„WOFÜR STEHT DIE VOLKSEINHEIT?“

Das Programm der LAE: eine Neuformierung der griechischen Linken

Wir dürften die SYRIZA nicht aus der Linken ausschließen, erklärte am „Volksstimme“-Fest ein in Griechenland geborener alter Genosse. Er übersah dabei Eines: Tsipras und die SYRIZA-Mehrheit haben sich selbst aus der Linken ausgeschlossen, als sie mit den Memo­randumsparteien, der ND, der PASOK, To Potami, gegen die eigene Linke stimmten und damit das neue Memorandum durch das Parlament peitschten.

Man spaltet sich nicht leichtfertig von einer Partei ab, welche für kurze Zeit die Hoffnung fast der ganzen Bevölkerung darstellte. Aber nach dem letzten Trick der Tsipras-Gruppe, den vorgezogenen Neuwahlen, um die Linke los zu werden, blieb den loyalst Gesinnten unter dieser keine andere Alternative – außer die Linke aufzugeben. Die Linke Plattform konstitu­ierte sich somit zusammen mit mehr als einem Dutzend Gruppen und Bewegungen aus der konsequenten Linken, zur neuen Bewegung. Die Linke Plattform bleibt zwar der Kern. Sie ist aber bei weitem nicht die einzige Komponente der neuen Bewegung.

Radikal-sozialistisch und Anti-Memorandum – auf diese beiden Slogans lässt sich das Pro­gramm der Volkseinheit bringen. Das NEIN zur EU-Austerität vom 5. Juli ist ihre wirkliche Geburts-Urkunde. Sie definiert sich als „patriotische Volksfront“, und fordert damit schon die Häme aller Pseudo-Internationalisten heraus. Aber man muss erst die koloniale Situation, die totale Abhängigkeit von Berlin / Brüssel wieder auflösen, bevor man nur denken kann, eine eigene Politik zu machen. Dabei stellt sie aufrichtig fest: Als Front sind wir nicht monoli­thisch und wollen es auch gar nicht sein, weder ideologisch noch praktisch-politisch. Aber: Wir stehen gegen die Austerität, für den Schuldenschnitt, auch für einen Schnitt in den priva­ten Schulden, welche die Haushalte erdrücken. Die Privatisierungen mit ihren räuberischem Charakter werden wir wieder rückgängig machen. Wir wollen das Einkommen wieder heben, den Arbeitsmarkt umgestalten und Kollektivvertrags-Verhandlungen entsprechend unterstüt­zen. Auch werden ein neues („umverteilendes“) Steuersystem einführen. Ein leistungsfähiges Gesundheitssystem muss wieder aufgebaut werden. Mit Deutschland werden wir in harte Ver­handlungen treten, um endlich die Frage der deutschen Kriegs-Schulden aus der seinerzeiti­gen Zwangs-Anleihe zu bereinigen.

Das Alles hat Konsequenzen. Wir müssen die „monetäre Souveränität“ wieder gewinnen und die Bindung der griechischen Nationalbank an die EZB lösen. Konkret heißt dies: Der Austritt aus der €-Zone steht auf der Tagesordnung. Danach, und hier beginnt das Programm deutlich über die Anti-Memorandum-Linie hinaus zu gehen, müssen wir die Banken nationalisieren. Wir werden regionale und nationale Planung etablieren. Der Arbeitsmarkt muss neu gestaltet werden. Wir werden überdies einen Teil der Importe zu ersetzen versuchen. In der Industrie-Politik werden wir u. a. neue Formen der Produktion und der Wirtschaft unterstützen. In der Außenpolitik stehen wir gegen die wahnsinnige US- und EU-Konfrontations-Politik und den neuen Kalten Krieg. Das Problem Zypern lösen wir entlang der Linie der UNO. Mit der Türkei wollen wir freundschaftliche Beziehungen, doch lehnen wir jede Grenzveränderung ab: Basis ist das Seerecht.

Wir lehnen es auch ab, uns der NATO zu unterwerfen und wollen uns aus diesem Club zurück ziehen. Schließlich muss die militärische Zusammenarbeit mit Israel beendet und der palästinensische Staat anerkannt werden.

Und die EU? „Die Frage, ob Griechenland die EU verlässt, ist auf die Agenda zu setzen.“

Die folgenden, auch kritischen Bemerkungen sollen keineswegs als Wadel-Beisserei ver­standen werden. Wir müssen eine nüchterne Analyse durchführen, und dazu gehört eine solidarische Kritik – man zögert, das Wort zu verwenden: Heißt doch Solidarität heute die Konformität mit den Bösartigkeiten und Verbrechen der EU. Vielleicht sollten wir das Wort ihnen überlassen und einen neuen Begriff prägen.

