Brexit und Irlandfrage

Wie die Eliten versuchen das Votum auszuhöhlen

von Rainer Brunath

Nach dem sog. Durchbruch bei der „Scheidungsrechnung“, die sich auf 55 Milliarden Euro beläuft, sollte es nun endlich weitergehen in den Verhandlungen. Aber schon diese Zahl, die nicht weit entfernt ist von der Summe, die die EU für den Abschied verlangte, löste Proteste in Britannien aus.

Von rechts meldete sich Nigel Farage, der solch einen Deal einen „Ausverkauf“ nannte. „Dann sei es immer noch besser, ohne Deal aus der EU auszutreten“, argumentierte er, während Vincent Cable, Chef der Liberalen, die als Brexit-Gegner, aufgetreten waren, ein zweites Referendum forderte und angeblich sollten Labour-Abgeordnete öffentlich lamentieren, dass Boris Johnson und Michel Grove [Zitat]„niemals gesagt hätten, dass es eine so hohe Rechnung für die Scheidung geben werde – ganz im Gegenteil“.

Ein zweite zentrale Forderung der EU, nämlich die Behandlung der Rechte der in Großbritannien lebenden EU-Bürger erfüllte London quasi. Es hieß, in Zukunft sollten gewisse Fälle an den Europäischen Gerichtshof überstellt werden.

Die Behandlung der Frage der inneririschen Grenze stand als nächstes an. Kam man weiter? Zwar versuchten die Verhandlungsdelegationen und die Premierministerin Theresa May die Vereinbarung als „Erfolg“ darzustellen. Aber was war denn nun der „Erfolg“ und wie sah die bekannt gegebene „Einigung“ nun aus?

Es hieß, dass das UK eine “volle Angleichung“ an die Bestimmungen des EU-Binnenmarkts herstellen würde, da sich vorläufig keine andere Lösung anböte, Grenzkontrollen auf der irischen Insel zu vermeiden.

Um es gleich zu sagen, diese „Einigung“ verschärfte im Gegenteil die Irlandfrage dramatisch. Die irische Regierung hatte sich eingemischt und gefordert, dass zwischen Irland und Nordirland alles so bleiben sollte, wie es ist und Premierministerin Theresa May stimmte zu, nachdem ihr Vorschlag, die harte Grenze zwischen Nordirland und der britischen Insel festzulegen, bei ihrem Koalitionspartner, der nordirischen erzkonservativen Unionistenpartei DUP auf Protest stieß. Diese Partei war und ist erbitterte Widersacherin eines Sonderstatus für den Norden Irlands, den Premierministerin Theresa May nicht durchsetzen konnte oder wollte. Die DUP trieb die Angst um, dass der ursprüngliche Vorschlag von Seiten Londons ein erster Schritt zur Abkopplung der Provinz vom Rest des Königreichs wäre.
„Wer der vorläufige und eigentliche Sieger im Geschacher um Formulierungen ist, wurde inzwischen bekannt. Es ist jedoch nicht die Arbeiterklasse Britanniens und Irlands“, kommentierte der Morning Star.

Man fasst sich an den Kopf und fragt sich: „Gibt es denn so etwas? Austritt aus der Zollunion und gleichzeitig europäischer Binnenmarkt? Wieder ein Sonderstatus Britanniens in seinen Beziehungen zu Kontinentaleuropa? Eine Regelung die nur ein gewisses Gebiet im Königreich betrifft? Würde das nicht zum Verlangen anderer Gebiete Britanniens führen, ebensolche Sonderregelungen zugestanden zu bekommen?“

Und prompt kam es so. Schottland meldete sich. Man könne Schottland nicht verwehren, was Nordirland zugestanden würde. Selbst der Londoner Bürgermeister erhob ein solches Ansinnen.

Das Referendumsergebnis vom Juni 2016 war die Konsequenz einer, wie auch immer gearteten sozialen Bewegung in den Midlands vom UK. Ob der kleine, sich betrogen fühlende Arbeiter, Mittelständler oder sogar Selbstständige nun von den Argumenten der UKIP, der Tories oder der LEXIT(left Brexit)-Bewegung hat überzeugen lassen, ist für den sozialen Charakter des Ergebnisses unerheblich. Und das ist die Seite der Medaille, die weder von Theresa May und erst recht nicht von Bankern und Industriellen akzeptiert wird. Sie suchten und suchen nach Möglichkeiten, den Brexit weichzuklopfen, bis er nicht mehr zu erkennen sein wird.

Willkommener Anlass dem Brexit und deren Befürwortern die Schuld an der Misere zuzuschieben, war die Frage nach der Behandlung der inneririschen Grenze. Sie wurde als Aufhänger dafür verwendet, Zollbestimmungen und Binnenmarkt trotz Ausscheiden der Briten aus der EU nicht anzutasten. Das Problem „Nordirland“ war also jenen industriellen und monetären Eliten im UK und der EU willkommene Gelegenheit war, die soziale Bewegung, die sich im Brexitreferendum manifestiert hatte, ins Leere laufen zu lassen. Oder gegen die Wand, wie man will und riskiert damit sogar den Zerfall des UK oder zumindest heftige innere Konflikte. Und es ist anzunehmen, dass sie es dabei nicht bewenden lassen. Soziale Bewegungen fürchten die wie der Teufel das Weihwasser.

Bekannt gewordene Kommentare dazu aus dem inneririschen sozialen Milieu sprechen die gleiche Sprache: [Zitat] „Obwohl die Grenzfrage für uns wichtig ist, muss man erkennen, dass sie sowohl von der EU als auch von den Briten genutzt wurde, um ihr gemeinsames Ziel eines minimalistischen Brexits voranzutreiben. Dabei diente ihnen das irische Volk als Bauernfigur zum Erreichen des von beiden Seiten gewünschten Endes. Wenn sie das Ergebnis des Referendums schon nicht umdrehen können – was […] deren bevorzugte Option ist – dann arbeiten sie daran, dass […] Britannien weiter die engste ökonomische und politische Beziehung mit der EU behält; in Worten die EU verlässt, doch in Taten bleibt und damit die demokratische Entscheidung der britischen Wähler zunichte gemacht wird.“
Auch Robert Griffith in Britannien, Befürworter des LEXIT (left Brexit) und Parteiführer der CPB sieht in der Grenzfrage vor allem einen Vorwand für Britannien, die weitere Abhängigkeit von EU-Regeln und -Institutionen zu erhalten. [Zitat] „Dieses auf Großunternehmen ausgerichtete Minderheiten-Tory Regime führt loyal die Instruktionen des EU-Wirtschaftsbeirates aus, Britannien für unabsehbare Zukunft an den EU-Binnenmarkt zu binden und für dieses dubiose Privileg auch noch einen Arsch voll Geld zu bezahlen.“

Soziale Bewegungen erleben stets, wenn sie glauben, ihr Ziel erreicht zu haben, die Aushöhlung von innen oder Unterwanderung durch bezahlte Subjekte und die rigiden Bremsmanöver ihrer Widersacher. Zur Absicherung des Erreichten bedarf es kontinuierlicher fantasievoller Erneuerung, Wachsamkeit, der Solidarität nach innen trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten in taktischen Fragen und Geschlossenheit. Ob die Brexit-Bewegung im UK, mit ihr die Labour-Party und ihrem Leader Jeremy Corbyn, diesen langen Atem hat, wird erst die Zukunft zeigen.