DER EURO – DIE STRUKTUR „KERNEUROPAS“: Der deutsche Imperialismus wird realeuropäisch.

Linz, 15. November 2015, Solidarwerkstatt

Im Wall Street Journal vom 20. Mai 2015 findet man eine auf dem ersten Blick unerwartete Meldung. „Mr. Schäuble said London’s wish for looser EU ties could provide a vehicle for the tighter-knit eurozone economic governance that Berlin thinks is indispensable to the currency union’s long-term survival.“

In ein deutlicheres Deutsch übersetzt: Schäuble will mit Cameron koalieren, denn er möchte durch eine starke Zentralisierung der Eurozone ein für alle Male fixieren, dass die Deutschen in der Kern-EU ohne jede weiteren möglichen Widerstände das Sagen habe. Dafür kommt er gern London entgegen. Die Brüsseler Bürokratie stört ohnehin viel zu häufig die deutsche Politik durch ihre eigenmächtigen Einmischungen in Schäubles Kreise. Die EU außerhalb einer wenn es sein muss auch geschrumpften Euro-Zone soll also auch formell auf eine politische Peripherie reduziert werden. Ihre Kompetenzen wären, entsprechend auch den britischen Wünschen, deutlich einzuengen. Das Zwei-Kreise-Modell wird institutionalisiert. Weitere noch stärker peripherisierte Kreise („Partnerschaften“) sind möglich.

Aber das ist im Grund nichts Neues. Am 1. September 1994 – Finnland, Österreich und Schweden hatten bereits über ihre Mitgliedschaft zur künftigen EU, die EG wechselte nämlich gerade ihren Namen, abgestimmt. Wie erwartet, war das Ergebnis pro-EG, in Österreich sogar mit unerwartet deutlicher Mehrheit. Norwegen würde in einem Vierteljahr abstimmen (am 27. / 28. November 1994), und das würde sicher auch kein Problem geben. Das kam dann zwar anders als erwartet.

Doch nun traten der außenpolitische Sprecher der CDU, Heinrich Lamers, und der Fraktions-Chef der Union, Wolfgang Schäuble, an die Öffentlichkeit. Sie präsentierten einen neuen Entwurf für die Zukunft der EG / EU. Damit erregten sie einigermaßen Aufsehen. Sie vertraten nämlich ein Zwei-Kreise-Modell, eine Kern-EU. Gerade im Abstand von mehr als zwei Jahrzehnten ist es wert, dies wiederum anzusehen.

Das Lamers-Schäuble-Papier („Überlegungen zur europäischen Politik“)

Die zwei Herren beginnen mit einer Krisen-Rhetorik – wie üblich, möchte man sagen. Wir finden da die hohlen Phrasen von der Notwendigkeit des „engeren Zusammenwachsens“, damit nicht alles wieder auseinander fällt. Nicht nur eine Wirtschaftskrise wird beschworen, wegen der „überlasteten Sozialsysteme“ natürlich, sondern gleich eine „Zivilisationskrise“. Dahinter steht eine politische Realität: Es ist die Sorge der deutschen politischen Klasse um einen Kontrollverlust. Eine enorme Erweiterung der EG zeichnet sich ab, nicht nur die vier (! – man erwartet ja auch noch Norwegen) reichen Länder mit dem 1. Jänner 1995, sondern auch der Osten.

Gleichzeitig sollte dieses hybride aber doch schon supranationale Gebilde EG einer Transfor­mation unterzogen werden, hin zu einem transnationalen bürokratischen Imperium. Bürokra­tie, Wirtschafts-Oligarchie und intellektuelle Eliten bauten an ihrem neuen Staat. Und die deutsche politische Klasse fragte sich: Wie können wir unsere Dominanz und Hegemonie in dieser neuen Groß-EG bewahren?

