Italien auf dem Weg zu Neuwahlen?

Von Leonardo Mazzei

Bild: Giancarlo Giorgetti und Claudio Borghi Aquilini, Vertreter der unterschiedlichen Flügel der Lega

Wird es eine oder wird es keine Übereinkunft mit der EU geben, um das Defizitverfahren gegen Italien abzuwenden? (Anm. d. Ü.: Am 3. Juli setzte die Kommission das Verfahren vorläufig aus, nachdem Ministerpräsident Conte die Einhaltung des Defizitziels von 2,04 % des BIP zugesichert und die Kommission Rom präventiv die Rute für die im Oktober zu präsentierenden Budgetpläne 2020 ins Fenster gestellt hatte.)

Diese Frage ist entscheidend. Jedoch gibt es noch eine weitere entscheidende Weiche für die künftigen politischen Entwicklungen in Italien: Wird es oder wird es keine vorgezogenen Neuwahlen im September geben?

Von der Antwort auf diese zweite Frage hängt in der Tat auch die künftige Konfrontation mit der EU ab. Nur wenn die Regierung zusammensteht, wird sie vorwärts kommen. Und nur in diesem Fall können wir ernsthaft davon ausgehen, dass sie eine gewisse Fähigkeit aufbringen wird, sich gegen den Angriff aus Brüssel und Frankfurt zur Wehr zu setzen. Wenn dagegen die Regierung fallen sollte und es zu vorgezogenen Neuwahlen kommt, heißt das, dass die EU-Eilten einen Etappensieg für sich verbuchen können.

Bei den Europawahlen hatten wir zur Unterstützung der Listen der Fünf Sterne Bewegung aufgerufen, und zwar ausschließlich aufgrund einer sehr einfachen und klaren Überlegung und Zielsetzung: um zu verhindern, dass durch einen zu deutlichen Sieg der Lega diese Partei dazu gebracht wird, zu den alten Allianzen zurückzukehren, d.h. die gelbgrüne Regierung beendet und die populistische Episode durch ein (wenn auch schwaches und widersprüchliches) Widererstehen des Bipolarismus abgelöst wird.

Für jene, die von der mittelmäßigen Figur von Matteo Salvini besessen sind, wird dieser Unterschied zwischen Populismus und Bipolarismus als eine sekundäre Sache erscheinen. Denn, so denken sie, ob nun diese oder eine künftige Regierung, angeführt wird sie immer vom Verlobten der Tochter von Verdini (Anm. d. Ü: Salvinis Verlobte, Francesca Verdini, ist die Tochter von Denis Verdini, eines bekannten Politikers von Berlusconis Forza Italia). Also, warum sich Sorgen machen?

Tatsächlich aber ist, wie wir oft erklärt haben, die Auflösung der aktuellen Regierungsmehrheit das vorrangige Ziel in den Rückeroberungsplänen der herrschenden Klassen, die am 4. März 2018 an der Wahlurne besiegt worden waren.

Aus der Perspektive des Feindes gesehen

Was ist der Plan? Versuchen wir ihn aus der Perspektive des Feindes zu verstehen. Die Herrschenden, das sollte man immer bedenken, sind nicht unbesiegbar, aber sie sind im Allgemeinen sehr realistisch. Für sie sind die Populisten ein Problem. Denn sie sind ein Instrument, wenn auch ein recht schäbiges, durch das einige Bestrebungen der Unterklassen es schaffen die traditionellen Schranken zu überwinden, die das Volk de facto und ohne das zu offen zu zeigen von den Zentren, Institutionen und Mechanismen der wahren Macht trennen.

Also, entweder werden die Populisten normalisiert oder sie müssen von der Regierung vertrieben werden. Aber dabei gibt es ein Problem. In der aktuellen Situation in Italien ist dieser Hinauswurf der Populisten aus der Regierung nicht so einfach. Solange man nicht einen Grund schafft, der Salvini und Di Maio (oder zumindest einen der beiden) dazu bringt, eine Rückkehr zu einer Art „Expertenregierung“ zu akzeptieren, ist der Sturz der Regierung auch aus der Sicht der Oligarchien eine äußerst wenig ratsame Lösung, da das die Widersprüche zwischen Volk und Eliten hochkochen ließe. Und genau das ist ja eben das Problemchen, das die Herrschaften gezwungen sind mit Vorsicht zu managen.

