MEHREBENENSYSTEM STAAT UND EU: Eine journalistische Frage und eine notwendige Reflexion

„Weshalb kämpfen Sie nicht einfach für andere Mehrheiten im Europäischen Parlament?“ fragte ein Journalist der taz (Berlin) vom 18. Juli 2016 Andreas Nölke von Eurexit in einer unnachahmlichen Mischung von Zynismus, dummen Unverständnis und Arroganz. Nölke reagierte taktisch richtig. Anstatt ihm sein Bobo-Blatt um die Ohren zu hauen, erklärte er ruhig: „So einfach ist das nicht. … Das werden wir innerhalb der jetzigen EU niemals durchsetzen können…“

Das Zentralorgan der deutschen Superstaats-Verherrlicher ist zu 150 % in dieses System integriert, hat sich’s in ihm bequem gemacht und wird dies sicher nicht verstehen. Wie könnten diese Leute begreifen, dass dieser Vorschlag die volle Akzeptanz dieses bürokrati­schen Apparats bedeutete? Die falschen Antiautoritären von einst sind da freilich nicht die einzigen. Es ist schwierig für alle liberalen Mittelschichtler, den fundamental antidemo­kratischen und antiegalitären Charakter der EU zu erfassen und daher ihre Opposition auf den Verein insgesamt, und nicht nur auf den Euro als sein Instrument auszudehnen.

Diese Passage und das Interview insgesamt bietet aber den Anlass, ja macht es notwendig, in Erinnerung zu rufen, wieder einmal, was Staat ist, und was EU ist.

Mehrebenensystem ist das Vokabel, welches in den theoretischen Bemühungen zur EU wohl am häufigsten vorkommt. Aber: Jeder Staat ist ein Mehrebenensystem.

Ich nehme das Risiko gern in Kauf, als seniler Theoretiker der alten Linken zu erscheinen. Doch erinnern wir uns! Schon Engels hat sich mit dem „Ursprung des Staats“ auseinander gesetzt. Als historischer Materialist wusste er, dass die Entstehung und Entwicklung solcher politischer Strukturen einen hohen Erkenntniswert auch für die Gegenwart hat. In den 1960ern, `70ern und `80ern` haben vor allem US-amerikanische Anthropologen und Archäo­logen diese Frage wieder aufgegriffen. Viele von ihnen haben es allerdings ängstlich vermieden, den Namen Engels zu erwähnen – McCarthy war nicht so lange her. An der konkreten Entwicklung Mesopotamiens vor mehr als fünf Jahrtausenden oder an der von Altamerika drei Jahrtausende später haben sie empirisch gut abgestützte Prozess-Analysen zur Entstehung von frühen Staaten („pristine states“) vorgelegt. Ich verkneife mir hier den Drang, Autoren und Beiträge zu nennen. Wesentlich ist das Ergebnis:

Staat ist ein gewaltgestütztes Umverteilungssystem nach oben, dessen Apparat mindestens drei Ebenen umfasst. Die konkrete unterste führt die eigentlichen, die materiellen Umverteilungs-Prozesse durch, schöpft das Mehrprodukt ab und leitet es den Eliten zu. Die mittlere, gewöhnlich in Siedlungen intermediärer Größe zwischen den Dörfern und den Städten lokalisiert, kontrolliert die unterste und korrigiert sie manchmal auch. Die oberste Ebene formuliert die allgemeinen Regeln und übt auch eine allgemeine Kontrolle aus. Sie saß – nicht in Brüssel oder Berlin sondern – in Uruk oder Cuzco.

In der weiteren Entwicklung kamen zusätzliche Ebenen hinzu. Insbesondere entstand bald eine überregionale imperiale Ebene.

Diese Darstellung ist gewiss modellhaft-schematisch. Doch der entscheidende Punkt ist das Mehrebenensystem.

Springen wir in die Moderne! Die weitere Entwicklung brachte insbesondere das Entstehen des Nationalstaats. Seine Potenz zieht er aus der überregionalen Integration von lokalen und regionalen Gesellschaften auf der Basis eines verallgemeinerten Konsenses in der Form nationaler Identität. Dieser Konsens und diese Identitäten waren im 19. Jahrhundert durchaus auf einen Verbund von Eliten, Intellektuellen und Oberen Mittelschichten beschränkt, auf „Besitz und Bildung“. Doch etwa Mitte des 20. Jahrhunderts, mit einigen Vorläufern schon früher, gelang es diesem Staat, die Unteren Mittelschichten und die Unterschichten weit­gehend zu integrieren. In seinem Charakter als Sozialstaat bot er ihnen die Absicherung ihrer Lebens-Risiken an und erhielt so ihre Loyalität.

Auf die Dauer kamen den Eliten diese Anbote aber zu teuer. In den USA starteten sie ein offenes Comeback und ein Rollback. In Europa dagegen erfanden sie die EG /EU. Damit kommen wir auf den Mehrebenen-Charakter des Staats zurück.

Das Einziehen einer Ebene über den operativen Prozessen des Alltags-Geschehens macht politisch durchaus Sinn. Normensetzung kann und soll ein abstrakt-universalistisches Ziel haben. Das verhindert in der Tendenz Klientelismus und flicht drückende Machtkonzentratio­nen auf lokaler und regionaler Ebene auf. Man denke an den Grundherrn, der gleichzeitig politische Instanz (z. B. Bezirkshauptmann) und Richter war und dies Alles in seinem Interesse ausspielte! Es war eine der Leistungen des Nationalstaats, diese Häufung von Macht weiter unten durch eine Zentralisierung auf mittlerer Ebene aufzuheben.

