DIE SOZIALDEMOKRATIE UND DER „POPULISMUS“: „Moderne“ und „Postmoderne“

Die SPD ist am Zusammenbrechen. In den letzten Jahren haben die Arbeiter sie bereits verlassen. Nun finden sie auch die verbliebenen Mittelschichten nicht mehr attraktiv. Die oberen Unterschichten folgen den Arbeitern, die Beamten und die mittleren Angestellten finden die Grünen nun viel eher sexy – das ist ja der beliebte Ausdruck dieser Bobos – sogar in Bayern. Die einen gehen zur AfD, die anderen wechseln in Massen zu den Grünen.

Die Bayernwahl war dafür ein Kanonenschuss. Hessen folgte. Als neue Zentrumspartei setzen sich im Moment die Grünen durch. In Bayern und in der BRD überhaupt sind sie am ehesten Liberal-Konservative. Für die SPD bleibt keine wirkliche Rolle mehr übrig. Sie ist ein Reste-Reservoir für ehemalige nostalgische Stammwähler, eine Spezies, die immer schneller ausstirbt.

Doch das ist keineswegs eine deutsche Erscheinung. In Luxemburg fanden am gleichen Tag Wahlen statt. Im Steuerparadies Westeuropas par excellence brachen die Sozialdemokraten zusammen, die dort ohnehin keine besondere Rolle gespielt hatten. Der „Merde“-Außenmini­ster Asselborn wird sich vielleicht einen neuen Job suchen müssen. Die Krise der Sozial­demokratie ist eine gesamteuropäische Erscheinung. Aber das ist kein Automatismus.

Die Sozialdemokratie wird jetzt das Opfer ihrer eigenen Strategie. Diese Parteien haben ab den 1960er Jahren, die einen früher, die anderen später, darauf gesetzt, dass sie ihre proleta­risch-plebeische Basis behalten, auch wenn sie politisch-sozioökonomisch zur eigentlichen technokratischen Vertretung der mittleren und oberen Mittelschichten werden. Das hat einige Jahrzehnte tatsächlich funktioniert. Der bekannteste Vertreter dieser Strategie war Bruno Kreisky.

Aber nun verliert sie auf beiden Seiten ihre Gefolgschaft. Die Plebeier laufen ihr seit zwei Jahrzehnten davon, erst langsam, jetzt aber in Scharen. Sie sind inzwischen weitgehend bei den Rechtspopulisten zu Hause.

Aber auch die Mittelschichten scheinen nun eine neue Heimat zu suchen und zu finden. In der BRD besteht die in oder bei den Grünen. Den Mittelschichten ist die SPD zu unsicher gewor­den. Beim halbherzigen Versuch, die Unterschichten doch noch zu halten, geht die SPD für den Geschmack dieser Schichten zu sehr auf die Wünsche der Plebeier ein: in der Migrations­frage; bei den Pensionen; in der Einkommens-Politik. Die städtische Schickeria, die Bobos, haben andere Identitäten und andere materielle Interessen. Und die SPD steht, wie die SPF, wie die italienischen Demokraten, wie der Psoe, vor dem Zusammenbruch.

Von Österreich müssen wir hier nicht sprechen. Hier gibt es durch die Parteikrise der Grünen eine gewisse Verzögerung. Die SPÖ arbeitet aber tatkräftig daran, ihren Untergang auch hier wieder zu beschleunigen…

In diesem Sinn ist die taktische Empfehlung sogenannter „Linker“ in der SPD (oder auch der SPÖ), sich wieder „stärker“ (!) auf die Unterschichten zu orientieren, zum Scheitern verur­teilt. Der Hinweis auf Corbyn und Sanders übersieht, dass diese Strömungen in der Opposi­tion sind. Corbyn wird ganz schnell entzaubert sein, sollte Labour die Regierung stellen. Denn dann würde er sich schnell der Mehrheit seiner Abgeordneten beugen und zu einem verwässerten Blairismus zurückkehren. Man sehe sich nur sein Lavieren zum Brexit an! Sogar jetzt darf er nicht sagen, dass ein sinnvoll durchgeführter Brexit die einzige sinnvolle linke Politik ist – obwohl er dies vielleicht sogar meint.

