DER DEUTSCHE KAMPF GEGEN GRIECHENLAND: Die Ideologie wird selbständig

Die Springer-Presse übertrifft sich selbst. Seit mehreren Monaten ist die S. 2 von BILD weitgehend der Hetze gegen Griechenland und seine Regierung reserviert. Da will sich auch das „seriöse“ Flagschiff für Dr. Lieschen Müller nicht lumpen lassen. „Die Welt“ schickt ihren Kultur-Chef auf Entdeckungsreise und wird auch fündig. Herr Berthold Seewald enthüllt am 11. Juni 2015 in einem langen Artikel allerdings eine Haltung, über die wahrscheinlich selbst die meisten Konservativen nicht glücklich sein werden. Das ist nicht mehr eigentlich braun. Das ist tiefschwarz, in einem italienischen Sinn. Das ist vorbürgerliche Reaktion, für die man auf bestimmte Theoretiker des Konservatismus aus dem 18. und 19. Jahrhundert zurück gehen muss, auf die „Petersburger Nächte“ (Les Soirées de Saint-Pétersbourg) des Joseph de Maistre von 1821 etwa.

Die falschen Liberalen und die Pseudo-Linken reagieren wütend, wenn man die EU mit der Heiligen Allianz vergleich. Nun, dieser Herr Seewald von der Welt macht gerade dies in höchst affirmativen Sinn. Er wirft den Griechen vor, dass sie schon einmal „Europas Ordnung“ zerstört hätten. Und was meint er damit?

Der griechische Unabhängigkeitskrieg seit 1821 wurde nach einigem Zögern von Großbritannien und Frankreich unterstützt. Mit der Seeschlacht von Navarino vom Oktober 1827 war die Niederlage der Osmanen besiegelt. Und das „brachte die Ordnung Europas zum Einsturz“, wie der „Welt“-Journalist voll Empathie mit der Wut des Mettrernich und des Friedrich Gentz schreibt.

Auf diese wahrlich erstaunliche Stellungnahme für Metternichs Absolutismus und die Heilige Allianz setzt der Herr noch einen fast versteckten rassistischen Tupfer drauf. Er schreibt da von den Griechen als „einer Mischung aus Slawen, Byzantinern und Albanern„, und das heißt natürlich in seiner Feder nur das Übelste.

Um das zu verstehen, muss man ein wenig ausholen. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es ein kleines akademisches Skandälchen, das jedoch durchaus einen ernsthaften politischen Hintergrund hatte.

Die Philhellenen aus Frankreich, England und dem deutschen Sprachraum hatten die Griechen mit der Brille ihrer Gymnasialbildung betrachtet. Das waren für sie die Nach­kommen des Leonidas, des Themistokles und des Perikles. Sie sahen, ganz wie die Tiermondisten des 20. Jahrhunderts, da ein Volk, das jenen Kampf führte, den sie selbst nicht führen konnten oder wollten; dass jene Freiheit errang, welches sie selbst zu Hause außer Reichweite sahen.

Doch da trat plötzlich ein deutscher Professor auf, ehemaliger Reisebegleiter eines russischen Adeligen durch den Vorderen Orient, und erklärte allen, die es hören wollten:

Die heutigen Griechen haben mit den alten Griechen nichts zu tun. Sie sind eingewan­derte Slawen, welche assimiliert und schließlich eine Variante des Griechischen über­nahmen, welche mit dem klassischen attischen oder ionischen Griechisch von einst wenig gemeinsam hat.

Es war gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts, als dieser bis dato unbekannter Südtiroler Sprachwissenschafter diese These publizierte. Sie machte ihn schlagartig berühmt. Johann Jakob Fallmerayer (1790 – 1861) provozierte ganz bewusst die philhellenische deutsche und westeuropäische Öffentlichkeit seiner Zeit, die eben tatkräftig, finanziell und durch Druck auf ihre jeweiligen Regierungen, die Gründung eines neugriechischen Staats und in der Folge seiner Nation betrieben hatte. Doch er meinte es nicht nur als Provokation, er meinte, was er sagte. Und er wünschte damit den Griechen kein Kom­pliment zu machen. Er lässt keinen Zweifel daran: Für die Slawen hatte er nichts übrig.

