Zum Streecks „Zerfall Italiens“

von Rainer Brunath, Hamburg

Zusammenfassung eines Interviews erschienen in der online FAZ: Die Zeitbombe ist der Zerfall Italiens

Die nächste Euro-Krise steht bevor. Reichen die alten Instrumente? Ein Gespräch mit dem Soziologen Wolfgang Streeck über die Folgen von Corona für die Europäische Union.

Die westliche „Wertegemeinschaft“ hat sich (bisher) bedingungslos dem Globalisierungsprozess ausgeliefert, hat, um diese Transformation zu bezahlen, die dafür nötigen Ausgaben in die Zukunft verschoben. Schlimmer, sie hat Schulden gemacht, die nicht in ihrer Gesamtheit mit Steuereinnahmen finanziert werden konnten. So bauten sich von Krise zu Krise riesige Schuldenberge auf. Um diesen Zustand verwalten zu können, entstand eine „Exekutivdemokratie“ die die nationalen Parlamente ausschaltete – immer mit dem Vorwand, es seien Schritte hin zur politischen Union der EU. Andererseits holten sich nationale Regierungen in Brüssel jene Mandate, die die eigenen Gesetze nicht abdeckten.

Die Schuldenlast führte dazu, dass sich Krisen der Finanzindustrie, wie auch die aktuelle durch die Covid 19-Pandemie hervorgerufene, sich mit hoher Geschwindigkeit global ausbreiten – mit einem Tempo, dem sich bürgerliche Demokratien nicht gewachsen zeigten, zeigen können. Das führt (wie erlebt) zum Regieren per Dekret,  die Anzeichen einer autoritären Demokratie sind.

Um „Haushaltskonsolidierungen“ (Austerität) durchzusetzen, gab/gibt es Überwachungsinstrumente in der EU, mit denen Brüssel in den letzten Jahren in 63 Fällen die Mitgliedstaaten aufgefordert hat, Kürzungen in deren nationalen Gesundheitssystemen vorzunehmen – wie auch bei der Arbeitslosenunterstützung und  den Arbeitnehmerrechten. In Italien fiel dadurch die Quote des öffentlichen Gesundheitssystems auf 6,5 % des nationalen Haushaltes. In der BRD liegt sie noch (!) bei 9,5%.

Und es gibt Anzeichen, dass die Regierungen nach der Bewältigung der Pandemie diese Politik fortsetzen wollen. Dass nach der Corona-Krise nichts mehr so sein werde wie zuvor, ist bis jetzt nur ein frommer Wunsch breiter Bevölkerungsschichten.  Das bedeutet:

=> weitere Verschuldungen der Art, dass die Geldmenge im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten der EU zunimmt,

=> steigendes Gewicht der EZB mit Draghi an der Spitze als big Leader im Hintergrund,

=> zunehmende soziale Ungleichheiten werden weitergeführt (öffentlich erkanntes Beisspiel: Bezahlung der Pflegekräfte)

Das gilt  in katastrophalem Maß für den Süden Europas, während Deutschland bisher Honig aus der strukturellen Asymmetrie der europäischen Währungsunion zog, also aus Begünstigungen für die auf  Exporte setzende Volkswirtschaft.

Zur systemkonformen Bewältigung der durch Corona ausgelösten Wirtschaftskrise spielt die EZB eine gewichtige Rolle, obwohl monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB  kraft des  Vertrags von Maastricht ausgeschlossen ist.  Sie arbeitet mit einem Trick:  Sie kauft den privaten Kreditgebern (Banken) ihre Schuldverschreibungen  (an die Mitgliedsstaaten) ab und gibt ihnen dafür frei geschöpfte Euros.

Damit übernimmt die EZB quasi politische Aufgaben ohne demokratische Kontrolle. Aber das ist nur eine von vielen unsauberen Instrumenten in der EU, und die Bundesregierung nimmt das hin, weil damit der Wechselkurs z.B. gegenüber dem Dollar, durch die Mitgliedschaft der schwächeren Länder gedrückt wird, was den Export begünstigt.

Die südeuropäischen Länder haben durch die feste Bindung an den Euro keine Möglichkeit abzuwerten und damit die Talfahrt zu stoppen. Damit ist der Verfall speziell Italiens – eines der Gründerländer der europäischen Einigung – eine Einbahnstraße, gefolgt von Frankreich in gewissem zeitlichen Abstand.  Der Italiener Draghi (Chef in der EZB) prophezeite bzgl der Wirksamkeit der allgemeinen Sanierungsversuche „… it won’t be enough“ und dass die große Gefahr bestehe, dass die EU-freundliche politische Kaste in Italien hinweggefegt werden könnte.

Der Soziologe Wolfgang Streeck ist der Auffassung, dass die EU-Elite die Union nur retten könnte, wenn sie den Umbau der EU zu einer horizontalen Kooperation – sozusagen alle auf Augenhöhe – in Angriff nähme – also ohne die bisherige hierarchische Ordnung. Das würde auch die nationalen Währungsparitäten und deren Möglichkeit zu „floaten“ berücksichtigen müssen Das jetzige, schon lange in Verfall befindliche Modell sei ein technokratisches Globalisierungs- und Zentralisierungsprojekt. Dessen Zeit sei abgelaufen. Weiter sollte die EU sich abschminken, machtpolitisch mit den USA und Russland/China (dem asiatischen Block, dem noch Indien beitreten wird) konkurrieren zu können. Im Gegenteil, die EU (damit auch die BRD) sollte zeigen, aus der Geschichte gelernt zu haben und dafür arbeiten, dass eine ihre Vielfalt bewahrende europäische Zivilisation ohne imperiale Ambitionen nach innen oder außen „blockfrei“ und friedlich leben kann. Dafür bräuchten wir keine Mitgliedschaft in der NATO und keinen auf 2 % steigenden Wehretat. Positiver Nebeneffekt: der rechte politische Rand würde nach und nach abbröckeln! (Kommentare in kursiv vom RB)