ist in seinen theoretischen Überlegungen oberflächlich. Als Keynesianer verteidigt er überdies das System, muss es wohl tun. Von der theoretischen Seite her wäre er also sehr leicht angreifbar. Aber seine eigentliche Leistung besteht in einem über viele Jahre hinweg gesammelten Daten-Thesaurus. Er begann mit Frankreich und sah sich dann andere Länder an. Diese Einkommens-Daten aber lagen nicht auf der Straße. Die mussten gesammelt und aufbereitet werden. Dazu muss man sie bearbeiten, und da gibt es selbstverständlich schwie­rige Fragen. Piketty weist selbst wiederholt darauf hin. Um diese unvermeidbaren Probleme zu illustrieren, kann man auf ein überaus berühmtes Theorem hinweisen. Der Kondratieff-Zyklus, die langen Wellen der kapitalistischen Entwicklung, ergeben sich mittel- und kurz­fristig aus schließlich sehr oft chaotisch anmutenden Bewegungen. Die muss man versuchen, auseinander zu legen. Man kann, nach einer Bearbeitung dieser Daten, auch begründet der Meinung sein, der Kondratieff-Zyklus sei ein statistisches Artefakt. Ich für mich würde sagen: Ich weiß nicht, ob „der Kondratieff“ als Zyklus existiert – eher nicht.

So steht es allerdings mit Pikettys Daten keineswegs. Sie sind so gut begründet, dass über die Entwicklungs-Tendenzen auch keinerlei Dissens besteht, nicht einmal bei Konservativen. Allerdings sind einzelne Abschnitte, etwa im 19. Jahrhundert, schlecht dokumentiert. Auch vereinzelte Datenpunkte etwa zwischen 1969 und 1988 kann man offenbar in Frage stellen und anders rekonstruieren. Das tat Sutch in einem Arbeitspapier von 2015, das jetzt (2017) eben in einer sozialwissenschaftlichen Zeitschrift erschien. Besonders freundlich gesinnt ist Sutch seinem Kollegen nicht. Aber er bleibt halbwegs seriös. Um es zu wiederholen: Die Trends der Entwicklung werden nicht nur bestätigt. Sie werden z. B. für Anfang der 1980er sogar akzentuiert: Es wird noch deutlicher, dass die US-Entwicklung, die massive Umver­teilung nach ganz oben hin, vor allem auch ein Ergebnis der Reagan-Politik war. In anderen Ländern kann man die Spuren der Politik ebenso deutlich erkennen: in Großbritannien jene von Thatcher / Blair; in der BRD jene von Kohl / Schröder / Fischer; usf.

Diese Korrekturen, welche Piketty also bestätigen, ihm aber das eine oder andere Ungeschick bei der Konstruktion anlasten, nimmt nun die die NZZ vom 25. Oktober 2017 zum Anlass, eine schwere Attacke zu reiten: „Schlampigkeit“ ist noch der geringste der Vorwürfe. Auf der Titelseite (!) der Zeitung heißt es: „Seine Glaubwürdigkeit hat mit den jüngsten Vorwürfen zu seinem Umgang mit den Daten jedenfalls gelitten.“ Und dann kommt in derselben Ausgabe noch ein Artikel, S. 11. Dort wird vom selben Journalisten gar der Vorwurf des „Betrugs“ erhoben. Die Stoßrichtung ist klar: Man muss ihn madig machen, vor allem seine Daten – denn, wie gesagt, Piketty ist ja ohnehin ein Kapitalismus-Verteidiger. „Die empirische Arbeit mit den historischen Arbeiten (ist) seine größte Schwäche.“

Die Stoßrichtung ist ganz klar und braucht nicht weiter besprochen zu werden. Aus einer akademischen Auseinandersetzung über einzelne methodische Fragen wird ein hinterhältiger Generalangriff. Das ist auch sprachlich besonders deutlich. Wo Sutch im Englischen in einem technischen Sinn von „manipulating the data“ spricht, also „die Daten handhaben“, wird in der Zeitung im Deutschen ein „Manipulieren“ daraus. In dieser Hinsicht ist die NZZ über­haupt ganz groß. Ich erinnere mich: Als 1994 die EU im Zusammenspiel mit den nationalen Politikern die Kaskade der Volksabstimmung so ansetzte, dass möglichst das gewünschte Ergebnis herauskommen sollte, überschrieb die NZZ das 52 : 48 Ergebnis in Schweden so: „Deutliche Mehrheit für die EU.“ Als dann die Norweger unerwartet 52 : 48 gegen die EU stimmten, hieß die Überschrift: „Knappe Ablehnung des Beitritts“…

Warum die lange Auseinandersetzung mit den Zeitungs-Manipulationen eines sich gerne als seriös präsentierenden neoliberalen Kampfblatts? Es zeigt sich, dass die Patrone dieser Zeitung und ihre Lohnschreiber sich Sorgen um die Hegemonie machen. Wenn ein Buch, das doch einigermaßen komplex ist und überdies auch noch, je nach Sprache, 700 – 900 Seiten zwischen den Deckeln hat, einen solchen Erfolg einfährt, fühlt sich das System gefährdet, wenn da eine gewisse Kritik geäußert wird. Am 5. März 2014, in einer Rezension des Buchs in diesem Blatt, der NZZ, hatte es noch geheißen: „Auch als Wirtschaftsprofessor darf man Sozialist sein“ – und der Rezensent fügt im Nachsatz hinzu: „in Frankreich“! Kann man die Verhältnisse ungewollte besser charakterisieren?

Arbeit im antihegemonialen Sinn ist also wichtig und zeitigt auf die Dauer auch Wirkung.

Albert F. Reiterer

 

Kondratieff, N. D. (1979), The Long Waves in Economic Life. In: Review II, 519 – 562 (Übersetzung von 1926, Die langen Wellen der Konjunktur. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik LVI, 573 – 609).

Piketty, Thomas (2013), Le capital au xxie siècle. Paris: Seuil.

Sutch, Richard (2017), The One-Percent Across Two Centuries: A Replication of Thomas Piketty’s Data on the Distribution of Wealth for the United States. In: Social Science History 41, 587 – 613. Als Entwurf bzw. Arbeitspapier bereits am 12. Dez. 2015.