Dabei verarbeitete er seine Erfahrungen aus der ausgedehnten Orientreise in eine Kritik an den gängigen Auffassungen. Der eigentliche Witz ist: Jakob Philipp Fallmerayer brachte eine Reihe valider Argumente gegen diese Kontinuitätsthese seit der Antike vor. Doch er tat dies aus der Denkweise des damaligen frühen auf Biologismus begründeten Ethno-Nationalismus. Er lässt die Griechen von den „Slawen“ abstammen. Und das ist in seiner Sicht ganz und gar nicht schmeichelhaft gemeint. Er wird schließlich in eine reine Geschichtsmystik abgleiten. Den Nazis gefiel dies und sie sandten während des Zweiten Weltkriegs ihren Soldaten Heftchen mit Fallmerayers Schriften an die Front nach (Fallmerayer 1943).

Gegen „den Hellenenglauben jener Deutschen …, welche die Gemütsbewegung der Jahre 1821 – 27 geteilt und empfunden haben“, ruft Fallmerayer (1845, 379 und 277) die eigene Erfahrung zum Zeugen: „Hätten wir denn umsonst der Reihe nach alle Provinzen des byzantinischen Reiches durchwandert und besucht?“ Die griechische Nation ist also ein hellenisierendes westeuropäisches Missverständnis, welches von der Aufklärung und ihren Intellektuellen auf den Balkan exportiert wurde. Die Entwicklung dieser Nation war dann – in diesem extrem überspitzten Sinn – ein reiner Zufall aus einer Kombination von westeuropäischen Stimmungen, osmanischem Modernisierungsversagen und politischen Strukturtendenzen im Bereich des größeren Europa. Fallmerayer hat da gar nicht so unrecht. Ähnliches ließe sich allerfdings von den meisten Nationen sagen. Die Rumänen wurden in Paris erfunden, die Slowaken im Mittleren Westen der USA; usw.

Die Akteure in der Geschichtsauffassung Fallmerayers sind „Übernationen“, nämlich tatsächlich Sprachfamilien: die Germanen, die Slawen, usw. Das ist der Intellektuelle des 19. Jahrhunderts, wo im Hintergrund auch eine rassistische Grundannahme steht. Wie aber kommt er eigentlich zu einer solchen Auffassung, die er im übrigen mit vielen Intellektuellen seiner Zeit und manchen Nationalisten von später, ja bis heute, teilte? Die Frage ist umso mehr angebracht, als zu seiner Zeit, so um die 1840 herum, die eigentli­chen politischen Akteure noch die Dynastien und ihre kleine Hilfsgruppe (der „Hof“) war. Etwas später wollten es „die Nationen“ werden und wurden es auch, nämlich die Intellektuellen und die entsprechenden oberen Mittelschichten, die sich in Europa paradigmatisch in den Liberalen wieder fanden, die ein enges Bündnis mit den alten Eliten, dem Adel und den Höfen, eingingen. Niemals aber waren die Sprachfamilien aktiv, weder in einer Elite noch gar als Volk. Fallmerayers und seiner Geistesverwandten Auffassung war somit pure historische Ideologie. Er war konservativer Ideologe mit katholischen ebenso wie mit biologistischen Wurzeln. So konnte er denn auch in der europäischen Nationen-Entwicklung nicht den Staatsaufbau aus der traditionalen Gesellschaft heraus und seine Prozesse erkennen und den darin ausgetragenen Widerspruch zu einer heraufziehenden Moderne. Ein bisschen grotesk wirkt es, wenn er ständig vom großen Gegensatz von Rom und Byzanz spricht. Allerdings findet man dies auch heute noch bei konservativen Politikern und Ideologen. Wenn wir allerdings heute solche Entwicklungs- und Kultur-Gegensätze schon an konfessionellen Grenzen festmachten, würden wir eher von Luther gegen Rom und Byzanz sprechen.