Ich habe nicht die Absicht, das Papier im Einzelnen durch zu besprechen. Der Prozess schien auch in den nächsten Jahren gründlich anders zu laufen als hier entworfen. Und doch sind wir mittlerweile etwa dort angekommen, wo Lamers und Schäuble schon 1994 hinwollten. „Kerneuropa“ sollte die interne Zentrum-Peripherie-Struktur formell herstellen. Sie ist heute in einem Ausmaß gegeben, das alle erkennen können. Und damit ist es doch wert, einen kursorischen Blick auf dieses Papier zu werfen. Denn wie wurde dies durchgesetzt?

Auf S. 6 können wir lesen: „Die Währungsunion wird der Kern der politischen Union“ sein. Das Problem für die Deutschen damals und für einige heute noch immer, darunter möglicher Weise Schäuble, den mächtigsten Mann dieses Vereins, war und ist: Nach seinen Überlegun­gen damals sollte die Einheitswährung eigentlich nur den seinerzeitigen DM-Block umfassen, vielleicht erweitert um das eine oder andere Mitglied, Finnland etwa, oder Schweden. Aber insbesondere die Südländer drängten aus symbolischen, man kann sagen: aus identitären Gründen in die neue Währung: Italien, Spanien, Portugal; und Griechenland.

Die deutschen Politiker wollten dies damals nicht. Lamers, einer der beiden Verfasser, erzählt in einem Interview mit der „Zeit“ vom 18. August 2011: Er persönlich sei durchaus dagegen gewesen. Aber in seiner Fraktion sei die Stimmung gewesen: „Ach die Griechen. Dieses Problem lösen wir schon!“ Es war einerseits eine Überschätzung der eigenen Macht gegen­über strukturellen Entwicklungen. Zum Anderen aber dämmerte es einigen vielleicht auch schon: Das ist ein Gottesgeschenk. Da bieten sich die Lämmer selbst zum Fraß an.

Heute können wir die Strukturen etwas besser durchschauen. Es gab und gibt da nicht einfach unterschiedliche technische Auffassungen. Es gibt unterschiedliche politische Linien.

Schäuble nimmt mit seiner Haltung die national-deutsche Linie von Kohl wieder auf, aller­dings auf einer höheren Ebene. Denn mittlerweile hat sich gezeigt: Die Eurozone entspricht dem deutschen Export-Kapital in einer Weise, wie es sich das vielleicht gar nicht hat träumen lassen. Denn es gab nun Widerstände gegen die deutsche Politik, zum ersten Mal ernstlich in ihrer Existenz. Ich denke da an die SYRIZA-Regierung vom Jänner bis Juni dieses Jahres. Da aber standen alle Regierungen auf Seiten der BRD. Die BRD hat also nahezu kostenlose Hilfstruppen, wie sie es sich nur wünschen kann.

Ein historischer Vergleich: „Mitteleuropa“

Erlauben wir uns einen historischen, einen ideengeschichtlichen Blick. Das ist mehr als ein Luxus. Das klärt uns über die Denkweise der damaligen Eliten auf und trägt eine Menge zum Verständnis bei.

Die Bildung der preußisch-deutschen Nation und als deren Krönung die Ausrufung des Kai­serreichs in Versailles am 18. Jänner 1871 brachte eine Machtverschiebung in Europa. Ab nun fand im Europäischen Konzert, der damaligen Organisation des Imperialismus, ein qualitativ neuartiger Wettbewerb statt. Hatten die Großmächte bis dahin versucht, diesen Wettbewerb in halbwegs friedlichen Rahmen zu halten, so spitzte er sich jetzt auf antagonistische Weise zu.

Polarisierung scheint im Zeitalter der Globalisierung eine Bedingung zu sein, dass der nach Außen und gegen die schlecht entwickelte Welt gerichtete Imperialismus seine Widersprü­che im Inneren auf antagonistische Weise in einer „Endlösung“ austragen will, dass er zum (Welt-) Krieg drängt. Die Weltkriege waren schließlich dadurch gekennzeichnet, dass sich das politische Weltsystem in zwei Lager teilte. Was bedeutet das für heute?

