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GLOBALISIERUNG: BEISPIEL ÖSTERREICH. Auslandskapital und Direkt-Investitionen II

Karl W. Deutsch hat gerne darauf verwiesen, dass die Außenhandelsverflechtung vor dem Ersten Weltkrieg stärker war als zu seiner Zeit, d. h. noch in den 1950ern. Er hat daraus auf geringere globale Integration geschlossen. Doch der sinnvollere Indikator dafür ist die Kapitalverflechtung zwischen den Nationalwirtschaften. Gehen wir es einmal naiv an.

1974 machten die passiven Direktinvestitionen (DI) aus dem Ausland in Österreich umge­rechnet 2,128 Mrd. € aus. Dem standen 422 Mill. € von Kapital aus Österreich im Ausland gegenüber. Der eingegangene Bestand machte also das Fünffache des ausgegangenen aus. Damit sind wir von den Verhältnisse der End-1950er noch gar nicht so weit entfernt, wo es wenig Auslandskapital in Österreich gab, aber fast überhaupt keines aus dem Land wegging.. Das blieb auch noch einige Zeit so. Doch stiegen auf beiden Seiten Ströme und Bestände schneller als das BIP.

Die folgenden Daten stammen von der OeNB. Sie beginnt ihre vergleichbare Zahlenreihe mit 1968 eingehend („passiv“) bzw. 1974 ausgehend („aktiv“).

(Bitte auf Link klicken)DI_Graphik2

Graphik 1

Quelle: Daten nach OeNB

Ab 1980 begannen die ausgehenden DI stärker zu steigen als die eingehenden. 1985 standen 4,36 Mrd. „fremden“ Kapitals in Österreich 1,36 Mrd. „österreichischen“ Kapitals anderswo gegenüber. Die Schere war also etwas enger geworden. Doch dann stiegen für wenige Jahren die ausländischen DI in Österreich schneller als die DI aus Österreich im Ausland (1988: 6,22 Mrd. zu 1,24).

Ab 1989 setzte schließlich eine doppelte Bewegung ein. Beide Ströme, und damit auch die resultierenden Bestände begannen stark zu steigen. Die ausgehenden, die „österreichischen“ allerdings stiegen wesentlich schneller als die eingehenden.

2003 war der Bestand von Kapital aus Österreich im Ausland schließlich zum ersten Mal höher als der eingekommene Bestand. 44,3 Mrd. im Ausland standen 42,6 Mrd. an Auslands­kapital in Österreich gegenüber. Ab 2008, also mit und nach der Finanzkrise, verfestigte sich diese Tendenz. Die letzten Zahlen stammen aus 2015. Nun macht der Bestand in Österreich 150,8 Mrd. aus. Die österreichischen Kapitalisten verfügten im Ausland hingegen über 186,6 Mrd. „im engeren Sinn“ – über die Zahlen und ihre Güte wird später noch zu sprechen sein.

Doch zum Verständnis muss man diese Daten in Bezug zu fundamentalen Größen der Wirt­schaft setzen. Man rechnet diese Stände z. B. als Prozentwerte wesentlicher ökonomischer Systemgrößen. Das könnten sein: das BIP, besser die Abschreibungen. Leider lässt sich die theoretisch entscheidende Größe, der Anteil am Gesamtkapital nicht seriös berechnen. Denn der gesamte Kapital-Bestand einer Wirtschaft unterliegt dem Bewertungs-Problem. Nun gibt es inzwischen eine Reihe von Versuchen, den Kapital-Koeffizienten (k = K/Y) zu berechnen. Man schätzt ihn in hoch entwickelten Wirtschaften meist auf etwa 3. Das heißt: Der gesamte Kapitalbestand macht das Dreifache des BIP aus. Das wäre für Österreich 2016 1.150 Mrd. Damit hat man einen Richtwert. Andere Rechnungen gehen wesentlich höher (vgl. Piketty / Zucman 2014; dazu kritisch Reiterer 2015). Es scheint, dass der Kapital-Koeffizient in sich de-industrialisierenden Dienstleistungswirtschaften in den letzten Jahrzehnten in der Tendenz sinkt, was wenig überraschend wäre. Das ganze hängt engstens mit dem zusammen, was man unter dem Slogan „tendenzieller Fall der Profitrate“ debattiert. Darüber wird ein anderes Mal zu sprechen sein.

(Bitte auf Link klicken)

Graphik 2: Bestände der Direktinvestitionen in % des BIDI_Graphik3

Insbesondere die eingehenden Transaktionen sind enorm beweglich und instabil. Das deutet auf erhebliche spekulative Motivation hin. Die ausgehenden Investitionen pro Jahr sind eher stetig, wenn auch natürlich von Stimmungen und Konjunkturen abhängig. Das wiederum zeigt, dass sie sich eher an längerfristigen Unternehmens-Interessen orientieren. Die Betrachtung nach Branchen später wird dies tendenziell bestätigen.

Hier ist noch nicht der Platz, eine ausführliche Interpretation zu bringen. Dazu bräuchten wir auch die Daten zu den einzelnen Ländern und über die Branchen. Die möchte ich aus Platzgründen erst in Kürze präsentiere.

Doch der mir heute wesentliche Punkt ist in aller nur wünschbaren Deutlichkeit zu erkennen:

Die Verflechtung der österreichischen Wirtschaft mit der übrigen Welt war ein politisch ange­triebener Prozess. Zwar gab es bereits von etwa 1987 weg ein leichtes Steigen dieser Ver­flechtung. Vielleicht könnte man dies als spontane Mondialisierung kennzeichnen. Das ist allerdings fast irreführend. Denn 1986 gab es in Österreich einen Regierungswechsel. Die neue Regierung mit dem SP-Kanzler Vranitzky an der Spitze begann eine entschiedene Um­orientierung nicht nur der Wirtschafts-, sondern auch der Außenpolitik. Auch damals stand also die Politik als treibende Kraft im Hintergrund. Der Haupteffekt war der EG-Anschluss Österreichs. Tatsächlich schickte ie Regierung am 7. Juli 1989 den „Brief nach Brüssel“ ab, also das Anschlussbegehren.

Doch der entscheidende Wendepunkt kam 1999, mit der Währungsunion. Damals wurde der Euro zum Kern zum Kern der Wirtschaftspolitik, wennn auch auf den Papier-Zetteln im Umlauf noch „Schilling“ stand. Ab diesem Moment können wir das steile Ansteigen der Kapitalverflechtung beobachten. Österreich sollte unwiderruflich in die westliche, d. h. praktisch: deutsche, Kapital-Sphäre eingebunden werden. Selbst aber übernahm es die Funktion, den Rammbock gegen den Osten zu spielen. Dessen Einvernahme durch das Imperium erfolgte einige Jahre später.

