VOM SOZIALISMUS IN EINEM LAND ZUM KEYNESIANISMUS IN EINEM LAND: EINE NOTWENDIGE DEBATTE?

Was ist Keynesianismus eigentlich?

Der Term wurde in der neuen neo-neo-keynesianischen Anstrengung, vor allem in der BRD derart diffus, das er mittlerweile schon fast Alles und sein Gegenteil bedeutet. In der Zweiten Nachkriegszeit wurde im Anschluss an Keynes eine Politik konzipiert und tastend verwirklicht, welche ein neuerliches Hineintappen in die Falle des „Gleichgewichts dauernder Unterbeschäftigung / Arbeitslosigkeit“ verhindern sollte. Als entscheidende Ur­sache hatte Keynes eine Nachfragelücke diagnostiziert. Bei einem neuerlichen Auftreten sollte diese in Hinkunft durch staatliche Ausgaben aufgefüllt werden. Die sollten über Kredit finanziert werden, schon um nicht anderswo wieder Kaufkraft abzuziehen. Das war der Kern einer aktiven Wirtschaftspolitik.

Als Zwilling trat von vorneherein der Beveridge-Vorschlag einer Absicherung der wichtigsten Lebensrisiken (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Altersvorsorge) hinzu. Halten wir fest: Diese Idee des Sozialstaats hatte von vorneherein mit dem originären Keynesianismus nichts zu tun. Der Beveridge’sche Sozialstaat wurde auch schnell zur umfassenden Aufgabe staatlicher Siche­rung auch der Mittelschichten – nicht nur die Grundsicherung der Unterschichten. Nicht zuletzt an diesem Punkt setzten die Neokonservativen taktisch mit ihrer Kritik an. Man kann dies mit Nutzen bei Milton Friedman nachlesen. Das wäre übrigens ein wichtiger Punkt für eine eigene Diskussion. Dabei ginge es ebenso um Systemstabilisierung wie um das Problem des „Gesamtarbeiters“ in einem hoch vernetzten System.

Kenesianismus war also konzipiert als Rettung des Systems und hat in diesem Sinn auch funktioniert. Es war ein geradezu klassischer Transformismus: „Alles verändern, damit Alles bleibt wie es ist.“ Allerdings hat auch jeder Transformismus seine Eigendynamik.

Der Sozialstaat beinhaltete gewisse Elemente der Umverteilung via Steuern, Sozialversiche­rungen und reale wie monetäre staatliche Leistungen. Noch aus der Kriegszeit hatte man ein ziemlich progressives Steuersystem in die Friedenswirtschaft und den Wiederaufbau herüber gezogen. Die Grenzsteuersätze für das Einkommen gingen in den USA bis auf 90 % hoch. Diese Zwillings-Politik der Nachfragestimulierung und der Sozialpolitik wurde in der politi­schen Debatte sehr bald zusammengefasst und als Keynesianismus angesprochen. Das war in gewissem Sinn berechtigt, denn das kam aus demselben, damals im Wesentlichen sozialdemokratischen, Impetus.

Bereits 1968, mit der Nixon-Präsidentschaft, setzte in den USA der Rollback ein. In Europa startete die neokonservative, neoliberale Offensive 1978/79 in Thatcher-Großbritannien und wurde sehr schnell auf dem Kontinent übernommen. Eine spezifische Rolle spielte das Scheitern der Mitterrand-Politik ab 1981, die tatsächlich ein ziemlich naiver keynesianischer Ansatz war. Aber hier zeigte sich: In schwächeren Wirtschaften geht der Nachfrage-Impuls sofort in den Import – wenn nicht entsprechende Regulierungen und Schutzmaßnahmen da vorkehren. Das war schon damals im Rahmen der EG nur mehr kurzfristig als Notmaßnahme machbar. In Frankreich kippte die Leistungsbilanz vollständig: 1979 hatte sie noch +0,83 % des BIP ausgemacht, 1981 stand sie bereits auf -0,8 %, und 1982 auf -2,1 % (Daten von der Weltbank enthalten auch Transfers). Auffallen sollte dabei aber auch, wie gering die Beträge eigentlich waren! Trotzdem wurden kurzfristig tatsächlich Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Dann aber kam mit der Delors’schen Politik die große Wende zur Austerität.