Der deutsche Imperialismus hat vor einem Jahrhundert bewusst auf den Weltkrieg hingearbei­tet. Er dachte, die Herrschaft über Kontinental-Europa in einem Gewaltstreich an sich reißen zu können. Sarajewo lieferte den lang ersehnten Anlass. Die kaiserlichen Deutschen wollten den Habsburgerstaat an Bord haben, so schwächlich und wackelig er auch schon sein mochte. Die habsburgischen Eliten aber begriffen in ihrer Unfähigkeit nicht, dass sie eben begannen, ihr eigenes Grab zu schaufeln, mochte der Krieg so oder so ausgehen. Anfangs des Kriegs, als es für die Deutschen noch gut lief, konnte man auch das eigene Programm endlich offen darlegen.

Der Nationalliberale Friedrich Naumann (1915) entwarf einen deutsch dominierten Wirt­schaftsraum von Trondheim und Stockholm bis Istanbul. „Mitteleuropa“ war somit der Plan des aggressiven deutschen Imperialismus. Aus heutiger Sicht gelesen, ist es ein früher Ent­wurf der EU. So ist denn auch das reale Kerneuropa von heute eine aktualisierte Neuauflage der Naumann‘schen „Mitteleuropa“-Pläne vor einem Jahrhundert. Nach dem – natürlich sieg­reich beendeten – Krieg würden praktisch alle europäische Staaten, auch die Kriegsgegner, eingeladen, sich an dieser Union unter deutscher Führung zu beteiligen. Es entspricht etwa dem, was Alexandre Kojève genau drei Jahrzehnte später entwarf, allerdings aus französischer Sicht und unter französi­scher Führung gedacht (Reiterer 2014). Beide Vorschläge sind Realentwürfe für ein supra­nationales Imperium. Kojève ist ein bisschen altmodisch, wenn er es in eine lateinische Super­nation kleidet. Naumann ist da nüchterner. Er setzt auf die deutsche Wirtschaftskraft, vergisst aber keineswegs auf die politische und militärische Stärke des siegreich erwarteten deutschen Reichs.

Schäuble hat diesen Raum inzwischen. Er muss ihn nur noch richtig organisieren. Denn es läuft nicht ganz so rund, wie er es sich wünscht. Man muss ihn straffen, und den Regierungen der anderen Mitgliedsstaaten sagen, wo es lang geht. Die Instrumente dazu sind weitgehend geschaffen: der Fiskalpakt, das europäische Semester, etc., übrigens im Vereinfachten Ver­fahren nach Art. 48 AEUV, vorbei an den zu mühsamen Vertrags-Veränderungs-Prozeduren. Aber noch fehlt das volle Durchgriffsrecht. Noch müssen (z. B.) die Österreicher nicht bis 67 Jahren arbeiten, noch erhalten sie Pensionen aus einem öffentlich geführten Pensionssystem im Umlageverfahren, die häufig über der Armutsgrenze liegen. Noch spuren also nicht alle.

Ob sich Schäuble mit seiner harten Linie durchsetzt, die Chaos im Süden im Gefolge eines Euro-Austritts nicht nur in Kauf nimmt, sondern möglicher Weise sogar wünscht, ist eine an­dere Frage. Diese Politik ist auch in der BRD umstritten. Ich meine nicht die SPD. Die zählt politisch nicht mehr. In gewissem Sinn steht sie außerdem durchaus auf Schäubles Position. Ihr Vorsitzender Gabriel schlägt ja seit neuesten, im längerfristigen Sinn der harten Konservativen, ein Eurozonen-Budget vor.