Die Globalisierung ist ein hauptsächlich politischer Prozess. Sie läuft in Europa vor allem als Regionalisierung im Rahmen der EU ab. Alles Gerede um die unaufhaltsame sozio-ökonomi­sche Entwicklung ist ein Rauchvorhang. Die Unzulänglichkeit des Nationalstaats gegenüber der Umstrukturierung der Weltwirtschaft wird politisch erzeugt. Dahinter findet die zielge­richtete Politik der Abhängigkeit statt. Das muss man gegenüber Menschen betonen, die dies, mit dem einen oder anderen kritischen Schlenkerer, als „Analyse“ verkaufen (z. B. Scharpf). Ob dies aus unserer Sicht nun wünschenswert ist oder nicht, steht an dieser Stelle nicht zur Debatte. Hier geht es einzig um die klare Aussage: Globalisierung ist ein politisches Projekt, welches die Eliten in aller Zielstrebigkeit und mit hartnäckiger Energie durchsetzen.

Albert F. Reiterer, 20. März 2017

DER „WAHLSIEG“ DER NEOLIBERALEN IN DEN NIEDERLANDEN UND DIE ÖSTERREICHISCHE POLITIK: Anmerkungen mit einem Blick auf uns selbst

Die Regierung in den Niederlanden hat eine wahrhaft vernichtende Niederlage erlitten. So­wohl an Stimmen wie auch an Mandaten wurde sie annähernd halbiert. Das sind nicht mehr spanische, das sind bereits griechische Verhältnisse. Die Sozialdemokratie ist völlig zusam­mengebrochen, nach derzeitigem Stand von 24,8 % auf 5,7 %. So stark hat es nicht einmal die Pasok 2014 – 2016 erwischt. Nicht einmal mehr ein Viertel des Ausgangsbestands also; und der war ohnehin schon historisch niedrig. Jeroen Dijsselbloem muss sich wohl einen neuen Job in der EU suchen. Aber ob ihn die noch will? Zwar ist eine Wahlniederlage dort fast eine Voraussetzung für den Posten eines Kommissars oder auch der/des Außenbeauftragten. Denn das belegt, dass sich die betreffende Figur nicht um die Bevölkerung kümmert. Aber doch wiederum nicht in diesem Ausmaß! Er kann sich ja mit Varoufakis zusammen nun um eine neue Kraft in Europa kümmern.

Die VVD hat auch fast ein Fünftel ihres Bestands verloren, von 26,6 % auf 21,3 %. Aber sie konnte ihren neoliberal-konservativen Stamm einigermaßen halten.

Was die Linke in den Niederlanden betrifft, bin ich zu schlecht informiert, um hier urteilen zu können. Die Grünlinken scheinen mir denn doch zu sehr nach den rechten „Linken“ etwa der BRD auszusehen. Aber da sollen Informiertere urteilen.

Und die österreichischen und deutschen Weltblätter vom „Straubinger Tagblatt“ über die „Rhein-Neckar Zeitung“ bis zu den „Niederösterreichischen Nachrichten“ schreiben und vor allem der ORF spricht vom „Erfolg“ der EU-Kräfte. Zum Einen kann man nur sagen: Wir wünschen uns dringend einen weiteren solchen Erfolg. Zum Anderen aber ist doch festzu­halten: Diese Desinformations-Kampagne ist ein absoluter Skandal. Aber er liegt seit Jahren auf der Linie des ORF. Dies ist also das erste Problem dieser Wahlen hier, in Österreich und auch übrigens in der BRD, wenn dort vielleicht auch ein wenig abgeschwächt.

Wir müssten etwas gegen den ORF unternehmen. Insbesondere der Hörfunk mit seinen Journalen fährt diesen Kurs nunmehr seit vielen Jahren. In letzter Zeit ist es aber immer übler geworden. Figuren wie die Frau C. Vospernik verbreiten nur Propaganda und Hetze. Es ist eine Mischung aus Dummheit, Faulheit und Bösartigkeit – Faulheit, weil sich diese Typen gar nicht mehr die Mühe antun, sich zu informieren, obwohl dies heute leichter als je wäre. Es erinnert wahrhaft bereits an dunkle Zeiten, die wir seit langem hinter uns glaubten.

Dann gibt es einen weiteren Punkt, der für uns höchst interessant ist, und der besonders auch in den letzten Monaten sonnenklar geworden ist. Er hat insofern mit den Niederlanden zu tun, weil bei uns die FPÖ in dieselbe Kategorie wie Wilders gesteckt wird, und auch hier die Staatstragenden, also die gesamte Medienlandschaft, mit „Pfeifen im Walde“ reagieren, nämlich mit dem Versuch, sich die für sie beunruhigenden Ergebnisse schön zu reden – siehe Präsidentschaftswahlen.

Es findet derzeit eine diskrete Umstrukturierung des politischen Systems auch in Österreich statt. Nicht nur ich sah bis vor kurzem folgendes Szenario als die wahrscheinlichste Entwick­lung der politischen Oberfläche in Österreich: Die FPÖ gewinnt bei den nächsten Wahlen wiederum stark und wird zur personell bestimmenden Kraft der künftigen Regierung. Da sie aber keine politische Potenz hat, zeichnet sich schnell wieder ein Szenario ab, wie wir es schon einmal zwischen 2000 und 2007 kannten: Die Partei bricht entweder zusammen, oder aber sie verliert jedenfalls stark an Unterstützung. Das müsste dann politische Spielräume für neue Kräfte eröffnen.

Doch nun können wir etwas Anderes beobachten: Die FPÖ mausert sich bereits zur Regie­rungspartei, bevor sie noch in der Regierung ist. Sie unterscheidet sich nur mehr in einzelnen, z. T. recht hässlichen Nuancen von der bisherigen Regierung. Damit verliert sie auf Dauer ihren Appeal als Oppositions-Symbol für die Bevölkerung. Die Wahrscheinlichkeit des oben skizzierten Szenarios nimmt ab.

Es wird allerdings etwas dauern, bis die Bevölkerung realisiert, was da vor sich geht. Es ist eine Frage der Zeit. Diese Wandlung zur Regierungspartei kann der FPÖ das Genick brechen, bevor sie noch in der Regierung ist, je später die Wahlen angesetzt werden, umso eher.

Auch das macht politischen Raum frei, aber nicht in derselben Klarheit, wie es eine formelle Regierungspartei FPÖ bringen würde. Die Frage stellt sich z. B., welche Rolle solche Kräfte wie Dühringer in diesem Zusammenhang bzw. in diesem Raum spielen. Ich muss gestehen, dass ich selbst eher skeptisch bin. Da ist zu viel Naivität im Spiel.