Der Prozess wird blitzartig zur erneuerten Unterdrückung, wenn weitere Zentralisierung die ohnehin nur rudimentäre Kontrolle von Unten unmöglich macht. Das Einziehen einer weiteren staatlichen Ebene, voll ausgestattet mit politischer Zwangsgewalt, macht die Real-Abstraktion des Staats wieder zum bösartigen Leviathan, zum Götzen der Macht im Interesse der Eliten.

Auf dieser weiteren Ebene, dem neuen imperialen Staat, agierten die Eliten wiederum weitgehend unkontrolliert und treffen Entscheidungen im Namen des Sachzwangs. Mit dem lügnerischen Versprechen von Wohlstandssicherung durch „mehr Wachstum“ und „trickle down“ gelang es ihnen kurzfristig, einen erheblichen Konsens für das Imperium zu organi­sieren. Die Währungsunion sollte den Prozess unumkehrbar machen. Sie sollte überdies den Abbau der Leistungen für die unteren zwei Drittel der Gesellschaft automatisieren und gegen mögliche Korrekturen immunisieren.

Dabei allerdings überzogen die Eliten und ihre politischen Handlanger. Es gibt nunmehr massenhaft Widerstand. Den versuchen sie zu diskreditieren. So kommen also die Propagandisten des Systems und fragen zynisch: Warum organisierst Du Dir keine Mehrheit für eine soziale EU? Sie selbst wissen natürlich sehr wohl: Diese EU wurde dazu konstruiert, den Sozialstaat abzubauen und entsprechende Leistungen zu verhindern.

Aber das soll uns nicht hindern, eine tatsächlich wichtige Frage zu stellen. Der Nationalstaat war ursprünglich eine Eliten-Konstruktion. Doch unter dem Druck des allgemeinen Wahl­rechts, noch mehr aber unter dem Druck von drohenden Konkurrenz-Systemen wurde kurzfristig der Sozialstaat daraus. Kann man so was nicht auch mit der EU machen?

Wir müssen uns zuerst einmal vorübergehend von der Terminologie „national – übernational“ lösen, wenn wir ernsthaft diskutieren wollen. Denn das behindert den Blick auf die reale Entwicklung. Und dann brauchen wir nochmals einen historischen Umweg.

Die Arbeiterbewegung und die Linke entstanden unter zwei politischen Impulsen. Der eine war der anarchistische: Wir wollen Herrschaft abbauen und damit Selbstbestimmung ermög­lichen. Dazu müssen wir den Staat zerschlagen.

Der zweite Impuls aber argumentierte anders herum: Ja, wir müssen den alten Staat zerschla­gen. Aber wir wollen die Produktion steigern und damit allen Menschen die materielle Mög­lichkeit zu Wohlstand und damit zu besserem und erfüllten Leben bieten. Dafür aber brauchen wir Großgesellschaft, also einen neuen Staat, zumindest zeitweise. Und diesen Staat brauchen wir auch als Instrument, um den alten Staat und die alte Gesellschaft zu überwinden.

Ich möchte hinzufügen: Wenn wir Großgesellschaft wollen, brauchen wir den neuen Staat auf Dauer. Aber wir müssen ihn strikt von unten kontrollieren.

Beide Impulse waren in der Linken stets vorhanden.

Was ist nun also mit dem Schritt über die Nation und den Nationalstaat hinaus?

In vieler Hinsicht haben sich Gedanken verselbständigt, die einmal aus der Linken kamen, wurden dabei aber vergröbert und trivialisiert. Es entstand ein wunderlicher Vulgär-Marxismus, der den meisten gar nicht bewusst ist. Da ist viel Trägheit des Denkens dabei. Nicht nur die (Links-) Liberalen, auch Menschen in der Tradition der alten Linken, sind völlig von der Idee des Nationalstaats besessen. Sie können sich eine weitere Entwicklung nur in dieser Form vorstellen. Nach Außen hin vertreten sie einen rabiaten Antinationalismus. Sieht man aber genauer hin, wollen sie nichts Anderes, als den Nationalstaat vergrößern. Das entspricht haargenau den Absichten der Eliten und der EU. Die wollen allerdings den für uns wesentlichsten Charakter des zeitgenössischen Nationalstaats, den Sozialstaat, dabei unter den Tisch fallen lassen.

Ehrliche Linke müssen sich neue Formen der internationalen Kooperation überlegen. Die vergrößerte Form des alten Nationalstaats wird dies nicht sein. Internationalismus ist das Gegenteil von Supranationalismus.

Wie sehr in einem Jahrhundert die internationale Organisation aber auch Elemente supra­nationaler Institutionen unter der effizienten Kontrolle von Unten umfassen kann, ist eine Frage, die uns heute weder theoretisch noch praktisch bekümmern muss. Heute sind solche Elemente oder vielmehr solche Institutionen nur Instrumente der Unterdrückung und des Sozialabbaus. Daher müssen wir die EU zerschlagen, nicht nur ihr Hauptinstrument, die Währungsunion und den Euro.

Albert F. Reiterer, 6. August 2016