Was also tun? Und hier kommt der Realismus ins Spiel. Wenn ein neuer Monti nicht gangbar ist, wenn ein ausreichendes Wiedererstarken der PD nicht in Aussicht ist, dann muss der Plan ein anderer sein, ein notwendigerweise komplexerer. Welcher also? Der einzig realistische in der gegenwärtigen Phase. Wenn wir die Dinge aus dieser Optik sehen, kann man recht klar ein Projekt mit drei Etappen erkennen: 1) Bruch der gelb-grünen Allianz; 2) Zerfall der Fünf Sterne Bewegung; 3) Rechtsregierung mit der Normalisierung von Salvini.

Das erste Ziel ist die endgültige Spaltung der aktuellen Regierungsmehrheit, eine Krise, die eine Widervereinigung unmöglich macht. Daran wird seit der Entstehung der Regierung Conte gearbeitet. Eine Arbeit, mit den Medien als entscheidendes Instrument, die darauf abzielt die realen Widersprüche zwischen Lega und Fünf Sterne aufzublähen, jene innerhalb der beiden Parteien zu vertiefen, zu versuchen jeweils die Positionen und Kräfte zu stärken, die zu einer Trennung tendieren: den Nord-Block unter Führung von Giorgetti (Anm. d. Ü.: Giancarlo Giorgetti, Sekretär des Ministerrats der Regierung Conte) in der Lega und das „politisch korrekte“ Gemurre des Fico-Flügels bei den Fünf Sternen (Anm. d. Ü.: Roberto Fico, Parlamentspräsident).

Mit dem Fall der Regierung und vorgezogenen Wahlen wäre danach das zweite Ziel der völlige Auseinanderfall der Fünf Sterne Bewegung. Angesichts der Unmöglichkeit beide populistische Kräfte mit einem Schlag aufzureiben, vernichtet man zunächst einmal die eine und versucht die andere zu beherrschen. Das schwächere Kettenglied sind die Fünf Sterne, und daher wird man gegen sie schlagen, auch um das Widererstehen der PD zu erleichtern. Wir haben oft darauf hingewiesen, dass es die Fünf Sterne waren, mehr als die Regierung in ihrer Gesamtheit, auf die sich die Angriffe der Systemkräfte im letzten Jahr konzentriert haben.

Wenn die Dinge so laufen – und wir hoffen natürlich auf das Gegenteil, aber es geht um die Bewertung der Hypothese der Neuwahlen – dann wird aus den Wahlen mit größter Wahrscheinlichkeit eine Regierung der Rechten entstehen. Aber welcher Rechten? Hier nun das dritte Ziel der Herrschenden: eine Rechte mit einem normalisierten Salvini. Es ist offensichtlich, dass dieses dritte Ziel am schwierigsten zu erreichen ist. Dieser Punkt verdient es, genauer betrachtet zu werden.

Ein normalisierter Salvini?

Wir wollen die Dinge nicht übermäßig vereinfachen, so wie jene die meinen Salvini wird wie Tsipras enden. Der Salvinismus ist ein komplexes Phänomen, das sich aus dem (vielleicht nur momentanen) Zusammenwirken verschiedener gesellschaftlicher Kräfte ergibt, deren Dynamik man berücksichtigen muss, um die aktuelle Widersprüche in der Lega erklären zu können.

Halten wir uns an die Tatsachen, die sich zumal in emblematischen Ereignissen verdichten. Es gibt kein besseres Symbol der einen Tendenz im Salvinismus als Giancarlo Giorgetti aus Cazzago Brabbia, Cousin des Bänkers Ponzellini, Brückenkopf des Nordflügels der Lega nach Rom. Es war eben dieser, der öffentlich den Vorschlag der MiniBots (Anm. d. Ü.: Regierungsvorschlag für Staatsanleihen, siehe https://www.euroexit.org/index.php/2019/06/21/minibots-um-die-austeritaet-auszuhebeln/) verbrannt hat. Und nicht genug mit dieser bildlichen Unterstützung der ganzen Clique von Tria, Mattarella, Visco und Dragi (Anm. d. Ü.: Giovanni Tira, Wirtschaftsminister und fünfte Kolonne in der Regierung mit dem Segen von Staatspräsident Mattarella; Ignazio Visco, Gouverneur der italienisch Zentralbank; Mario Dragi, EZB-Präsident). Dazu hat er auch noch mehrfach seinen eigenen Parteikollegen Borghi Aquilini (Anm. d. Ü.: Wirtschaftssprecher der Lega) verspottet. Zwar wissen wir schon lange, dass es zumindest zwei „Lega” gibt. Aber es ist interessant, dass Giorgetti dabei gesprochen hat, als wäre er derjenige, der tatsächlich das Ruder in der Hand hält.

