DAS NEUE „WEIßBUCH“ DER EU-KOMMISSION: Brüssel steckt in der Krise und versucht sie zu überdribbeln.

Mit 1. März 2017 ist das neue White Paper der Kommission datiert. Es ist gedacht, so heißt es hinten, als Geburtstags-Geschenk zum 60 Jahrestag der Römer Verträge in drei Wochen. Ein schäbigeres Präsent ist kaum jemals überreicht worden. Bisher waren die Bestandsaufnahmen und die Programme der EG / EU durchaus unterschiedlich stilisiert. Aber den meisten von ihnen konnte man die politische Bedeutung nicht absprechen. Dieses hier ist einfach belang­los. Gerade deswegen ist es ein akutes Krisen-Zeichen. Die EU-Regierung steht der neuesten Entwicklung offenbar ratlos gegenüber. Ein so inhaltsleeres Papier hält man selten in den Händen.

Die ersten paar Seiten sind der Bestandsaufnahme gewidmet. Das einzig Neue ist die Aus­schmückung mit Graphiken. Hier finden wir im Text das übliche Bla-Bla neoliberal-konser­vativer Sozial-Diagnostik: „Rückkehr des Isolationismus“; „Europa ist der älteste Kontinent“; auch die Frechheit von der verlorenen Generation durch „Jugendarbeitslosigkeit“ – ohne natürlich zu sagen, wer für diese verlorene Generation, in Griechenland und Italien z. B., verantwortlich ist. Aber schließlich kommt der Hinweis, auf das, was offenbar wirklich beunruhigt: „eine wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der mainstream-Politik“.

Nun folgen fünf Szenarien für die nächste Zukunft bis 2025. Erstaunlich ist eher, wie gering und verwischt die Unterschiede dazwischen gezeichnet werden.

(1) Weiter wie bisher;

(2) Nur der einheitliche Markt;

(3) Die mehr wollen, schließen sich enger zusammen; also: die variable Geometrie bzw. die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die Schäuble-Lamers-Vorstellung somit;

(4) Weniger, aber effizienter; also: differenzielle Integration / Konzentration;

(5) Viel mehr gemeinsam; also: beschleunigte allgemeine Zentralisierung.

Die Schlussfolgerungen überlässt die Kommission dem geschätzten Publikum. Es ist nur nicht ganz klar, wer dies sein soll. Wahrscheinlich sind es die nationalen Regierungen. Doch sicher blickt man auch auf die eigenen Heerscharen, auf die oberen Mittelschichten.

Die Verunsicherung ist mit den Händen zu greifen. Das ist das wirklich Neue. Es ist aber auch das einzig Neue. Man begegnet der Krise mit den alten Floskeln. Die üblichen Versprechun­gen, mehr Wohlstand etc., sind zu abgegriffen, als dass man sind mit Nutzen noch einsetzen könnte. Nicht, dass einige besondere Frechheiten fehlten: Da wird etwa gesagt, man dürfe nicht einzelne Staaten zur Beute der Stärkeren werden lassen: Denken die Damen und Herren da vielleicht an Griechenland und die BRD? Oder: Der Finanzmarkt müsse geschmeidiger werden, damit die Unternehmen wieder Kredite bekämen. Als ob es daran läge. Das Finanz­kapital glaubt einfach, in der Spekulation mehr Profite machen zu können. Die Realwirtschaft scheint dabei uninteressant. Geld aus den steigenden Gewinnen und für Investitionen gäbe es genug, viel zu viel! Usf.

Dann setzt man halt das inzwischen auch schon reichlich abgegriffene Vokabel von „Frieden und Freundschaft“ ein. Das ist nicht ohne Ironie. Damit kommen wir zum Kern. Denn die eigentliche Strategie zeichnet sich hier ab:

Die Kommission hat begriffen, dass mit den alten von ihr bevorzugten Anboten von mehr Zentralisierung ganz allgemein und gleichzeitig ökonomischer Deregulierung – dialektisch könnte man sagen: Regulierung der Deregulierung – auf immer größeren Widerstand stößt. Also versucht sie, darüber hinwegzugleiten. Aber zwei Kernthemen der Supra-Staatlich­keit will sie unbedingt retten und ausbauen. Immer wieder kommt sie auf die militärische Kooperation und die Rüstung zurück. Sogar die bereits in den 1950ern von der französischen Nationalversammlung verworfene Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) will sie neu auflegen und beleben. Aufrüstung als ein Kernthema des traditionalen Staats ist völlig prioritär. Unmittelbar damit zusammen hängt das zweite Lieblingsthema, das allerdings auch eine andere Seite hat: Sie will eine einheitliche Außenpolitik, auch mit einheitlichen Institu­tionen, durchsetzen. Der europäische Superstaat soll nach Innen eine supra-imperialistische Struktur erhalten – Deutschland befiehlt, und Frankreich darf ein bisschen mitreden. Nach Außen soll er aber als konventioneller Imperialismus auftreten und im Globalsystem militärisch-politisch-wirtschaftlich konkurrenzfähig werden.