Die Frage stellt sich, ob es irgendeine Kraft in Österreich gibt, die hier ansetzen kann. Unsere hoffnungsvollen Blicke in ein südliches Bundesland sind u. U. doch mehr vom Wunsch als von der Realität bestimmt. Wir selbst aber sind (noch?) Zaungäste der politischen Entwick­lung und müssen uns vorderhand auf Analyse, Kommentare und Zurufe beschränken.

Albert F. Reiterer, 17. März 2017

 

WAS BRINGT DIE GLOBALISIERUNG FÜR ÖSTERREICH? Die Beschäftigungswirkung von Kapitalströmen nach Österreich und aus Österreich

Vorbemerkung: Das Folgende ist ein Detail-Ergebnis aus einer umfangreicheren Arbeit über Direkt-Investitionen aus und in Österreich

Anfang der 1970er schrieben zwei Referenten der Wiener Arbeiterkammer eine Studie über „Auslandskapital in Österreich“ (Grünwald / Lacina 1970). Die Arbeit erregte ein gewisses Aufsehen und machte die beiden bekannt. Für beide war sie der Beginn einer persönlich er­folgreichen Karriere. Grünwald wurde 1978 Vorstandsvorsitzender der ÖIAG, der Dachge­sellschaft der verstaatlichten Industrie; später Aufsichtsratsvorsitzender der ÖMV. Lacina wurde erst Kabinetts-Chef bei Kreisky, 1982 dann Staatssekretär, 1984 Verkehrsminister und schließlich ab 1986 langjähriger Finanzminister. Über ihn wäre noch Einiges zu sagen, was abeer nicht hierher gehört. Mit der Arbeit über Auslandskapital hatte er sich einen „linken“ Ruf erworben. Als Finanzminister führte er eine hart neokonservative Politik nach dem Muster eines seiner Vorgänger, des Stefan Koren, oder dem des Wolfgang Schäuble. Insbesondere schenkte er den Konzernen durch die Körperschaftssteuer-Senkung viele, viele Milliarden.

Auslands-Kapital, Direkt-Investitionen aus dem Ausland, hatte in Österreich seit je einen zweifelhaften Ruf. Hatten doch die Nazis in der Zwischenkriegszeit starke deutsche Unter­nehmungen in Österreich als Fünfte Kolonne eingesetzt. Die Austrofaschisten setzten 1934 sogar einen „Regierungskommissar zur Bekämpfung staatsfeindlicher Umtriebe in der Pri­vatwirtschaft“ ein, der ausnahmsweise nicht gegen Arbeiter gerichtet war. „Die Industriere­gion Leoben-Donawitz sowie Eisenerz zählten am 25. und 26. Juli 1934 .. zu den Haupt­gebieten der nationalsozialistischen Putschaktion. … Leitende Angestellte des größten Industriekonzerns Österreichs, der Österreichischen Alpine Montangesellschaft (ÖAMG), [spielten] eine führende Rolle. Die Ursachen dafür lagen vor allem in jenen Entwicklungen innerhalb der ÖMAG, die eng mit der Übernahme von 56 % ihrer Aktien durch die Düsseldorfer Vereinigten Stahlwerke im Jahr 1926 zusammenhingen“ (Staudinger 1984, 15; weiters Fischer 1983).

In den 1950ern kontrollierte die österreichische Regierung die Investitionen sehr strikt. „Bis Anfang 1959 waren ausländische Direktinvestitionen bewilligungspflichtig. Die Nationalbank achtete darauf, daß die Beteiligungen nach Möglichkeit unter 50% lagen Sie wurden bewil­ligt, wenn sie zur Ausweitung der Produktion oder zur Schaffung neuer Produktionszweige beitrugen“ (WIFO 1960).

Es ist also von politischer Bedeutung, dass Lacina am Beginn seiner Karriere kritisch zum Auslandskapital stand, dann aber, nach der Vranitzky’schen Wende der Sozialdemokratie zum Neoliberalismus offenbar voll und ganz auf eine kritiklos-positive Betrachtung umge­schwenkt ist. Es hat Sinn, dies hier zu erwähnen. Das Problem besteht darin, dass auch manche Linke heute den Globalismus noch immer als Internationalismus sehen.

Und es war in der Vergangenheit immer von Auslandskapital in Österreich die Rede. Die ausgehenden Ströme bzw. die Bestände von Kapital österreichischer Eigner im Ausland waren unbedeutend. Die österreichische Wirtschaft und Gesellschaft damals hinkte der westeuropäischen Entwicklung so sehr nach, dass dies fast natürlich schien.

Ein Blick auf die heutige Situation ist höchst aufschlussreich.

Nicht erst die Propagandisten der EU, alle, welche sich stets um eine Rechtfertigung für Steu­er-Geschenke an Unternehmungen bemühten, haben stets auf die Beschäftigungswirkungen des Auslandskapital in Österreich hingewiesen. Man müsse die Körperschaftssteuer senken, so der Exminister Lacina immer wieder, die Einkommenssteuer der Unternehmen somit. Denn sonst würden die nach Bratislava abwandern.

Die Beschäftigung durch Kapital aus dem Ausland in Österreich und umgekehrt wird von der ÖNB so errechnet, dass die Beschäftigung der Unternehmen mit ausländischer Beteiligung mit dem Anteil der Beteiligung gewichtet wird. Die Zahl, sowohl beim einkommenden wie auch beim ausgehenden Kapital ist somit ein synthetischer Wert. Aber er ist von hohem Interesse.

1990 ergab diese Methode eine Beschäftigungswirkung von 226.100 Arbeitsplätzen vonseiten des einkommenden Kapitals. Nicht wenig, könnte man meinen. Doch die Verflechtung hat sich intensiviert: Seit 1990 haben die Bestände des Auslandskapitals sich ver-18facht auf der einkommenden Seite; auf der ausgehenden Seite ver-51facht. Dem 18fachen Kapital steht eine Steigerung der Beschäftigtenzahl auf 251.082, also um 11 % gegenüber. (folgenden link bitte anklicken!)

 

Auslandsivestitionen_Graphik3

 

Und die „Aktiv“-Seite, die ausgehenden Kapitalien?

