MIGRATION 1

Die Struktur des Weltsystems und die Menschenfreundlichkeit von „la Merkel“

Das WIFO hat dem österreichischen Sozialministerium Mitte 2015 eine Studie über „Auswirkungen einer Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Asylwerbende in Österreich“ geliefert. Sagen wir es frei heraus: Die Arbeit ist belanglos, jenseits ihrer inhaltlichen und methodischen Mängel. Denn sie beschäftigt sich mit der Auswirkung von 2.500 bis höchstens 10.000 Personen. Das wäre allerdings nicht den Autoren / – innen zuzuschreiben, sondern dem Auftraggeber, dem Ministerium. Aber für uns hier ist es der Anlass zur entscheidenden Feststellung bezüglich Migration in Europa überhaupt:

Die wirkliche Frage der Migration ist im Rahmen der EU längst der nationalen Steue­rung völlig entzogen. Im Rahmen der „vier Freiheiten“ ist die Freiheit des Lohndrückens im Gefolge der Zuwanderung vor allem aus dem Osten des Kontinents, aus Polen, Rumänien etc., für die EU ein Tabu. Und fast alle wagen es nicht, dieses Tabu auch nur anzurühren – die Gewerkschaften schon gar nicht. Dabei dient es – etwa dem EuGH – als bequemer Vorwand, um Gewerkschaftsrechte abzubauen, den Druck auf die Einkommen der gering Verdienenden zu erhöhen, die Lohn- und Beschäftigungspolitik der Mitgliedsländer völlig zu unterlaufen und die Gesellschaftsspaltung durchzusetzen. Kurz: Es geht um die Zerschlagung all jener Errungenschaften, welche die Arbeiter-Bewegung, und zwar auch ihr reformistischer Flügel, in der kurzen Epoche vom Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre erreicht hat. Deswegen ist diese „Freiheit“ der Oligarchie und ihrer Bürokratie ja auch so fundamental wichtig.

Die Zuwanderung aus Drittstaaten ist also nicht das Hauptproblem.

Mit dieser richtigen Erkenntnis die Problematik der Zuwanderung wegzuschieben, hilft nicht nur nichts, sondern ist – aus meiner Sicht – durchaus falsch. Das steigt auf jene Strategie ein, aus welcher auch die WIFO-Studie geboren wurde. Denn wieso gibt es zwar diesen belanglosen Auftrag, nicht aber einen, der die Zuwanderung aus Polen, der Ex-DDR, etc., untersucht? Die Strategie dahinter ist gut erkenntlich: Dies Studie muss bei den geringen Zahlen bisher zum Resultat kommen, dass sich fast nichts ändert, wenn man den vergleichsweise wenigen Asylsuchenden den Zugang zum Arbeitsmarkt leichter macht. Damit soll auch signalisiert werden: Zuwanderung ist ja im Grund überhaupt kein Problem. Dazu kommt, dass die Studie manche wesentliche Fragen nicht einmal andeutungsweise stellt: etwa jene, ob die Zuwanderung (aus Drittstaaten) mittlerweile ihren Charakter geändert hat, heute also etwas Anderes bedeutet, als 2007 oder auch noch 2014. Ein deutliches Zeichen war, wie sich Migranten mit Gewalt versuchten, Zutritt zu Ungarn zu verschaffen. Solche Bilder kannte man bisher nur von Ceuta und Melilla.

Solche Studien beschränken sich also, im besseren Fall, von vorneherein auf die Zuwande­rung aus Drittstaaten. Doch selbst dabei kommen einige ganz wesentliche Ergebnisse zum Vorschein – wenn man sie sehen will.

Diese Studie will sie nicht sehen. Daher baut sie denn auch ihre Überlegungen auf der sogenannten ökonomischen „Theorie“ auf. Darunter verstehen die Verfasser/-innen die banalen Geometrien aus der mainstream-Ökonomie (S. 56 – 61): Sie würden von keiner Epistemologie oder auch keiner anderen (Sozial-) Wissenschaft als Theorie anerkannt, nämlich als generalisierte systemische Aussagen und Erklärungen, die empirisch nachzu­prüfen wären. Und was ist mit der Empirie selbst? Da ist es wert, die Studie bzw. ihrer Darstellung anderer Arbeiten (insbesondere Longhi u. a. 2006. 2007, 2008; Schweighofer 2012, Horvath 2011) im Wortlaut zu zitieren:

„Die Auswirkungen der Migration auf die heimischen Arbeitskräfte [zu denen auch die Zuwanderer aus dem Osten gezählt werden!! – AFR] sind zumeist eher gering“ (62). Aha! Aber es gibt „signifikante negative Effekte auf ArbeiterInnen in den unteren drei Lohndezilen [und] signifikante positive im obersten Lohndezil… Bei ArbeiterInnen steigt das Arbeits­losigkeitsrisiko signifikant, bei Angestellten nicht … Erhöhung der Arbeitslosigkeitsdauer“ (63). Kann ja sein, dass es in einigen Branchen und in einigen Regionen Lohndruck, steigende Arbeitslosigkeit und Verdrängung durch neue Migranten gibt. Aber im Durchschnitt wird dies durch steigende Löhne oben aufgehoben.