Doch, und das ist für die jüngsten Debatten wichtig, diese Ausreizung des Begriffs Keynesia­nismus, der einfach als anderes Wort für Sozialstaat eingesetzt wird, sorgt für Verwirrung.

Halten wir fest: Auch im Rahmen der heutigen EU sind noch gewisse enge Spielräume für unterschiedliche Ausformungen des Sozialstaats gegeben. Sie werden allerdings immer stärker eingeengt. Der Abbau des Sozialstaats war und ist schließlich eines der wichtigsten Ziele der EU. Alle die schönen Errungenschaften der letzten Jahre, vom Fiskalpakt über das „Europäische Semester“ bis zu den Vorgaben für den Defizit-Abbau verfolgen das Ziel, den Gestaltungsraum für eine eigenständige nationale Sozialpolitik zum Verschwinden zu bringen. Eine europäische Wirtschaftsregierung, wie sie vor allem auch von der Sozial­demokratie angestrebt wird, würde dies mit einem Schlag erreichen.

Aber was hat dies alles mit dem originären Keynesianismus zu tun?

Wenig bis gar nichts, wenn man Keynesianismus als wirtschaftspolitische Doktrin begreift. Denn die Spileräume, die für nationale sozialstaatliche Politik sehr wohl noch vorhanden sind, verschwanden inzwischen weitgehend für eine keynesianische Wirtschaftspolitik.

Das Hauptproblem der Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Gegenwart ist die Frage der sich ständig vergrößernden Ungleichheit, der immer schieferen Verteilung. Seit drei Jahrzehnten steigen die Gewinne und die gewinnnahen Einkommen (Management-Gehälter und Spitzen­einkommen überhaupt). Aber sie werden nur mehr zum Teil investiert. Sie gehen in den „Geldmarkt“, d. h. die Spekulation. Es tut sich also eine Nachfragelücke („Unterkonsum“) auf. Diese Nachfragelücke wurde durch die expansive Geldpolitik keineswegs aufgefüllt.

Dabei wirken offenbar sogar schon schwache Impulse. Die österreichische Politik der Gegen­wart gibt da einen gewissen Hinweis: Die österreichische Wirtschaft befindet sich bekanntlich seit Jahren auf der Kriechspur. Die sogenannte „Steuerreform“ in ihrer ganzen mickrigen Bescheidenheit hat zu einem ziemlich geringen Nachfrage-Plus geführt. Aber sogar der ist merkbar und belebt die Konjunktur. Es könnte wesentlich stärker wirken, wenn da nicht noch was Anderes wäre. Das zweite Problem der österreichischen Wirtschaft, des österreichischen Kapitals, ist nämlich die Exportschwäche. Das hat ihm die österreichische kriecherische Politik gegenüber der EU und der USA eingebrockt. Zuerst die Krise seit 2008 und sodann die feindlichen Maßnahmen gegen Russland haben die Hauptexport-Chancen beschädigt, den Osten und Süden Europas nämlich. Aus diesen beiden Ursachen, dem fehlenden Konsum und der Exportschwäche, kommt die schleichende Krise der letzten Jahre.

Eine linke Politik hat auf das allgemeine Problem sowohl der Krise als auch der Ungleichheit eine Antwort zu geben, die sich radikal von der („links“-) keynesianischen, transformisti­schen, unterscheidet. Da­bei müssen wir aber zwischen kürzer- und mittel- bis längerfristigen Strategien unterscheiden. Die linke Antwort würde im ersten Schritt – und das ist wichtig, wie wir gleich sehen – eine starke Versteilung der Progression im Steuersystem anstreben. Das bedeutete u. a. ein An­heben des ESt-Spitzensatzes auf (z. B.) 90 % und (mindestens) eine Verdoppelung der Kör­perschaftssteuer. Damit ist aber auch schon klar, warum dies nur der erste Schritt sein kann. Denn es müssten gleichzeitig Kapitalverkehrs-Kontrollen sowie Kontrollen des Geld­verkehrs etabliert werden. Usf.

Eine keynesianische Politik hingegen würde sich bemühen, mittels Kreditfinanzierung die Nachfragelücke zu füllen. Und dann? Wenn die Staatsschuld auf 120 % oder 140 % des BIP gestiegen ist? Dann kommt mit Sicherheit das „Sparprogramm“.