Wohl aber dürfte die Parteiführung der CDU mit Merkel an der Spitze diese Linie nicht ohne weiteres billigen. Die Kanzlerin steht halb und halb im Brüsseler Lager. Im täglichen Hetz-Artikel dieses Sommers von BILD am 5. Juni 2015 gegen Griechenland warnt der Boulevard düster davor, dass der Regierung ihr „wichtigster Minister“ abhanden kommen könnte. Denn Merkel habe, ohne Schäuble auch nur zu informieren, Juncker, Draghi und Lagarde zu Bera­tungen eingeladen. Und um dieses Schreckbild zu steigern und zu unterstützen, bietet das Blatt eine Reihe von „Top-Ökonomen“ auf, vom sattsam bekannten H.-W. Sinn bis zu einem gewissen Michael Heise („Allianz-Chefökonom“). BILD mobilisiert den rechten Flügel der Nationaldeutschen: „‚Wolfgang Schäuble geht keine faulen Kompromisse ein, er wird seine Glaubwürdigkeit nicht gefährden,‘ sagt CSU-Mittelstandschef Hans Michelbach. ‚Ohne Schäuble stimmt die Fraktion nicht zu.‘ … Wenn Schäubles Linie aufgeweicht wird, gibt es einen Aufruhr in der Fraktion.“ Mit tatkräftiger Hilfe von Tsipras und dessen Kumpanen hat sich Schäuble in der Zwischenzeit durchgesetzt, durchaus im Sinne von Merkel.

Da fragt man uns rhetorisch, und ganz mit der Absicht, uns zu schrecken: Wollt Ihr denn, dass Schäuble Griechenland aus der EU wirft? Na und?

Der Euro als Wirtschafts-Automatismus nach Innen – die GASP als Instrument nach Außen

Welche Funktion also haben Währungsunion und Euro in den Entwürfen, und vor allem: in der Verwirklichung?

Wenn Juristen den „Staat“ definieren, legen sie ihren Hauptakzent auf das Gewalt-Mono­pol. Das ist gewiss nicht unwichtig. Aber der Staat heute wird damit immer weniger erfasst. Der Staat ist das politische Steuerungs- und soziale Lenkungs-Instrument der Eliten für ihre Ge­sellschaften. Und diese Steuerung geht weit über die Kennzeichnung durch das Gewalt-Monopol hinaus. Der Vulgär-Marxismus – aber nicht nur der, auch Lenin – hat sich darüber hinaus auf einen seltsamen Staats-Mythos eingelassen. So ähnlich, wie er nur eine Geld-Qualität sieht, erkennt er auch nur einen Staats-Charakter.

Aber autoritative Herrschaft besteht, mit Gramsci zu sprechen aus Hegemonie + Diktatur. Und selbst das ist noch einiger Maßen grob ausgedrückt. Überdies ist sie auf mehreren Ebenen und in einer Anzahl von Feldern organisiert. Damit wird jeder Streit um den „Staats-Charakter“ der EU zu einem scholastischen Streit um Worte.

Noch viel wichtiger: Der moderne Staat hat erfolgreich die Unterschichten einbezogen und integriert. Dazu bedurfte er einer ganz spezifischen Mentalität. Er bedurfte der nationalen Identität. Sie soll auf der einen Seite garantieren, dass die Eliten auch die Unterschichten irgendwie als Menschen betrachten, sie als irgendwie ihresgleichen sehen; dass auch der anderen Seite die Unter- und Mittelschichten die Eliten als Fleisch von ihrem Fleisch sehen, allerdings als kompetenter und daher fähig und legitimiert zur Herrschaft. Nationale Identität erwies sich in der Moderne als unverzichtbar.

Identität ist ein Begriff, der in der EG bis in die 1990er nur in einem Zusammenhang vorkommt: Europäische Verteidigungs-Identität. Und damit ist nicht wirklich eine Identität gemeint. Es ist vielmehr ein Kompromiss-Begriff, welche die EG den USA anbot. Denn die sahen durch europäische Ideen einer „Sonder-NATO“ ihre unbestrittene Dominanz in diesem Angriffs-Bund gefährdet. Andererseits drängten sie aber die Europäer zu höheren Militär-Ausgaben. So wurde die Europäische Verteidigungs-Identität zum Code-Wort, welches die europäische NATO gesondert meinte, ohne sie so zu nennen.