Doch das ist vielleicht ein bisschen oberflächlich, zu journalistisch. Denn in Wirklichkeit hat sich seit 50 Jahren die Sozialstruktur geändert; geändert hat sich die soziale Mentalität, die soziale Identität; und es steht das ganze bisherige Parlamentarismus-Modell vor einer Krise.

Beginnen wir ziemlich grundsätzlich.

Im Jahr 1800 beherbergte die Welt etwa 1 Milliarde Menschen. Im Jahr 1950 waren es 2,5 Mrd. und nun, 2018, kann man diese Zahl gut verdreifachen. Es werden etwa 7,6 Mrd. sein. Die Frage nach den Ressourcen kann man also mit Grund stellen.

Bereits vor gut zwei Jahrhunderten antworteten darauf konservative Kritiker der Entwicklung mit Ängsten. Sie sahen ihren Standard und ihre Stellung gefährdet. 1798 brachte Malthus sein Buch über das „Bevölkerungsgesetzt“ heraus. Die Erde kann so viele Menschen nicht ernäh­ren! Aber obwohl der Malthusianismus stets eine durchaus sichtbare Unterströmung blieb, war doch sein realer Einfluss sehr begrenzt. Der Beginn des modernen Wachstums wischte die konservative Kulturkritik im Gewand der demographischen Pseudo-Kritik vom Tisch. Zum eigentlichen Träger des optimistischen und grenzenlosen Entwicklungs-Potenzials wur­de im 20. Jahrhundert die Sozialdemokratie, mehr noch als die revolutionäre Strömung der Arbeiter-Bewegung. Insbesondere in der Zweiten Nachkriegszeit mit dem scheinbar unbrems­baren Wachstumsschub war sie die Partei des grenzenlosen Fortschritts.

Das währte ein Vierteljahrhundert. Aber bereits Ende der 1960er begann sich die Stimmung in Teilen der Gesellschaft zu wandeln. Die neue Richtung hieß nun: Die Ressourcen sind begrenzt. Diese Erkenntnis wurde sofort fetischisiert: Der Club of Rome veröffentlichte 1972 seine berühmt – berüchtigte Studie, kennzeichnender Weise von mainstream-Ökonomen (das Ehepaar Meadows). Dementsprechend war das Ergebnis. Der sich andeutende Wachstums­bruch wurde hier zur physikalischen Notwendigkeit umgedeutet. Der alte Malthusianismus feierte fröhliche Urständ. Die sich nun wieder durchsetzende Umverteilungs-Politik nach Oben wurde damit zur Naturnotwendigkeit. Die öko-soziale Postmoderne war geboren. Poli­tisch nahmen bald die ersten Kerne der Grünen das Banner auf. Die Partei der Postmoderne war geboren, von vorneherein eine Partei der oberen Mittelschichten, aber vorerst deren jüngerer Generation. Die konnte sich den Luxus erlauben, eine „linke“ Sprache zu sprechen.

Die Sozialdemokratie aber gelangte erst in diesen Jahren in den westeuropäischen Ländern zu ihrer Stellung als bestimmende Regierungspartei. Die Partei der Moderne übernahm die Ver­waltung des Systems, als die Moderne langsam in die Krise zu rutschen begann. Die reformi­stische Arbeiter-Partei begann die Regierung zu führen, als die traditionalen Arbeiter erst langsam und dann immer schneller ihre zahlenmäßige Dominanz zu verlieren begann und in eine mehrfache Minderheiten-Situation rutschten, sozio-ökonomisch, vor allem aber auch kulturell und politisch. Die Sozialdemokratie nahm dies erst nicht ernst, blieb sie doch in Wahlen noch erfolgreich, bis in die Mitte der 1980er. Sie reagierte opportunistisch, in zunehmendem Ausmaß aber dann hilflos.

Hier setzt nun die zweite, im engen Sinn politische Entwicklung ein.