Nach derselben Methode gerechnet, waren 1989 29.500 Arbeitsplätze von österreichischem Kapital im Ausland geschaffen. 2015 waren es 801.200. Das ist eine Steigerung von 2.617 %. Das also ist der Gewinn der Kapitalfreiheit für österreichische Beschäftigte. Anders ausge­drückt: Im Jahr 1989 schuf die Differenz von einkommenden Kapital zu ausgehenden 196.600 Arbeitsplätze in Österreich. Im Jahr 2014 ließ dieselbe Differenz, die sich im Vorzeichen des Saldo mittlerweile ja umgedreht hatte, 550.100 Arbeitsplätze in Österreich verloren gehen. Sie hätten mit Kapital aus Österreich hier geschaffen werden können. Dass dies unter bestehenden Verhältnissen nicht mechanisch geschehen wäre, ist schon klar. Doch wäre das nicht einer der Gründe, die bestehenden Verhältnisse zu ändern?

Gehen wir in einzelne Branchen. Der Anteil der „headquarters“ macht die Hälfte des Aus­landskapitals in Österreich aus. Doch davon werden nicht einmal 3000 Arbeitsplätze geschaffen! Eine wirklich nennenswerte Beschäftigungswirkung ergibt sich nur im Handel. Dort lautet die Angabe 73.58 Beschäftigte. Die aber wären so oder so vorhanden. Hier hat das ausländische Kapital nur die österreichischen Unternehmungen und ihre Profite übernommen. Billa war vor und nach dem Verkauf des Jahres 1996 an den deutschen Rewe-Konzern vorhanden. 1998 hatte Billa rund 25.000 Beschäftigte, im Jahre 2016 dagegen 18.400. In diesem Fall von einer Beschäftigungswirkung durch Auslands-Investitionen zu sprechen, wäre regelrecht verblendet. Selbst im Finanz- und Versicherungswesen, welches den zweitgrößten Anteil (s.o.) am Auslandskapital ausweist, zeigt die Beschäftigungstendenz seit fast drei Jahrzehnten eher nach unten (1989: 16.035; 2014: 15.725 Beschäftigte).

Die angeblich so wichtigen Direkt-Investitionen in und aus Österreich zeigen also für die Beschäftigten eine eindeutige, und enorme, negative Bilanz. Doch der Kapitalexport, vor allem in die Ostländer, findet nicht zufällig satt. Gewinnen schon die Arbeiter und Angestellten nichts, verlieren vielmehr, so gewinnen die Exporteure umso mehr an Profiten.

Albert F. Reiterer, März 2017

DAS NEUE „WEIßBUCH“ DER EU-KOMMISSION: Brüssel steckt in der Krise und versucht sie zu überdribbeln.

Mit 1. März 2017 ist das neue White Paper der Kommission datiert. Es ist gedacht, so heißt es hinten, als Geburtstags-Geschenk zum 60 Jahrestag der Römer Verträge in drei Wochen. Ein schäbigeres Präsent ist kaum jemals überreicht worden. Bisher waren die Bestandsaufnahmen und die Programme der EG / EU durchaus unterschiedlich stilisiert. Aber den meisten von ihnen konnte man die politische Bedeutung nicht absprechen. Dieses hier ist einfach belang­los. Gerade deswegen ist es ein akutes Krisen-Zeichen. Die EU-Regierung steht der neuesten Entwicklung offenbar ratlos gegenüber. Ein so inhaltsleeres Papier hält man selten in den Händen.

Die ersten paar Seiten sind der Bestandsaufnahme gewidmet. Das einzig Neue ist die Aus­schmückung mit Graphiken. Hier finden wir im Text das übliche Bla-Bla neoliberal-konser­vativer Sozial-Diagnostik: „Rückkehr des Isolationismus“; „Europa ist der älteste Kontinent“; auch die Frechheit von der verlorenen Generation durch „Jugendarbeitslosigkeit“ – ohne natürlich zu sagen, wer für diese verlorene Generation, in Griechenland und Italien z. B., verantwortlich ist. Aber schließlich kommt der Hinweis, auf das, was offenbar wirklich beunruhigt: „eine wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der mainstream-Politik“.

Nun folgen fünf Szenarien für die nächste Zukunft bis 2025. Erstaunlich ist eher, wie gering und verwischt die Unterschiede dazwischen gezeichnet werden.

(1) Weiter wie bisher;

(2) Nur der einheitliche Markt;

(3) Die mehr wollen, schließen sich enger zusammen; also: die variable Geometrie bzw. die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die Schäuble-Lamers-Vorstellung somit;

(4) Weniger, aber effizienter; also: differenzielle Integration / Konzentration;

(5) Viel mehr gemeinsam; also: beschleunigte allgemeine Zentralisierung.

Die Schlussfolgerungen überlässt die Kommission dem geschätzten Publikum. Es ist nur nicht ganz klar, wer dies sein soll. Wahrscheinlich sind es die nationalen Regierungen. Doch sicher blickt man auch auf die eigenen Heerscharen, auf die oberen Mittelschichten.

Die Verunsicherung ist mit den Händen zu greifen. Das ist das wirklich Neue. Es ist aber auch das einzig Neue. Man begegnet der Krise mit den alten Floskeln. Die üblichen Versprechun­gen, mehr Wohlstand etc., sind zu abgegriffen, als dass man sind mit Nutzen noch einsetzen könnte. Nicht, dass einige besondere Frechheiten fehlten: Da wird etwa gesagt, man dürfe nicht einzelne Staaten zur Beute der Stärkeren werden lassen: Denken die Damen und Herren da vielleicht an Griechenland und die BRD? Oder: Der Finanzmarkt müsse geschmeidiger werden, damit die Unternehmen wieder Kredite bekämen. Als ob es daran läge. Das Finanz­kapital glaubt einfach, in der Spekulation mehr Profite machen zu können. Die Realwirtschaft scheint dabei uninteressant. Geld aus den steigenden Gewinnen und für Investitionen gäbe es genug, viel zu viel! Usf.

Dann setzt man halt das inzwischen auch schon reichlich abgegriffene Vokabel von „Frieden und Freundschaft“ ein. Das ist nicht ohne Ironie. Damit kommen wir zum Kern. Denn die eigentliche Strategie zeichnet sich hier ab:

Die Kommission hat begriffen, dass mit den alten von ihr bevorzugten Anboten von mehr Zentralisierung ganz allgemein und gleichzeitig ökonomischer Deregulierung – dialektisch könnte man sagen: Regulierung der Deregulierung – auf immer größeren Widerstand stößt. Also versucht sie, darüber hinwegzugleiten. Aber zwei Kernthemen der Supra-Staatlich­keit will sie unbedingt retten und ausbauen. Immer wieder kommt sie auf die militärische Kooperation und die Rüstung zurück. Sogar die bereits in den 1950ern von der französischen Nationalversammlung verworfene Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) will sie neu auflegen und beleben. Aufrüstung als ein Kernthema des traditionalen Staats ist völlig prioritär. Unmittelbar damit zusammen hängt das zweite Lieblingsthema, das allerdings auch eine andere Seite hat: Sie will eine einheitliche Außenpolitik, auch mit einheitlichen Institu­tionen, durchsetzen. Der europäische Superstaat soll nach Innen eine supra-imperialistische Struktur erhalten – Deutschland befiehlt, und Frankreich darf ein bisschen mitreden. Nach Außen soll er aber als konventioneller Imperialismus auftreten und im Globalsystem militärisch-politisch-wirtschaftlich konkurrenzfähig werden.