Dafür braucht dieser alt-neue Imperialismus aber auch außenwirtschaftliche Handelungs­fähigkeit. Das ist wichtig. Nicht nur CETA steht auf der Tagungs-Ordnung. Auch TTIP muss wieder aus der Versenkung geholt werden. Prioritär ist der Kommission daher die politische Kompetenz für umfassende Handelsverträge Die dürfen dann nicht mehr durch nationale Empfindlichkeiten und Einwendungen gestört werden. Diese globalistisch-imperialistischen Unternehmungen will die Kommission unbedingt durchbringen; hier muss sich nach ihrer Sicht Einiges ändern.

Wer alteriert sich da? Das Manifest von Ventotene des Altiero Spinelli von 1941 werde miss­braucht, um weitere Zentralisierung durchzubringen. Das ist ein schweres Missverständnis. Dieser Entwurf wird nicht missbraucht. Er wird auf eine realistisch gewendete Weise gebraucht. Altiero Spinelle war kein Linker, er war ein Linksliberaler. Die Linksliberalen sind, mit Blick auf Euro und EU, unsere härtesten Gegner, mindestens ebenso wie die offen Konservativen, und vielleicht noch hartnäckiger. Spinelli war eine Zeitlang in der KPI gewesen. Als man ihn wegen „Trotzkismus“ rauswarf, wandelte er sich zum „europäischen Föderalisten“. Gestehen wir ihm persönlich zu, dass er seinerzeit bona fide raisonniert und geschrieben hat. Die Realität seines Entwurfs wurde dann eben zur EG / EU. Als ihn die KPI 1976 ins EP entsandte, hat ihn dies keineswegs zum Linken ge­macht. Es war umgekehrt. Das war einer der wichtigen Schritte, welche die Berlinguer-KPI schließlich zur Renzi-PD von heute gemacht hat, zur rechten Sozialdemokratie par excellence.

Wir bräuchten uns um dieses White Paper im Grund gar nicht zu kümmern. Aber sein Cha­rakter als Krisenzeichen macht es wichtig. In der Linken ist die Hoffnung auf die Krise weit verbreitet. Das wächst aus der Tradition der sozialistischen Bewegung heraus. Es ist aber trotzdem erstaunlich. „Never waste a crisis“ ist das Motto der Herrschenden – die Krise nutzen, um ihre Ziele durchzubringen. Jedenfalls gilt dies für einen Gutteil unter ihnen, den wagemutigeren. Aus den meisten Krisen gingen denn auch die Eliten gestärkt hervor. Es gab allerdings dabei meist Verschiebungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen und Fraktio­nen der Herrschenden. Ist also der Krisenoptimismus der Linken die reine Unvernunft?

In den 1960ern versuchte ein US-amerikanischer Historiker, Crane Brinton, eine Revolutions-Theorie zu konstruieren. Nicht, dass diese abstrahierte Phänomenologie so überaus viel bringt. Aber da er vier frühbürgerliche Revolutionen (einschließlich der Oktober-Revolution) studiert, haben einzelne Aus­sagen ein gewisses Interesse. Er erwähnt u. a. den Transfer der Loyalität von Intellektuellen auf neue Gruppen und den Verlust des Selbstvertrauens von Teilen der Herrschenden. Der erste Zug ist kaum in Ansätzen erkennbar; der zweite ist in diesem Weißbuch ziemlich ausgeprägt. Wir sind natürlich meilenweit von einer revolutionären Situation entfernt. Aber die Eliten werden trotzdem langsam unruhig.

Die Krise ist die unerlässliche Vorbedingung der Weiterentwicklung. Die Dinge kommen nur zum Tanzen, wenn sie für viele, vielleicht die meisten Menschen nicht mehr tragbar erschei­nen. Trotzdem ist das Spiel mit der Krise angesichts der bisherigen Erfahrungen eine gefähr­liche Angelegenheit und darf nicht leichtfertig getrieben werden, Doch in der Krise gibt es Phasen, in welcher die Eliten völlig verunsichert sind. Eine solche Phase dürfte die Kommission gerade durchlaufen. Dies gilt es zu nützen.

Albert F. Reiterer, 4. März 2017