Wir werden das sicher bald genauer wissen, aber es gibt verschiedenste Ereignisse, die in diese Richtung zeigen. Zum ersten ist der Zusammenhalt in der Regierung, der nach dem 26. Mai (EU-Wahlen) kurz wieder gestärkt schien, wieder in die Krise gekommen. Und der Hauptgrund dafür ist das Insistieren der Lega auf den „angepassten Regionalismus“ (regionalismo differenziato; Anm. d. Ü. Lega-Initiative für eine verstärkte Autonomie der Regionen). Die Regierungschefs der Nordprovinzen wollen rasch handeln, auch wegen Vorteils der schweigenden Zustimmung der PD. Aber das Land gerade in dem Moment zu teilen, in dem darüber geredet wird sich gemeinsam der EU entgegenzustellen zeigt, dass mit dem Narrativ der Lega etwas nicht stimmt.

Wenn es im September Neuwahlen geben sollte, dann ist das das Zeichen des Sieges der Linie von Giorgetti innerhalb der Lega. Ein Sieg, der dem Staatspräsidenten und auch der PD gefallen würde, ganz zu schweigen von der EU-Technokratie. Doch so einfach sind die Dinge dann auch nicht. Denn auch für einen Giorgetti ist es kaum noch möglich Salvini zu entmachten, der eine Partei führt, die ja immerhin „Lega – Salvini Ministerpräsident“ heißt. Aber…

Es gibt immer ein “aber“, das es genauer zu untersuchten gilt

Die Führungsposition von Salvini steht derzeit nicht zur Diskussion und man darf nicht glauben, dass Salvini nur Schall und Rauch ist, auch vor dem Hintergrund der Konfrontation mit der EU. Dennoch gilt es drei Faktoren zu berücksichtigen.

Zuerst einmal stellt die Neuwahloption de facto die Möglichkeit eines vorübergehenden Waffenstillstandes mit der Kommission dar. Zum Zweiten hätte die siegreiche Rechte dann, zumindest theoretisch, eine ganze Legislaturperiode vor sich, in der es für sie leichter wäre einen Kompromiss mit Brüssel zu verhandeln. Der dritte Punkt, die eigentliche Stärke des Nordflügels der Lega, ist, dass die EU durchaus glücklich wäre die beiden Leuchtturmprojekte des „angepassten Regionalismus“ und der „Flat tax“ zu unterstützen – bei letzterem im Austausch gegen einen Mix aus neuen Steuern und/oder Einsparungen. Unter diesen Bedingungen könnte Italien vielleicht für einige Zeit mit einer etwas vorteilhafteren Behandlung durch Brüssel rechnen, in der Art Spaniens.

Salvini ist jedoch nicht Rajoy und (wie wir vorhergesehen haben) ist die europäische Hochzeit zwischen EVP und dem Rechtspopulismus, die viele in den letzten Monaten vermutet haben, ausgeblieben. Und Italien ist nicht Europa und irgendjemand muss in Rom regieren. Da eine Rechtskoalition deutlich die besten Möglichkeiten einer Mehrheit hätte, ist die Frage wen man dann in den Palazzo Chigi setzt?

Wir haben schon öfters darauf hingewiesen, in Erinnerung an die Rolle der Gerichte während der kritischen Übergangsperioden im nationalen politischen Leben, dass die Normalisierung von Salvini in nicht-konventioneller Art passieren könnte. Wie genau weiß man nicht. Aber der Führer der Lega scheint irgendeinen derartigen Hinterhalt zu fürchten. Nicht notwendigerweise einen direkten Angriff, um ihn völlig zu entmachten, aber zumindest etwas um seine politischen und persönlichen Ambitionen zurückzustutzen.

Fantasie und Verschwörung? Vielleicht. Aber in jedem Fall ist nicht zu übersehen, dass Giorgetti der Mann sein wird, der die Normalisierung, den Ausgleich mit den nationalen Oligarchien und den Kompromiss mit Brüssel anführt. Und in dem Fall ist es auch offensichtlich, dass Giorgetti in den Palazzo Chigi kutschiert werden soll.

Auch wenn das natürlich nicht das Ende des populistischen Moments bedeutet, so wäre es dennoch eine herbe und momentane Niederlage. Momentan da wir sicher sind, dass so eine Niederlage letztendlich auch die Lega selbst treffen und damit wiederum ein prekäres Gleichgewicht destabilisieren würde. Es geht heute in der Politik in der Tat rasch Konsens zu gewinnen, aber noch viel rascher diesen zu verlieren. Es reicht sich dieses Details bewusst zu sein, um den Weg zu vermeiden, der den Lega-Kapitänen heute als der einfachste vorschweben mag. Wir werden es sehen, aber sie sollten sich keine zu großen Illusionen machen.