TIA statt TINA: Politische Alternativen statt Sachzwang-Ideologie

Albert F. Reiterer

„TIA“ statt „TINA“: Politische Alternativen und Sachzwang-Ideologie

Wirtschaftliche Prozesse sind auch kurzfristig politisch gesteuert

Man könnte manchmal staunen. Ökonomische Kennzahlen folgen den politischen Prozessen oft erstaunlich eng. Wenn ich hier „politisch“ schreibe, meine ich nicht nur fundamentale Einschnitte, wie etwa den Zusammenbruch des Sowjetsystems, des „Realsozialismus“ in Osteuropa. Insbesondere in den USA zeichnen sich Präsidentschaften oft in wichtigen sta­tistischen Zeitreihen sehr deutlich ab. In Europa, möchte man meinen, sind die Unterschiede zwischen den mainstream-Parteien im ökonomischen Bereich nur mehr mit der Lupe zu finden: Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Gründe unterscheiden sich allenfalls in einigen Symbolbereichen kulturelles Politik: der Homo-Ehe, vielleicht in der Familien-Politik – aber nicht mehr in der Wirtschaftspolitik. Und doch kann man selbst hier manchmal, in der Vergangenheit allerdings, Legislatur-Perioden in den statistischen Daten wieder finden.

Die Einkommensverteilung, d. h. die wachsende Ungleichheit und der immer größere Anteil der Eliten gehört hierher. Piketty hat uns hier bekanntlich (auf seiner website, nicht im Buch) mit langen Zeitreihen über einige wichtige Wirtschaften versorgt. Bereits die Ära Nixon lässt sich erkennen. Reagan / Bush I ist überaus deutlich; Bush II wiederholt das Muster noch einmal. Aber auch in der BRD zeichnet sich, allerdings viel verwaschener, der Übergang von Brandt zu Schmidt / Kohl ab. In Schweden hingegen fällt der Bruch und das starke Ansteigen der Umverteilung nach oben zur Gänze in die sozialdemokratische Regierung Ende des Jahrhunderts. Die erste konservative Regierung ist überhaupt nicht sichtbar.

Die alten sozialdemokratischen Parteien sind ausnahmslos zur neoliberalen / neokonserva­tiven Wirtschaftspolitik übergegangen. Interessant ist nur, wann dies passierte. In einigen Ländern passierte diese vorbehaltslose Konversion mitten in der Regierungszeit. In Frank­reich fand der Bruch für alle sichtbar mitten in der ersten Präsidentschaft Mitterrand statt. Der damalige altsozialdemokratische Ministerpräsident Maurois musste gehen. Das Sagen hatte nun Delors, bis er dafür die Weihen Brüssels und Berlins erhielt und Kommissionspräsident werden durfte. Dort hat er dann dieselbe Politik verstärkt durchgezogen. Auch in Österreich lief dies mitten in einer Legislatur-Periode ab. Sinowatz beseitigte die alte SP-Garde in der Regierung, bevor er sich auch selbst beseitigte, und Vranitzky hat dies richtig durchgezogen und durch den EG-Beitritt abgesichert.

In Großbritannien hingegen entstand der Blairismus von Labour in der Opposition. Interessant war die BRD. Auch dort verzweifelte die SPD offenbar an Helmut Kohl. Aber die eigentlich scharfe Wendung – eine grundsätzliche hatte es ja schon zu Helmut Schmidts Zeiten gegeben – kam erst nach dem neuerlichen Regierungsantritt 1998. Da manövrierte Schröder Lafontai­ne mit einer Leichtigkeit aus, die unmöglich gewesen wäre, wenn der Politikwechsel nicht bereits innerparteilich fixiert gewesen wäre. In der Regierung stützten ihn freilich die Grünen des Franz Josef Strauss, … äh: Fischer.

Es gibt neben dem Einkommen andere Indikatoren, die besonders aussagekräftig sind. Die Finanzkrise entstand bekanntlich in den USA als Sub-prime-Krise, als Krise der Überschul­dung privater Hausbesitzer aus der Unterschicht und den unteren Mittelschichten. Wir hjaben schon des Öfteren darüber gesprochen, woraus dies entstand.

Die niedrigen Einkommen stagnierten real oder gingen sogar zurück. Gleichzeitig redete man den Menschen die Großartigkeit des US-Systems ein. Insbesondere die Jüngeren unter den Abgehängten wollten daran auch teilnehmen. Für Einige unter ihnen bot sich nun eine unverhoffte Gelegenheit: Die Hauspreise begannen zu steigen. Eine Immobilienblase baute sich auf. Und nun begann ein wahnsinniger Zirkel. Denen, die bisher als kreditunwürdig galten („Subprime-Sektor“), drängten nun Banken-Vertreter die Kredite geradezu auf. Über die Mechanismen zu sprechen, über „Fanny Mae“ und Freddy Mac“ und die Banken, etc., ist hier nicht der Platz. Jedenfalls verschuldeten sich nicht wenige, die es sich eigentlich nicht leisten konnten. Sie wollten auch am „amerikanischen Traum“ partizipieren.