Es gibt aus demselben Haus eine Studie, die genauso zur Währungsunion argumentiert. Im Durchschnitt war der Zinssatz schon richtig. Nur war er halt für den Norden zu hoch und für den Süden zu niedrig …

Es gibt somit laut dieser Studie – „insgesamt“ keine Auswirkungen. Nur sinkt der Lohn für die Unterschichten und steigt er für die best Verdienenden, und die Arbeitslosigkeit der Arbeiter steigt; usw. In diesem Sinn geben die Verfasser tatsächlich die Ergebnisse der anderen Studien wieder, die weniger banal und daher eher zur Lektüre zu empfehlen sind.

Im Grund ist damit in ökonomischer Hinsicht alles gesagt. >Migration ist allerdings keines­wegs nur eine ökonomische Frage in diesem reduzierten Sinn. Wir werden im Verlauf der Debatte nach Gelegenheit haben, in anderen Beiträgen, näher auf Einzelheiten der ökonomischen Auswirkungen einzugehen. Fürs erste ist aber deutlich genug gesagt, was die Menschenfreundlichkeit der Frau Merkel und auch die der so öffnungsfreundlichen Grünen, dieser BOBO-Partei, motiviert. Ihre Löhne steigen ja.

Wir dürfen uns allerdings mit dieser so durchsichtigen Interessenslage nicht zufrieden geben. Sie wäre auch reduktionistisch. Denn ich möchte vielen der Aktivisten in diesem Bereich ihr aufrichtiges Engagement nicht absprechen. Vor allem aber:

Was hier mit den neuesten Migrations-Schüben zur Debatte steht, ist die Struktur des Weltsystems selbst. Das gilt in ökonomischer wie in politischer Hinsicht. Seit gut zwei Jahrhunderten steigt die Ungleichheit zwischen den Regionen und der Ländern der Welt. Scheint es aber einmal in der zwischennationalen Ungleichheit einen Hoffnungsschimmer zu geben, dann wird er konterkarriert durch das Steigen der inneren Ungleichheit: Die statisti­sche Auswirkung der chinesischen „Erfolge“ durch das, übrigens ziemlich umstrittene, hohe chinesische Wachstum (es dürfte u. a. auch ein statistisches Artefakt sein, allerdings keineswegs zur Gänze) wird zunichte gemacht durch das horrende Ansteigen der Ungleichheit in diesem Musterland des Wildost-Kapitalismus.

Da aber die kommunikativen Verbindungen immer enger werden, hoffen die Menschen der abgehängten Länder und Klassen, im westlichen Paradies zu erreichen, was sie in ihren Heimatländern nicht finden: ein bisschen dezenten Wohlstand. Hegemonie und die ökonomi­sche und militärische Dominanz der hoch entwickelten Zentren verhindert ein Schließen der sich stets stärker öffnenden Schere. Es ist daher wenig verwunderlich, wenn immer mehr Menschen versuchen, an diesem Wohlstand der Metropolen individuell, durch Ortsverände­rung, teilzunehmen, da sie doch offensichtlich durch den Zufall ihrer Geburt in der Peripherie zum Elend verdammt sind.

Und hier muss unsere Debatte einsetzen. Was ist von dieser individuellen Strategie zu halten? Lässt sich ihr, moralisch wie politisch (in den Erfolgs-Aussichten), eine andere Strategie entgegen setzen? Oder ist das Bestehen auf den Grenzen und ihren Auswirkungen nur der egoistische Reflex der Habenden, auch nichts anderes als die schäbige Haltung von oberen Mittelschichten auf der Suche nach billigen Arbeitskräften?

Aus meiner Sicht sind dies die Fragen, welche im Vordergrund zu stehen hätten. Dabei helfen uns die grünen Alternativ-Straches gar nichts, die apodiktisch erklären: „Es geht darum, Menschenleben im Mittelmeer zu retten. Punkt.“

  1. September 2015

Studien

Longhi, Simonetta, u. a. (2008), Meta-Analysis of Empirical Evidence on the Labour Market Impacts of Immigration. IZA DP No. 3418.

Horvath, Gerard Thomas (2011), Immigration and Distribution of Wages in Austria. Linz: The Austrian Centre for Labor Economics and the Analysis of the Welfare State.

Schweighofer, Johannes (2012), Gab es auf regional-sektoreller Ebene Verdrängungseffekte im Gefolge der Arbeitsmarktöffnung vom Mai 2011? In: Wirtschaft und Gesellschaft 38, 601 – 614.