Fallmerayer ist heute daher in Westeuropa weitgehend vergessen. Aber viele Griechen tragen ihm seine Behauptungen von ihrer slawischen Herkunft bis heute nach. „Nicht so wie Fallmerayer!“ dürfe er die griechische Geschichte behandeln, forderte die Wirtin eines griechischen Restaurants in München einen Osteuropa-Experten auf, als dieser erzählte, dass er sich auch mit Griechenland befasse.

Was ist so schlimm an Fallmerayer These? Vor allem aber: Was ist dran aus einer analyti­schen Sicht? Wo hat er recht? Oder liegt er völlig falsch?

Er setzt Nation mit Abstammung, ja mit „Rasse“ gleich. Dass eine politische Körperschaft eine lange Abstammungstradition hat, ist üblich. Dass sie dadurch definiert wird, ist schlichtweg Rassismus. Wie gesagt: Es war kein Zufall, dass die Nazis Fallmerayer schätzten.

Griechenlands Existenz als Nationalstaat begann 1828. Aber wann entstand die griechi­sche Nation? Woodhouse (1998) beginnt die Erzählung in seiner “Short History of Greece” – so hieß die erste Auflage des Buches 1960 – mit der Gründung von Konstantinopel. Bei Vakalopoulos (1986) kommt dieses Datum auch; aber er beginnt tatsächlich noch früher und wiederholt im Grund die Kontinuitäts-These. Alle müssen also eine Kontinuität Griechenlands und der Griechen durch die ganze byzantinische Ära annehmen. Die Vorstellung ist auch im deutschen Sprachraum unter dem Einfluss altsprachlicher („humanistischer“) Bildung, d,. h. konservativer Ideologie, weit verbreitet. Das Problem vieler Griechen bis heute ist, dass sie auf diese Mythologie nur zu gerne einsteigen.

Nun kommt also ein extrem reaktionärer deutscher Journalist und kramt diese ganze Geschichte wieder hervor, um ein aktuelles politisches Kampf-Instrument daraus zu machen. Das dürfte zweierlei besagen: Die Herrschenden fürchten sich wirklich vor dem griechischen Neuansatz. Das ist nun ziemlich wichtig. Daher versuchen sie, zweitens, die Angelegenheit auf eine höhere Ebene, auf die kulturelle zu heben. Es geht nicht mehr nur um die Interessen, z. B. der deutschen Exportwirtschaft oder der griechischen Bevölkerung an einem Ende der Austerität und an Wachstum. Es geht um mehr. Es geht um „Europas Ordnung“, es geht offenbar um die Kultur des Abendlands.

Wenn solche Töne heute angeschlagen werden, ist das ein ziemlich sicheres Zeichen einer gewissen Verzweiflung. Insofern könnte uns diese retrograde Publizistik fast optimistisch stimmen. Leider sind die Kräfteverhältnisse so ungleich, dass dies wohl ein Überoptimismus wäre. Was bleibt, ist reiner, schmutziger Kampf mit allen Mitteln.

Literatur

Fallmerayer, Johann Jakob (1845), Fragmente aus dem Orient. Stuttgart/Tübingen: Cotta

Fallmerayer, Johann Jakob (1857), Das albanesische Element in Griechenland. München: Verlag der königlichen Akademie.

Fallmerayer, Johann Jakob (1943), Hellas und Byzanz. Weimar: Böhlau.

Vakalopoulos, Apostolos (1985), Griechische Geschichte von 1204 bis heute. Köln: Romiosini.

Woodhouse, C. M. (1991), Modern Greece. A Short History. London: Faber & Faber.