Diese sozio-politische Identität ist also eine Scharnier-Komponente des modernen Staats. Erst der postmoderne, der supra-nationale bürokratische Staat glaubt darauf verzichten zu können.

Auch die EG hat eine Zeitlang versucht, sie auf sich selbst zu übertragen, sich selbst also als eine Art Super-Nationalstaat darzustellen. Aber es hat nur bei der oberen Mittelschicht funk­tioniert. Für sie, und nur für sie, ist die EU ihr Staat geworden. Die Unterschichten und die unteren Mittelschichten können in diesen Staat nicht integriert werden. Sie müssen daher in ihn hineingezwungen werden.

Und damit kommen wir zurück zum Euro. Denn das ist seine Haupt-Funktion. Der Euro ist ein wirtschaftspolitischer Mechanismus und ein Automatismus, welcher die Politik überflüs­sig machen soll – jedenfalls in wichtigen Bereichen. Angelegt aber ist dieser Automatismus als irreversible, unverrückbare Einrichtung.

Flexible Kurse waren, weiß der Himmel, kein Allheilmittel einer sonst auch schon auf die Eliten ausgerichteten Politik. Flexible Kurse setzten aber mehr voraus als nur ein Ab- oder Aufwerten von Zeit zu Zeit. Sie waren an eine aktive und aufmerksame Wirtschaftspolitik gebunden, welche an einer Reihe von Schrauben drehte. Gerade das war das Prinzip des poli­tischen Keynesianismus, und gerade das war den monetaristischen Ideologen ein besonderer Dorn im Auge. Die waren nicht parteigebunden. Am besten demonstrierte das der persönliche Einsatz der beiden Politiker, welche das EWS 1978 erfanden: Giscard d’Estaing war der Chef seiner liberalkonservativen Partei, Helmut Schmidt verkörperte die deutsche Sozialdemokra­tie. Das hinderte sie nicht an einer intimen Zusammenarbeit. Denn es war ihnen gemeinsam:

Unumkehrbar ist das entscheidende Vokabel in allen Dokumenten in der Vorbereitung auf die Währungsunion. Denn es hat eine Reihe von Aspekten, politischen wie wirtschaftstheore­tischen.

Man muss die Rhetorik der Eliten und ihrer Sprecher rekonstruieren.

In der Planungs- und Vorbereitungs-Phase zur WU gab es zwei Denkschulen. Die eine nannte man die Krönungs-Theorie. Die WU sollte den Abschluss eines ökonomischen und politi­schen Konvergenzprozesses bilden. Wenn ein vergleichbares Wohlstands-Niveau und eine vergleichbare Produktivität erreicht sei, wäre der „natürliche“ Abschluss eine gemeinsame Währung. Dies ist ein Gedanke aus der ökonomischen Orthodoxie und war daher besonders unter deutschen Ökonomen verbreitet. Im Grunde kommt dies von der These der OCA (Optimales Währungsgebiet, siehe gleich anschließend) her.

Die zweite Denkschule hatte keinen so eindeutigen Namen, wurde aber u. a. als Lokomotiv-Theorie bezeichnet. Sie überwog bei den Politikern und setzte sich schließlich durch. Der Euro wurde als Instrument gesehen. Auch er sollte Konvergenz herstellen, aber nicht unbe­dingt Konvergenz im Wohlstands-Niveau und der Entwicklung. Es sollte zu einer Konver­genz der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf Basis neoliberaler Rezepte kommen. Vorbild für dieses altmonetaristische Modell war die BRD. Für die Währungsunion hätte das in der Realität bedeutet: Man hätte sie nach den Erfahrungen mit dem EWS ad calendas Graecas verschoben.