Dafür braucht dieser alt-neue Imperialismus aber auch außenwirtschaftliche Handelungs­fähigkeit. Das ist wichtig. Nicht nur CETA steht auf der Tagungs-Ordnung. Auch TTIP muss wieder aus der Versenkung geholt werden. Prioritär ist der Kommission daher die politische Kompetenz für umfassende Handelsverträge Die dürfen dann nicht mehr durch nationale Empfindlichkeiten und Einwendungen gestört werden. Diese globalistisch-imperialistischen Unternehmungen will die Kommission unbedingt durchbringen; hier muss sich nach ihrer Sicht Einiges ändern.

Wer alteriert sich da? Das Manifest von Ventotene des Altiero Spinelli von 1941 werde miss­braucht, um weitere Zentralisierung durchzubringen. Das ist ein schweres Missverständnis. Dieser Entwurf wird nicht missbraucht. Er wird auf eine realistisch gewendete Weise gebraucht. Altiero Spinelle war kein Linker, er war ein Linksliberaler. Die Linksliberalen sind, mit Blick auf Euro und EU, unsere härtesten Gegner, mindestens ebenso wie die offen Konservativen, und vielleicht noch hartnäckiger. Spinelli war eine Zeitlang in der KPI gewesen. Als man ihn wegen „Trotzkismus“ rauswarf, wandelte er sich zum „europäischen Föderalisten“. Gestehen wir ihm persönlich zu, dass er seinerzeit bona fide raisonniert und geschrieben hat. Die Realität seines Entwurfs wurde dann eben zur EG / EU. Als ihn die KPI 1976 ins EP entsandte, hat ihn dies keineswegs zum Linken ge­macht. Es war umgekehrt. Das war einer der wichtigen Schritte, welche die Berlinguer-KPI schließlich zur Renzi-PD von heute gemacht hat, zur rechten Sozialdemokratie par excellence.

Wir bräuchten uns um dieses White Paper im Grund gar nicht zu kümmern. Aber sein Cha­rakter als Krisenzeichen macht es wichtig. In der Linken ist die Hoffnung auf die Krise weit verbreitet. Das wächst aus der Tradition der sozialistischen Bewegung heraus. Es ist aber trotzdem erstaunlich. „Never waste a crisis“ ist das Motto der Herrschenden – die Krise nutzen, um ihre Ziele durchzubringen. Jedenfalls gilt dies für einen Gutteil unter ihnen, den wagemutigeren. Aus den meisten Krisen gingen denn auch die Eliten gestärkt hervor. Es gab allerdings dabei meist Verschiebungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen und Fraktio­nen der Herrschenden. Ist also der Krisenoptimismus der Linken die reine Unvernunft?

In den 1960ern versuchte ein US-amerikanischer Historiker, Crane Brinton, eine Revolutions-Theorie zu konstruieren. Nicht, dass diese abstrahierte Phänomenologie so überaus viel bringt. Aber da er vier frühbürgerliche Revolutionen (einschließlich der Oktober-Revolution) studiert, haben einzelne Aus­sagen ein gewisses Interesse. Er erwähnt u. a. den Transfer der Loyalität von Intellektuellen auf neue Gruppen und den Verlust des Selbstvertrauens von Teilen der Herrschenden. Der erste Zug ist kaum in Ansätzen erkennbar; der zweite ist in diesem Weißbuch ziemlich ausgeprägt. Wir sind natürlich meilenweit von einer revolutionären Situation entfernt. Aber die Eliten werden trotzdem langsam unruhig.

Die Krise ist die unerlässliche Vorbedingung der Weiterentwicklung. Die Dinge kommen nur zum Tanzen, wenn sie für viele, vielleicht die meisten Menschen nicht mehr tragbar erschei­nen. Trotzdem ist das Spiel mit der Krise angesichts der bisherigen Erfahrungen eine gefähr­liche Angelegenheit und darf nicht leichtfertig getrieben werden, Doch in der Krise gibt es Phasen, in welcher die Eliten völlig verunsichert sind. Eine solche Phase dürfte die Kommission gerade durchlaufen. Dies gilt es zu nützen.

Albert F. Reiterer, 4. März 2017

 

Podemos nach Vistalegre 2: Regierungspartei im Wartestand?

von Klaus Dräger

Die spanische linkspopulistische Partei Podemos (‚Wir können es‘) hielt am Wochenende vom 11. und 12. Februar 2017 in der Madrider Stierkampfarena Vistalegre ihre zweite ’nationale Bürgerversammlung‘ (Asamblea Ciudadana) ab. Zwischen der Gründungskonferenz von Podemos im Oktober 2014 (Vistalegre 1) und diesem Kongress liegen mehr als zwei bewegte Jahre, in denen die junge politische Kraft mit einer zentralistischen Durchbruch-Strategie stärkste Partei werden und die Regierungsmacht in Spanien erobern wollte.

Bei den nationalen Parlamentswahlen im Dezember 2015 und der Wiederholungswahl im Juni 2016 kam sie mit ihren Bündnispartnern jedoch nur auf den dritten Platz, hinter Konservativen (PP) und Sozialdemokraten (PSOE). Gegenüber der Dezemberwahl verlor das von Podemos geführte Bündnis im Juni 2016 rund eine Million Stimmen.

Katerstimmung breitete sich aus, eine intensive Nabelschau begann. Richtungskämpfe um die Zukunft des Podemos-Projekts wurden intern und über die Medien mit großer Inbrunst (aber meist ohne inhaltlichen Tiefgang) ausgetragen. Vistalegre 2 sollte vor diesem Hintergrund die politische Orientierung und das Organisationsmodell der Partei auf die Herausforderung einer de-facto Großen Koalition von Konservativen und Sozialdemokraten neu einstellen, die sich mit der im Dezember 2016 installierten Minderheitsregierung von Mariano Rajoy (PP) abzuzeichnen scheint.