Fügen wir noch hinzu, dass üblicher Weise Staatsschulden Zinssubventionen an die obere Mittelklassen und an die Banken sind: die Alternative des Weg-Inflationierens der Schuld funktioniert nicht; außer bei galoppierender Inflation nach Kriegen bei den Verlierern. Sehen wir uns im Vergleich Großbritannien und das Deutsche Reich nach dem Ersten Welt­krieg an! Auch „Großbritannien“ hatte schwere Vermögensverluste im Krieg erlitten. Aber das Hauptergebnis war: Der britische Staat hatte während des Kriegs in hohem Ausmaß die bisherigen Auslandsguthaben der Eliten „übernommen“ und damit die kriegsnotwendigen Einkäufe gesichert. Anders und klarer ausgedrückt: Die Eliten hatten ihre Ansprüche an das Ausland, den Rest der Welt, von dem sie vorher als Rentner Einkünfte bezogen, gegen Staats­anleihen getauscht. Sie bezogen nunmehr ihre Renten vom britischen Staat. Für sie war dies wesentlich sicherer. Der britische Staat aber holte sich das notwendige Geld von den britischen Arbeitern. Der Bergarbeiterstreik, mit dessen Zerschlagung Churchill sich das im Krieg durch seine Unfähigkeit und Brutalität zerbröselte Ansehen bei den Eliten wieder aufpolierte, war ganz und gar kein Zufall. Analytisch noch deutlicher: Staatsschulden sind Ansprüche an den Staat. Aus Staatsschulden in den Händen der Elite entsteht also ein zusätzliches Herrschaftsverhältnis, eine zusätzliche Macht gegenüber dem Staat. Auch daraus wird wieder ein „Sachzwang“ konstruiert. Dieser Staat bedient die Eliten, wenn er nicht durch das allgemeine Wahlrecht und durch die entsprechenden nationalen Kompetenzen korrigiert wird.

Im damaligen Deutschen Reich aber verlor der Teil der Herrschenden, der bisher von Geld­renten gelebt hatte, diese Einkommen. Das war eine der Schichten, welche den Aufstieg des Faschismus beförderten.

In ihren Begleiterscheinungen trifft daher der Abbau der Staatsschuld wieder die unteren zwei Drittel der Gesellschaft und nicht das oberste Drittel. Nochmals das Weginflationieren. Selbst wenn in Friedenszeiten der Ertrag der Staatsschuld kürzerfristig (!, seit nun zwei, drei Jahren in ganz wenigen Wirtschaften) einen Negativzins ergibt, sagen wir einmal: -1 oder -2 %, kann sich jeder selbst ausrechnen, wie lange es dauern müsste, bis die Hälfte dieser Schuld weg wäre. So lange sind die Laufzeiten der Staatsanleihen bei weitem nicht.

Der Unterschied zwischen den möglichen Politiken ist eklatant. Man könnte, um zu provozieren, die erste Strategie in ihrer vollen Entwicklung auch als linken Monetarismus bezeichnen. Denn sie beinhaltet auch eine Kontrolle der verschiedenen Geldmengen. Sie werden als kurz- und mittelfristige Steuerungs-Instrumente erhalten.

Doch jenseits dieser Grundüberlegungen hat die jüngere Vergangenheit gezeigt, dass Keyne­sianismus auf der nationalen Ebene einfach nicht mehr funktioniert (siehe oben). Im Rahmen der EG / EU mit ihren „Freiheiten“ für das Kapital braucht dies nicht viel an Kommentar. Das muss im Rahmen einer sinnvollen Theorie diskutiert werden.

Der Saldenzauber Kalecki’schen Zuschnitts verdunkelt die Sachverhalte eher, als dass er das Verständnis fördert. Das erinnert stark an Hicks, welcher in einer „Einführung in die Volks­wirtschaft“ (dt. 1972 – eine solche Literatur gibt es heute gar nicht mehr; nur mehr 800 Seiten „Makro“- und ebenso lange „Mikro-Ökonomie“) zuerst die Begriffe der VGR durchdefiniert; und dann mehrmals festhält: „Wir haben also bewiesen,…“ Worum geht es eigentlich?

Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft. Diese triviale Selbstverständlichkeit müssen wir der mainstream-Ökonomie gegenüber immer und immer wieder betonen. Und zu dieser gehört in seinen Grundlagen der Keynesianismus. Wer dem widerspricht, der braucht nur in der „Allge­meinen Theorie“ nachzulesen, welche Konzepte und Ideen Keynes einsetzt. Und konkret auf die gegenwärtige Problematik der Stellung der BRD angewandt:

Außenhandelsüberschüsse entstehen aus einer Verteilungs-Situation des betreffenden Lan­des. Die in Kalecki- und Minsky-Manier getroffene Aussage, sie seien Profite, verdunkelt die kausale Richtung. Sie entstehen aus einer Wirtschafts-Politik, welche bewusst die Löhne drückt. Das Erreichen eines Außenhandelsüberschusses ist dabei ein Mittel und bisweilen auch ein Ziel unter anderen. Damit sind solche Überschüsse (und etwas komplexer gilt dies für Zahlungsbilanz-Überschüsse insgesamt) Indikatoren für das Verteilungsproblem, z. B. innerhalb der BRD. Sie als „Spielräume“ zu bezeichnen, ist geradezu widersinnig. Solche Indikatoren zeigen allerdings, gegen die offensive Propaganda des Kapitals und speziell des Export-Kapitals an: Selbst im Rahmen des bestehenden Systems wäre eine weniger schiefe Verteilung möglich, könnten die Löhne steigen und die durch Steuern auf Profite zu finanzie­renden Sozialleistungen ausgebaut werden. Mit Keynesianismus als Wirtschaftspolitik hat dies nichts zu tun. Der Unterschied ist wichtig. Denn er sagt was über Möglichkeiten aus.

Doch damit sind wir in mehrfacher Weise beim Kern-Thema angelangt. Warum, um Himmels willen, sollen sich Linke auf das Systemverträgliche beschränken?

Dass wir Schritt für Schritt vorgehen müssen, ist kein Argument, sondern eine Selbstverständ­lichkeit. Um im Jargon zu bleiben: Die „Primärverteilung“ ist natürlich das eigentliche Ziel bzw. Problem. Die Frage der „Sekundär-Umverteilung“ durch Steuern und Sozialleistungen taucht überhaupt nur auf, weil die derzeitige Organisation der Wirtschaft das Überleben der Arbeitskraft ohne politische Intervention zur Problematik gemacht hat. Das Steuersystem ist nur das erste Mittel einer solchen Politik. Gewerkschaften sind möglicher Weise zu schwach, um sich durchzusetzen. Doch gerade in Österreich und der BRD sind sie meist schlicht nicht willens, eine entsprechende Lohnpolitik zu führen. Wir wissen um die Möglichkeiten gerade in der BRD, die Gewerkschaften zu korrumpieren. Vergessen wir nicht: Hartz IV war die Erfindung eines Gewerkschafters im Auftrag eines sozialdemokratischen Kanzlers! Es gibt für einen Linken in Österreich und erst recht in der BRD keinen Grund, besonders gewerkschaftsfreundlich zu sein.

Wenn wir die eigentlichen Fragen nicht stellen, dann eiern wir nur um die wirklichen Probleme herum: Wie müssen die Bedingungen und Strukturen sein, um auf nationaler Ebene und sofort darüber hinaus eine expansive Wirtschaftspolitik treiben zu können, ohne dass diese sofort zum beggar-my-neighbour verkommt? Wie ist die Ungleichheit zu vermindern? Wie hat eine Transformation auszusehen, welche dieses Namens wert ist und die Situation für die große Mehrheit auf Dauer ändert?

Führende Funktionäre der „Linken“ in der BRD glauben diese Probleme mit dem grotesken Ansatz angehen zu müssen, man könne keinen „Keynesianismus in einem Land“ betreiben. Das kann man unter EU-Bedingungen tatsächlich nicht (mehr). Aber allein dieses Motto verrät den Geist dieser Figuren à la Riexinger. Wenn sie dies dann noch erweitern und behaupten, dass sie sehr wohl Keynesianismus auf EU-Ebene betreiben wollten, zeigt dies geradezu grell die Tradition, in der sie stehen, die sie nie kritisch reflektiert haben, und die nun auf sozialdemokratische Weise weiterwirkt. Die alte Gewohnheit der Dependenz von einem großen Bruder wird einfach auf einen neuen Großen Bruder übertragen, der diesmal im Westen sitzt.

Es ist hohe Zeit, solche Mentalitäten zu überwinden

Albert F. Reiterer, 8. November 2016