Man kann dies politischer ausdrücken. Zwischen diesen beiden Denkschulen liegt ein wirk­licher Paradigmen-Wechsel. Die „Krönungs-Theorie“ verkörpert noch die alte E(W)G mit ihren im Grund nationalstaatlichen Strukturen. Allerdings sollte sie überdacht werden von Institutionen, welche auch bereits supra-nationalen Charakter trugen. Schließlich brauchte man eine Zentralbank für die Währung, und man hatte den EuGH, der nie ein herkömmlicher sich an die geltenden Regeln haltenden Gerichtshof war. Er hat stets alles bis über die Grenzen gedehnt, um „die Integration voranzutreiben“, Supra-Nationalität herzustellen.

Die „Lokomotiv-Theorie“ aber forderte den und führte zum supranationalen Staat, zum Imperium. Überschätzt hat sie allerdings die Macht der Bürokratie. Und unterschätzt hat sie nicht nur die Trägheit der nationalen Reaktionen, sondern insbesondere auch den heimlichen und hintergründigen Widerstand der Bevölkerung in den meisten Staaten gegen die Politik der Gesellschaftsspaltung und ihr Hauptinstrument, den Euro.

Der Euro und die Währungsunion bilden die Kernstruktur des supranationalen Imperiums EU. Die Währungsunion soll als Automatismus wirken. Sie soll die Politik des Lohndrucks und der Umverteilung nach oben durchsetzen. Allerdings: Wirklich automatisch funktioniert dies keineswegs. Die Währungsunion soll daher die nationalen Regierungen dazu zwingen, unter Androhung schädlicher Folgen für den Außenhandel, der Benotung durch Rating-Agenturen und damit angeblich steigender Zinsen sowie noch viel direkter: durch Strafzahlungen an die EU. Die Austerität muss unter diesen Bedingungen als alternativlose Politik erscheinen. Basis-Prinzip ist der Grundsatz des Monetarismus: Wirtschaftspolitik muss auf Geldpolitik reduziert werden. Die wiederum soll als Geldmengensteuerung über Zinssätze und Offen-Markt-Politik funktionieren. Wie wir inzwischen wissen, bedeutet dies vor allem eine Förderung der Spekulation.

Der Euro als Mechanismus, als Vehikel zur Erzwingung der ökonomischen Tugend nach den Auffassungen der monetaristischen Orthodoxie, wurde so zum Instrument der Peripherisie­rung. Das gilt im klassischen Sinn einer Spaltung zwischen den zentralen Regionen und den Rand-Ländern mit schwächerer Produktivitätsentwicklung. Es gilt aber auch im Inneren der Gesellschaften, der zentralen wie der peripheren. Der Euro wurde so zum eigentlichen Werkzeug der Gesellschafts-Spaltung und der wachsenden Ungleichheit.

Man muss den Automatismus relativieren. Heute kann keine Wirtschaft ohne Politik funktio­nieren. Um den € abzuschirmen und durchzusetzen, wurden eine ganze Reihe von Instituti­onen und von politischen Mechanismen geschaffen. Die wesentlichste Institution ist die EZB. Sie ist die eigentliche Wirtschafts-Regierung, nach dem Vorbild der deutschen Bundesbank und, vergessen wir es nicht, der OeNB. Unabhängig von jedem Volkswillen und jeder Über­legung von allgemeiner Wohlfahrt, entzieht sie sich konsequent jeder demokratischen Einflussnahme. So ist die EZB noch weit stärker als die Kommission das Musterbild einer Bürokratie, nicht eines Instruments, sondern einer geschlossenen herrschenden Kaste. Die nächste Körperschaft, die man damit vergleichen könnte, ist das Politbüro der chinesischen KP.