Die Strömungen

Es gibt zur Zeit drei Hauptströmungen innerhalb von Podemos (1) – die AnhängerInnen von Generalsekretär Pablo Iglesias, die AnhängerInnen des Politischen Sekretärs Íñigo Errejón, und die Anticapitalistas um den Europaabgeordneten Miguel Urbán und die Generalsekretärin von Podemos Andalusien, Teresa Rodriguez. Zu Vistalegre 2 legten diese ihre jeweiligen Positionspapiere zu vier Themen vor: politische Resolution (Analyse der Lage und Vorschläge für die politisch-strategische und programmatische Orientierung von Podemos), Organisationsmodell und Demokratie, zur Ethik, und zur Feminisierung der Organisation (Documento de Igualdad). Zur Feminisierung präsentierten Iglesias und Anticapitalistas einen gemeinsamen Vorschlag.

Als erster hatte der Errejón-Flügel die parteiinterne Debatte angestoßen: Podemos brauche neue Ideen für eine veränderte Lage, müsse sich weiter zur ‚Breite der Gesellschaft‘ hin öffnen, intern ein demokratischeres und dezentraleres Organisationsmodell anstreben. (2) „Die Hoffnung wieder gewinnen“ war das Motto ihrer Kampagne. Iglesias zog nach mit der Plattform „Podemos für alle“ – Regierungsübernahme in 2020 als stärkste Kraft, Zwischenschritte, 100 000 Podemos-Aktive und eine Million Sympathisanten gewinnen etc. pp.. Die Anticapitalistas propagierten „Podemos in Bewegung„, ebenfalls für mehr innerparteiliche Demokratie und Dezentralisierung, aber mit scharfer Kritik an der ‚Populismus-Hypothese‘ von Vistalegre 1 und der ‚Sozialdemokratisierung‘ von Podemos danach.

Sieg der ‚Pablisten‘

Zunächst zu den Ergebnissen: zur ‚politischen Resolution‘ gewann die Strömung um Iglesias (Podemos für alle) mit 56 %. Deutlich unterlegen waren die Texte von Errejón mit 33,7 % und der Anticapitalistas mit 8,9 %. Ähnlich die Ergebnisse in punkto Organisationsmodell und innerparteiliche Demokratie: Iglesias 54,4 %, Errejón 34,9 %, Anticapitalistas 10 %. Die gemeinsame Resolution des Iglesias-Flügels und der Anticapitalistas zur Feminisierung von Podemos erhielt 61,7 %, die Vorlage von Errejón 35, 6 %. Politisch und personell hat sich der Flügel um Iglesias auf der Konferenz Vistalegre 2 klar durchgesetzt.

Pablo Iglesias wurde mit 89,1 % der Stimmen wieder als Generalsekretär von Podemos bestätigt. Sein einziger Gegenkandidat Juan M. Yagüe erhielt nur 10, 9 %. Errejón führte die Kampagne seines Flügels mit großformatigen Postern, die Iglesias und ihn selbst als das alte und neue Führungsduo von Podemos zeigten. Für die Funktion des Generalsekretärs kandidierte er nicht. Seine Strategie (unterstützt von vielen Medien) war: Iglesias als Frontmann von Podemos und Ikone weiter behalten, aber ihm eine andere politische Agenda aufzwingen.

Iglesias hat sich dagegen gewehrt: Er könne nicht Generalsekretär von Podemos sein, wenn eine politische Plattform angenommen würde, die er so nicht teile. Für ihn gelte: ‚Politik zuerst‘ – gäbe es eine andere politische Mehrheit innerhalb von Podemos, so müsse diese dann diesen Posten aus ihren Reihen besetzen und die Verantwortung tragen. Aus meiner Sicht: prinzipiell nachvollziehbar und soweit demokratisch.

In den spanischen Medien wurde Iglesias‘ Haltung dazu als ‚Erpressungsstrategie‘ gebrandmarkt. Da ist ein Körnchen Wahrheit dran: in einer politischen und medialen Landschaft, in der alles auf ‚Personen‘ (politische Führungspersönlichkeiten) und ihre Rivalitäten fixiert ist (und politische Inhalte und Programme nicht viel zählen), wirkt so was. Die höhere Beteiligung von Mitgliedern und registrierten SympathisantInnen an den Abstimmungen über politische Dokumente und die Wahl der Leitung von Podemos bei Vistalegre 2 kam wohl auch über diese personelle Zuspitzung zustande- von Errejón dann als ‚Plebizit für Pablo‘ gescholten.

Der nationale Bürgerrat von Podemos

Die Wahl des nationalen Leitungsgremiums von Podemos (Consejo Ciudadano Estatatal, CCE – der nationale Bürgerrat) spiegelt in etwa die gleichen innerparteilichen Kräfteverhältnisse wie zuvor bei den politischen Dokumenten. Der CCE besteht aus 62 von der nationalen Bürgerversammlung zu wählenden Mitgliedern – über diese war in Vistalegre 2 abzustimmen. Hinzu kommen später die Podemos-GeneralsekretärInnen aus den autonomen Regionen Spaniens (z.B. Andalusien, Baskenland etc.), sowie einige wenige aus den Podemos-Kreisen gewählte Delegierte usw.

Für die Wahl dieser 62 Posten war zuvor in einer Internetabstimmung der Vorschlag des Organisationssekretärs von Podemos, Pablo Echenique, zu einem neuen Wahlverfahren für Vistalegre 2 angenommen worden – das Debordo. Die Abstimmungsberechtigten konnten für die Kandidatinnen Punkte vergeben: 80 für die- oder denjenigen, die sie auf Platz 1 sehen wollten, 79 für Platz 2 … bis runter auf 19 für die letzten – also ein Präferenzsystem, ähnlich wie das ‚Kumulieren und Panaschieren‘ bei manchen Kommunalwahlen in Deutschland.

Was die Abstimmung nach diesem Punkte-System angeht, so kamen die KanditatInnen der Liste des Iglesias-Flügels auf 50, 8 %, die der Liste des Errejón-Flügels auf 33,7 % und die der Liste der Anticapitalistas auf 13,8 %. Die 62 am Ende in Vistalegre 2 gewählten Mitglieder der Podemos-Leitung verteilen sich wie folgt: 37 UnterstützerInnen von Iglesias, 23 von Errejón und 2 von den Anticaps. Wäre z.B. der in den Medien als ’sehr demokratisch‘ gepriesene Vorschlag von Errejòn zum Wahlverfahren angenommen worden, hätte sich die Anzahl seiner AnhängerInnen im Leitungsgremium ironischerweise auf 21 verringert. Die Anticaps hätten hingegen 9 Leitungsmitglieder statt nunmehr 2. Ähnliche Ergebnisse wären herausgekommen, wenn der Vorschlag der Anticaps zum Wahlverfahren gesiegt hätte. Wahlverfahren hin oder her – unter allen diesbezüglichen Szenarien hätte Iglesias die Mehrheit von Podemos sehr deutlich hinter sich.