Da gäbe es noch viel zu sagen: Es waren die nicht am allerschlechtest gestellten Unter- und unteren Mittelschichten, vor allem die Jüngeren, welche sich da hineinziehen ließen. Die obe­ren Mittelschichten waren von der Chose kaum betroffen. Die Kredite gingen auch keines­wegs nur in den Hauskauf. Es waren Konsumkredite, welche in Vertrauen auf steigende Hauspreise und damit auf die Deckung dadurch aufgenommen wurden.

Aber dies ist nicht eigentlich das Thema hier. Hier wollen wir uns den Zeitablauf ansehen!

Quelle: Mian / Sufi 2011

 

Der steile Anstieg in der Verschuldung der Haushalte fand erst in der Bush II-Präsidentschaft statt. Der Knick in die massive Überschuldung, beim Verhältnis Schulden zu Einkommen, fand 2001 scharf ausgeprägt statt. In der Clinton-Zeit gab es auch einen bescheidenen Anstieg, aber der entsprach eher dem Üblichen in einer Zeit des wirtschaftlichen Wachstums. Das geht übrigens ganz gegen den Eindruck, den der heutige indische Zentralbank-Präsident Rajan, bestellt vom neoliberalen und hindu-nationalistischen Modi, zu erwecken versucht. Er schreibt ausführlich über die Welt­wirtschaftskrise und die Subprime-Krise in den USA und verteilt Schuldzuweisungen: Clinton habe leichtfertig die Kreditvergabe ermutigt, und was sonst noch alles dann auch hier in Europa nachgeschrieben wurde.

Auch die Schulden der Alteigentümer beginnen erst 2002 wirklich zu klettern. Sie wurden offenbar für Konsumkredite eingesetzt. Die Krise aber setzt schleichend im Jahr 2006 ein. Da beginnt der Haus-Preis-Index zu sinken. Damit aber war auch das wirtschaftliche Todesurteil über viele jener Kreditnehmer gesprochen, welche sich auf die Versprechung dauernd steigender Hauspreise verlassen hatten.

Es geht hier keineswegs um eine Verteidigung von Clinton. Zwar gilt er, im Gegensatz zu seiner Frau, die sich eben wieder um die Präsidentschaft bewirbt, unter den Demokraten als „Linker“. Aber was das in den USA im Besonderen und in der globalen politischen Klasse im Allgemeinen heißt, wissen wir.

Worum es geht: Auch in diesem System ist Politik nicht wirkungs- und machtlos. Es gibt immer Alternativen. Das Gegenteil zu behaupten – und dazu neigen auch manche Linke – heißt, sich ganz den extrem Konservativen und Reaktionären ausliefern. Der Sachzwang, das ist nichts Anderes als die Politik von gestern. Aber selbst innerhalb der Logik dieser „Sachzwang“-Politik gibt es stets Handlungsmöglichleiten.

In einem alten Film aus den 1960ern, Dr. Strangelove, wird die Idee der Doomsday-Maschine umgesetzt: Wenn es vonseiten der USA einen Atomangriff auf die UdSSR gibt, dann erfolgt automatisch und unabänderlich ein Gegenschlag mittels Atomwaffen. Das ist das Politik-Konzept, welches nicht nur die Konservativen allgemein uns verkaufen möchten. Es ist das Konzept der EU, der Troika (damit man die griechische Regierung besänftigt, heißt sie nun: Die Institutionen) gegenüber Griechenland, aber auch generell gegenüber den Mitgliedern der Eurozone und der EU.

Das Konzept ist mit Eklat selbst im Sinn seiner Erfinder gescheitert. Aber was nicht sein darf, kann nicht sein. Es wird auf Biegen und Brechen fortgesetzt. Die Frage ist, ob es so endet, wie seinerzeit Dr. Strangelove: Die Welt geht im Atomkrieg unter, und auch die US-Regierung, welche die Kontrolle über ihre Handlanger verloren hat, verschwindet für die nächsten Jahrzehnte in den unterirdischen Bunkern.

Als Linke aber halten wir fest: There is an alternative – TIA statt TINA!

  1. Juni 2015

 

Literatur

Mian, Atif / Sufi, Amir (2011), House-Prices, Home-Equity based Borrowing, and the US Household Leverage Crisis. In: AER 101,2132 – 2156..

Rajan, Raguram G. (2010), Fault Lines. How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy. Princeton: Univ. Press.