Und hier liegt das Problem der Politikvorschläge von Oskar Lafontaine oder Heiner Flass­beck. Die Auflösung der Eurozone sowie die Rückkehr zu einem modifizierten EWS fußt bei ihnen ausschließlich auf Überlegungen der OCA-These. Die Theorie von der „Optimalen Währungszone“ (Mundell 1961, 1973, 1997) geht von der Notwendigkeit aus, Produktivitäts-Unterschiede und in ihrer Folge Unterschiede in den Inflationsraten durch Ab- und Aufwer­tungen zu bewältigen. Das ist keineswegs falsch. Aber es ist angesichts des dichten Institu­tionen-Geflechts um den Euro herum völlig unzureichend. Es erfasst nicht mehr den Kern des Problems. Daher ist denn ein erneuertes EWS, ein Kernvorschlag von Lafontaine, höchstens ein erster Schritt. Damit allein kann diese Politik der Austerität und der Entdemokratisierung nicht mehr umkehrbar gemacht werden.

Spätestens seit diesem Sommer wissen wir: Es geht auch der Brüsseler Bürokratie und hinter ihr der deutschen Elite samt ihren Marionetten von Dijsselbloem bis Faymann ja überhaupt nicht mehr um die Währungsunion als technisches Problem. Schäuble musste abgehalten werden vom Rauswurf Griechenlands aus der Zone. Es geht ihm um die integrale Durch­setzung der deutschen Dominanz als Politik der globalen Eliten. Der Verlust eines Mitglieds in der WU wäre da verschmerzbar. Allerdings berücksichtigt er den politischen Effekt dabei nicht. Merkel und die anderen, insbesondere die Sozialdemokraten haben begriffen: Der poli­tische Effekt des Austritts irgend eines der Mitglieder aus dem Club wäre katastrophal. Der Mythos der Irreversibilität wäre dahin. Politik könnte wieder als rationale Gestaltung, als Wahl zwischen Alternativen begriffen werden. Wenn dies auch noch Erfolg hätte, wenn sich Griechenland nach einem Austritt wieder erfangen würde, wäre das erst recht nicht auszuden­ken. Deswegen hat Merkel ihn auch eingebremst, und knirschen einige unter den anderen Regierungen mit den Zähnen über die Schäuble’sche Politik. Sie möchten nicht, dass ihnen die Scherben der EU um die Köpfe fliegen.

Aber das Zwei-Kreise-Modell – es können auch durchaus mehr Kreise sein – des Wolfgang Schäuble ist eine so ingeniöse Idee, dass er ungern davon lassen möchte. Der national-deut­sche Imperialismus soll in einen zentralen westeuropäischen Ultra-, besser: Super-Imperialis­mus transformiert werden. Der wird dann weiter nach deutschen Takt marschieren.

Dazu bedarf es aber nicht nur der Wirtschaftspolitik. Die GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) hätte die Aufgabe, diese Politik nach Innen durch eine klassische Politik des Imperialismus mit politischen und militärischen Mitteln abzusichern. Sie hat allerdings bisher schlecht funktioniert, mit Ausnahmen: Der erste deutsche Aggressionskrieg nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem grünen Führer Franz-Josef Fischer, hat noch das erwünschte Ergebnis gebracht und Serbien umgedreht. In Kosovo hat das Diktat geklappt, in BiH schon nicht mehr. Funktionierte aber diese gemeinsame Politik nach Außen, so war es vor allem die Politik der NATO. Anderswo war hingegen ein Scherbenhaufen die Folge.

Die Ukraine demonstriert dies am besten. In einem ersten Anlauf schien es gut zu gehen. Das letztklassige Personal am Ort aber verdarb die Geschichte. Nun aber wollte die EU zeigen, wer das Sagen hat, Unfähigkeit und Korruption von Timoschenko und Juschtschenko hin oder her. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Gegenseite auch gelernt hatte und reagieren würde. Nach dem Putsch in Kiew vom Feber 2014 vereinnahmte Russland einfach die Krim, unerwartet! In ihrem Grimm ließen die Berliner und Brüsseler Damen und Herren darauf ihren Marionetten freie Hand. Die aber brachen einen Bürgerkrieg im Osten vom Zaun. Heute gehört die Ukraine zu den vielen „failed states“ nach Interventionen des Westens. Die Kosten trägt die Bevölkerung, und nicht nur im Osten.