Die spanischen Medien kommentierten: Durchmarsch für Iglesias, Errejón abrasiert. Oberflächlich betrachtet mag das stimmen. Eine Parteispaltung – wie vom telepolis-Reporter Ralf Streck an die Wand gemalt – wird es m.E. aber vorerst nicht geben. Die Errejónistas werden sich eher in einen ‚Guerillakampf‘ um die Podemos-Basis begeben – so wie z.B. die ‚ grünen Realos‘ unter Joschka Fischer dies in den 1980er Jahren in ihrer Partei auch taten (was sich für sie mit spätem Erfolg in den 1990ern auszahlte).

Was Podemos zusammen hält

Was vereint und was trennt die drei Hauptströmungen von Podemos? Wenn man die vorgelegten politischen Resolutionen vergleicht, gibt es m.E. in vielen Punkten erstaunlich breite Übereinstimmung, trotz unterschiedlicher Akzente zu diesem oder jenem Thema.

So wollen alle drei Strömungen die ‚zentralistische Wahlkampfmaschine‘, als die Podemos in den letzten beiden Jahren agierte, überwinden und in eine ’neue Phase‘ eintreten. Dezentralisierung und Demokratisierung der Organisation (mit unterschiedlichen Nuancen), mehr Partizipationsrechte der Basis, das Recht der regionalen und lokalen Untergliederungen, über ihren Kurs etc. autonom zu entscheiden usw. – dies ist der generelle Tenor in den politischen Resolutionen aller drei. Ebenso: Podemos müsse eine ’soziale und politische Bewegung‘ werden (d.h Partei als auch ’soziale Bewegung‘ sein). Diese solle im Bündnis mit anderen ‚Gegenmacht‘ am Arbeitsplatz, den Universitäten und Schulen, in den Gemeinden usw. aufbauen und als Kraft agieren, um diese Aktivitäten untereinander zu vernetzen. Ziel ist, einen (gegen)hegemonialen ‚transformatorischen Block‘ in der Gesellschaft aufzubauen, der die Herrschaft der Eliten in Spanien bricht.

Die Anticapitalistas pochen diesbezüglich – wie auch Izquierda Unida (IU, Vereinigte Linke, Teil des Wahlbündnisses ‚Unidos Podemos‘) – auf eine Strategie des ‚Ungehorsams‘ gegenüber der EU-Austeritätspolitik, fordern erneut die Vergesellschaftung der Banken und des Energiesektors. Bei Iglesias und Errejón kommt dies nicht vor. An programmatischen Vorschlägen gibt es von den drei Strömungen insgesamt nichts wesentlich Neues. Podemos‘ interne Debatten bewegen sich bestenfalls im programmatischen Spektrum der Partei der Europäischen Linken (EL). Die Strömungen von Errejón und Iglesias stehen inhaltlich für ähnliche Positionen wie der moderate Flügel der EL (3). Alle drei Strömungen kritisieren ansonsten heftig den gegenwärtigen Kurs der EU-Eliten, die Austeritätspolitik usw. und orientieren auf eine radikale Reform der gegenwärtigen EU (‚Neugründung‘). In der EL geht es in Sachen Europapolitik heftiger zur Sache …

Die Strömungen von Iglesisas (eher implizit) und von Errejón (eher explizit; mit langen Ausführungen in ihrer Resolution über ‚Transversalität‘ und ‚plebejische Ansprache der Massen‘ usw.) beziehen sich weiterhin auf die lateinamerikanische Populismusstrategie und die diesbezüglichen Theorien von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Beide bemühen auch die Hegemonietheorie von Antonio Gramsci, dass nun der Übergang vom ‚Bewegungskrieg‘ (direkte Eroberung der Regierungsmacht, das zentrale Thema der letzten 2 Jahre für Podemos) zum mühseligen ‚Stellungskrieg‘ (Gewinnung der Hegemonie in ‚der Gesellschaft‘, geduldiger Aufbau eines ‚historischen transformatorischen Blocks‘) angezeigt sei. Bei so viel Gleichklang in der ‚Theorie‘ – was sind dann die Unterschiede in der Orientierung für die Praxis?

Strategie und Taktik

Für die Pablistas bedeutet Gramscis Formel vom Stellungskrieg: ‚Schützengräben‘ in der Gesellschaft ausheben, Gegenmacht aufbauen, im Wesentlichen außerparlamentarisch Bündnisse gegen das ‚Regime von 1978′ organisieren. D.h.: bei jeder Protestaktion, bei jedem kleinen oder größeren Streik dabei sein, aufklären, organisieren und vernetzen. Podemos dafür als ’nützliche Kraft‘ aufstellen, mehr Mitglieder und SympathisantInnen gewinnen, als Organisation schlagkräftiger werden. Idealtypisch: tiefe Wurzeln in den Kämpfen schlagen, sich lokal und regional besser verankern und somit die vorherige Dynamik als ‚Anti-Establishment-Bürgerbewegung‘ erhalten und neue Dynamik generieren.

Für die Errejónistas bedeutet dieselbe Formel: Podemos darf sich nicht auf reinen ‚Widerstand‘ gegen Rajoy, auf ‚linke Opposition‘ etc. beschränken. Podemos muss ‚transversal‘ aus dieser Ecke heraus, um hegemoniefähig zu werden. Also: sich als ’nützliche Kraft‘ erweisen, indem man auf parlamentarischer Ebene punktuelle Bündnisse mit PSOE, den Liberalen von Ciudadanos und den Regionalisten (Baskenland, Galicien, Katalonien usw.) zu diesem oder jenem Thema schließt. Und der konservativen Minderheitsregierung von Mariano Rajoy so Parlamentsbeschlüsse aufdrückt, die diese gar nicht will. Dafür müsse man die programmatischen Positionen von Podemos nochmals abschwächen, einen ‚dialogischen Stil‘ statt eines ‚konfrontativen‘ pflegen usw..

Dieser Diskurs Errejóns steht m.E. im Widerspruch zur von ihm weiterhin hoch gehaltenen ‚populistischen Strategie‘ im Sinne Laclaus: scharfe Frontstellung das ‚Volk‘ gegen die ‚Eliten‘, ‚Wir‘ gegen ‚die da oben‘ (4). Wenn dies alles auf ‚Einzelentscheidungen‘ herunter gebrochen wird, für die dann Bündnisse mit den hart kritisierten Eliten erforderlich sind, dann löst sich die von den beiden Hauptströmungen von Podemos propagierte Folie des Populismus in Rauch auf.