Viele Politikwissenschaftler werden wohl die aktuellen Wahlergebnisse wieder als ein Zei­chen einer „Krise der repräsentativen Demokratie“ ansprechen. Dieser journalistisch-ideologi­sche Stehsatz verrät pures Unverständnis. In der Bayernwahl stieg die Wahlbeteiligung auf 72 % der Stimmberechtigten – ein Wert, der das letzte Mal vor einigen Jahrzehnten erreicht wur­de. Ist das eine Krise der repräsentativen Demokratie? Kann die repräsentative Demokratie in einer modernen Gesellschaft überhaupt in der Krise sein?

In der Krise ist allerdings das bisherige Modell der Realdemokratie mit einer Parteienland­schaft, in welcher die bisher führenden Parteien es sich zur Ehre anrechnen, möglichst über die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung hinwegzufahren; deren Demokratie-Verständ­nis es war, dass die Stimmen „abgegeben“ wurden: Man darf bei einer Wahl für eine Partei stimmen – aber dann soll man den Mund halten, denn die politischen Eliten wissen es schließlich besser. Die Eliten entscheiden, das Volk hat zu nicken.

Diese Art der Demokratie ist tatsächlich in einer tödlichen Krise. Das begrüßen wir.

Hier müssen wir fürs Erste einmal abbrechen. Denn das muss in aller Ausführlichkeit debat­tiert werden. Worum es ginge, wäre: Wir müssen das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, zwischen der politischen Führung und der Bevölkerung diskutieren und in einer neuen Weise definieren. Das ist schließlich das zentrale Problem der Repräsentation und ihrer Funktion in der Entwicklung zur Demokratie. Es kann und wird nie endgültig zu lösen sein. Denn das ist immer ein Prozess von Versuch und Irrtum. Es geht um die Frage der Kontrolle. Jede politische Bewegung muss eine intellektuelle Sprechergruppe haben. Das gilt erst recht, wenn es sich bei der Basis um Unterschichten handelt. Aber wie kommt diese Gruppe zustande? In aller Regel rekrutiert sie sich selbst und wählt sich „ihre“ Bewegung aus. Die Frage stellt sich nach ihrer Funktion und ihrer Stellung in der Partei. Bisher hat sich diese intellektuelle Gruppe stets verselbständigt und die Führung in ihrem (Klassen-) Sinn über­nommen. Damit stellt sich die entscheidende Frage: Welche Strategie verfolgen diese Intel­lektuellen?

Die Erkenntnis, dass die Arbeiterklasse Trägerin des historischen Fortschritts sei, heißt noch lange nicht, dass die intellektuellen Sprecher auch die Interessen der Arbeiterklasse vertreten. Das galt für die klassische Sozialdemokratie. Robert Michels hat dies gesehen. Seine Diagno­se war auch nicht völlig falsch: die Tendenz zur Oligarchie. Sie war allerdings defekt – doch wollen wir hier nicht auf diesen Punkt eingehen. In seiner Verzweiflung hat er die Hoffnung aufgegeben und wurde zum Eliten-Theoretiker und Faschisten.

Aber verselbständigt hat sich auch die intellektuelle Führungsgruppe der Bolschewiki. Lenin war ein Intellektueller reinsten Wassers. Als solcher hat er die politische Kontrolle seitens der Basis nicht ertragen und abgelehnt. Die revolutionäre Strategie war eine Entscheidung dieser Führungsgruppe. Doch auch die Entscheidung für das Vorgehen gegen die plebeisch-proleta­rische Rebellion der Matrosen von Kronstadt war eine Entscheidung dieser Gruppe, die nun an der Macht war. Das Ergebnis kennen wir.

Man könnte sagen: In einer Sicht der langen Dauer geht nun die erste Phase der parlamenta­risch-repräsentativen Demokratie in Moderne und Postmoderne zu Ende, und zwar inzwi­schen mit ziemlicher Beschleunigung. Sie hat der Bevölkerung, auch den Unterschichten, Einiges gebracht. Aber nun wurde sie in ihrer bürokratisch-imperialen Wende endgültig reaktionär. Eine neue Form der Repräsentation muss erst noch gefunden werden.

AFR, 7. November 2018