Bei sich zu Hause wollen die deutschen Konservativen den Parlamentarismus erhalten, zu­mindest vorerst. Zu gut hat er über Jahrzehnte gearbeitet, zu gut hat er die Stabilität und die Integration gesichert. Ist doch heute Schäuble auch der bei der deutschen Bevölkerung anerkannteste Politiker der BRD, vor Merkel. Ob aber anderswo diese parlamentarische Demokratie, be­schränkt wie sie in ihren Mitwirkungsmöglichkeiten für die Bevölkerung ist, vor die Hunde geht, in Griechenland, in Portugal, in Spanien, in Italien, das kümmert doch Schäuble und Merkel nicht.

Schluss

Den Übergang in diese Politik bildete die Etablierung der Währungsunion. Wir sahen die Folgen nicht nur in Griechenland. Es war ein Putsch, was da Tsipras und seine Kumpanei unter Druck von Schäuble veranstalteten. Denn nach griechischem Recht war das Referendum gültig und bindend. Nun können sie argumentieren, dass die Bevölkerung, die wieder zur Wahl ging, dem zugestimmt habe. Die Angst vor dem Ungewissen hat gewirkt. Ein großer Teil aber blieb enttäuscht weg. SYRIZA hat ein Viertel der Stimmen vom Jänner verloren. Das betrügerische Prämien-Wahlrecht gab ihr allerdings auch diesmal ein Mehrheit zusam­men mit ihrem Anhängsel ANEL, denen es nur um Posten geht.

Anderswo agierte man noch klarer und offenkundiger. Die Politik des Cavaco Silva in Por­tugal war erst recht ein Putsch. Hier wurde sogar das bisher heilige Grundprinzip gebrochen, dass die parlamentarische Mehrheit nach Neuwahlen ein Anrecht auf Regierungsbildung hat. Der Präsident hat dies expressis verbis damit begründet, die bisherige Politik müsse fortge­setzt werden – nachdem dieser in den Wahlen eine deutliche Abfuhr erteilt worden war. Wo und wann kommt der nächste Putsch im Namen des Euro? Wann werden die Task forces gegen eine missliebige Regierung im Inneren eingesetzt, welche die Austerität nicht mehr fortsetzen möchte?

Die Euro-Zone aufzulösen reicht nicht mehr. Das supra-nationale Imperium selbst, die EU, muss zerschlagen werden, wenn der Wohlstand und die Demokratie in Europa gerettet werden sollen.

Literatur

Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.

Lenin, W. I. (1975 [1916]), Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Werke 22, 189 – 309.

Mundell, Robert A. (1961), A Theory of Optimum Currency Area. In: AER 51, 657 – 665.

Mundell, Robert A. (1973), Uncommon Arguments for Common Currencies. In: Johnson, Harry G. / Swoboda, Alexander K., eds. The Economics of Common Currencies: Proceedings. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Mundell, Robert A. (1997), Optimum Currency Areas. Extended version of a luncheon speech presen­ted at the Conference on Optimum Currency Areas, Tel-Aviv University, December 5, 1997. http://www.columbia.edu/~ram15/eOCATAviv4.html (download: 27. Oktober 2013)

Naumann, Friedrich (1915), Mitteleuropa. Berlin: Georg Reimer.

Reiterer, Albert F. (2014), Der Euro und die EU. Zur politischen Ökonomie des Imperiums. Berg­kamen: pad.

Reiterer, Albert F. (2015), Denkwende. Zur „Schlacht um den Euro“. Bergkamen: pad.

Schumpeter, Joseph A. (1976 [1942]), Capitalism, Socialism and Democracy. With a new introduction by Tom Bottomore. New York: Harper & Row.