Wie sehr Realismus nötig ist, zeigt die Entwicklung des letzten halben Jahrs. Wir waren skeptisch hinsichtlich SYRIZA. Doch die ersten Bewegungen nach den Wahlen waren unerwartet positiv. Es war daher völlig richtig, sie zu unterstützen. Aber gleichzeitig mischte sich doch eine gewisse Illusion hinein. Wir erwarteten zuviel von dieser Partei.

Auch jetzt scheint es das einzig Richtige zu sein, LAE zu unterstützen, soweit wir können. Aber wir geben nicht vor Begeisterung unser Hirn ab. Wir wissen, dass manche Kräfte in der LAE ihren eigenen Mut fürchten.

Die gewundenen Formulierungen bezüglich der €-Zone, noch mehr aber hinsichtlich der EU zeigen, dass es in diesen Punkten Differenzen gibt, und dass noch immer oder wieder einigen die Konsequenz abhanden kommt, wenn sie die Folgen ihrer Politik bedenken müssen. Das hat auch eine positive Seite: Sie wollen nicht gegen die Bevölkerung agieren. Aber damit hegt man den Illusionismus: „Wir gehören zu Europa.“ Ja: Aber zu welchem? Zum hoch entwi­ckelten Kern, oder zur geschurigelten Peripherie? Das muss man aussprechen, wieder und immer wieder. Das Ergebnis ist sonst eine Situation wie heute und eine SYRIZA-Politik.

Ein weiterer, ganz entscheidender Punkt ist: LAE wird in den kommenden Wahlen mit Sicherheit keine Mehrheit erhalten. Was geschieht in der folgenden Zeit der Opposition gegen die Memorandums-Parteien? Und damit stellt sich eine Frage, die weit über die Alltags-Politik einer Oppositions-Partei hinaus geht. Denn dringlich notwendig ist: eine neue und vertiefte Debatte um die Problematik von gegenwärtigem Parlamentarismus und sozialistischer Politik. Dieser Punkt kommt überhaupt nicht vor, obwohl es einige reichlich diffuse Nebensätze in diese Richtung gibt: „eine radikale Transformation des Staats, des Justizwesens und der Verwal­tung, … eine gründliche Revision der Verfassung, … ein Zusammenführen von repräsentativer und direkter Demokratie…“

Hier liegt ein Kernpunkt des Programms und eine Defizienz. Es geht nicht darum, hier lange Abhandlungen um die Transformations-Periode, oder wie immer man die künftige Politik bezeichnet, einzufügen. Aber es sollte erkennbar sein, dass sich die Bewegung / Partei darüber Gedanken macht, dass nicht das Grundsätzliche hinter einem hastig zusammen gezimmerten Wahlprojekt und dem alltäglichen Parlamentarismus verschwindet.

Im Einzelnen gibt es noch eine Reihe von Punkten, die man kritisch sehen könnte. Ohne zu beckmessern, frage ich nach: Was heißt „zentrale und regionale Planung“ konkret? Wie kann man in der Asyl- und Immigrations-Politik die „Unterstützung der EU“ verlangen, die man doch verlassen will? Ähnlich: Wenn man die EU verlässt, geht einem TTIP nicht mehr allzuviel an. Doch lassen wir dies. Aber es sind Widersprüche die verraten, dass in der neuen Bewegung auch in solchen Grundfragen keineswegs Übereinstimmung herrscht.

Aber das ist nicht tragisch. Die neue Bewegung ist im Aufbau. Auch wenn eine vertiefte theoretische Bemühung wesentlich ist: In der praktischen Politik wird sich entscheiden, ob LAE dazu wird, was sie anstrebt: eine Volksbewegung und gleichzeitig eine radikal-sozialistische Partei. Aber die Praxis der Theorie gehört auch zur politischen Praxis. Griechenland wird nicht von heute auf morgen transformiert. Doch LAE ist ein viel versprechender Ansatz. Das verdient unsere ganze Sympathie und unsere Unterstützung, soweit wir sie leisten können.

10. September 2015

Der englische Text des Programms:

ttps://www.jacobinmag.com/2015/09/tsipras-popular-unity-syriza-eurozone-snap-elections/