Iglesias hielt dagegen: Die konservative Minderheitsregierung von Rajoy kann mit Dekreten regieren, progressive Mehrheitsbeschlüsse des spanischen Parlaments so abwandeln, verzögern, außer Kraft setzen etc.. Die Chancen für ’nützlichen Wandel‘ auf dieser institutionellen Schiene seien minimal und sehr begrenzt. Errejóns Strategie erlaube der PSOE und den liberalen Ciudadanos, sich weiterhin als ‚Opposition‘ aufzuführen und sie aus ihrer Verantwortung zu entlassen, eine de-facto Große Koalition mit Rajoy geschmiedet zu haben. Die notwendige ‚historische Transformation‘ gerate so aus dem Blick. Podemos würde nur als der nächste Kandidat für die teilweise ‚Modernisierung‘ im immer gleichen Spiel der alten Elitenherrschaft wahrgenommen, ohne diese grundlegender zu verändern.

Wachstumsprobleme

Hinter diesem leidenschaftlich und manchmal in beleidigenden Schlammschlachten ausgetragenen Konflikt um ‚Strategie und Taktik‘ steht m.E. ein ‚objektives‘ Dilemma. Podemos und das breitere Wahlbündnis ‚Unidos Podemos‘ (mit IU und den regionalen ‚Confluencias‘) sind stark bei den jüngeren Generationen, generell bei WählerInnen mit guten Bildungsabschlüssen ab Abitur etc.. Iglesias will – soziologisch gesehen- in jene Schichten der Bevölkerung vorstoßen, die niedrigere Bildungsabschlüsse haben (also NichtwählerInnen und PSOE, wg. deren Krise). Das könnte ein ‚Nullsummenspiel‘ werden – PSOE verliert, UP gewinnt – keine wesentlichen Zugewinne aus dem rechten Lager, keine starke ‚links-alternative Mehrheit‘ – aber besser als nichts.

Errejón will aus dem rechten Lager (von PP und C’s, und ansonsten auch von NichtwählerInnen und PSOE) hinzu gewinnen – und dafür Podemos ‚programmatisch abrüsten‘. Die politische Resolution seiner Strömung hatte deshalb z.B. viele ‚Ideen‘ zur Gemeindereform, zur Situation der ländlichen Regionen (wo die PP stark ist) und zum ‚Patriotismus‘ als Leitideologie vorgetragen, um ’neue transversale Fronten‘ in dieser Hinsicht aufzumachen.

Das Dilemma: die meisten WahlforscherInnen in Spanien sind sich einig, dass Podemos bei der Umsetzung von Errejóns Strategie ‚links‘ und im ‚alternativ-progressiven Milieu‘ deutlich mehr verlieren würde, als in der Mitte oder Rechts hinzu gewonnen werden könnte. Und so erklärt sich m.E. auch, warum die ‚Pablisten‘ den Richtungsstreit innerhalb von Podemos gewannen: das Erreichte konsolidieren (das Wahlbündnis ‚Unidos Podemos‘ hat immerhin rund ein Fünftel der Wählerschaft im Rücken), sich besser verankern und verwurzeln, allmählich wachsen und schlagkräftiger werden – das ist erstmal die Hoffnung der Mehrheit (und auch der Anticapitalistas).

Bündnispolitik

Ein zweite wesentliche Konfliktlinie war: wie weiter mit dem Wahlbündnis Unidos Podemos? Errejóns Flügel beharrte darauf, dass das Bündnis mit den ‚Kommunisten‘ von Izquierda Unida ein gravierender Fehler war, weil Podemos damit in die ‚linke Ecke‘ geriet. Iglesias und Anticapitalistas träumen eher davon, dass die ‚confluencias‘ (der ‚Zusammenfluss‘ von Podemos, IU, den spanischen Grünen ‚Equo‘, plus die regionalen Bündnisse in Katalonien, Galicien usw. im Wahlbündnis Unidos Podemos, plus das Bündnis ‚Compromis‘ in der autonomen Region Valencia mit ähnlichen Kräften) perspektivisch zu einer breiter aufgestellten politischen Formation zusammengeführt werden könnten.

Errejón hingegen möchte bestenfalls wieder gemeinsame Wahlbündnisse eingehen, aber Podemos als unabhängiges ‚Zentrum‘ und führende Kraft der ‚confluencias‘ bewahren. In einigen spanischen ‚autonomen Regionen‘ ist dieser Zug schon abgefahren – in Katalonien will sich das dortige Bündnis in eine autonome Partei formieren (derzeit die stärkste auf regionaler Ebene), in Galicien lanciert das Bündnis En Marea eine neue Partei, und auch in Andalusien – Hochburg der Anticaps – befindet sich En Marea Andaluza in Gründung. Die Partner von Podemos – nicht nur in den autonomen Regionen (mit starken nationalen Minderheiten), sondern auch auf zentraler Ebene – waren von den internen Auseinandersetzungen in der Partei vor Vistalegre 2 eher irritiert. Sie warten darauf, dass auch auf nationaler Ebene entsprechende Prozesse für eine weitere Verständigung und Zusammenschlüsse in Angriff genommen und nicht durch die innerparteilichen Kontroversen von Podemos blockiert werden. Eine komplizierte Gemengelage für die junge Partei …

Podemos‘ Exekutive

Nach intensiven Verhandlungen des neu gewählten Generalsekretärs Pablo Iglesias mit den Minderheitsströmungen innerhalb von Podemos ergab sich am 18.2.2017 für die Besetzung der operativen Leitung der Partei folgendes Bild:
• Íñigo Errejón bleibt nicht mehr länger ‚Super-Polit-Sekretär‘ der Partei, also die ‚Nummer Zwei‘ nach Iglesias. Diese Funktion wird abgeschafft. Er wird Chef der Abteilung ‚Politische Analyse und Strategien für den Wandel‘ von Podemos und soll als Spitzenkandidat bei der Wahl in der Großregion Madrid gegen die amtierende Regierungspräsidentin Cristina Cifuentes (PP) in 2019 antreten.
• Errejón ist auch nicht länger Koordinator der Fraktion ‚Unidos Podemos‘ im spanischen Parlament; diese Funktion geht an Irene Montero vom Iglesias-Flügel.
• SprecherInnen der Partei werden der bisherige und künftige Organisationssekretär Pablo Echenique sowie Noelia Vera, bislang für Bündnispolitik zuständig.
• in der Podemos-Exekutive sind Mitglieder der Errejón-Strömung (z.B. Pablo Bustinduy und Auxiliadora Honorato) sowie der Anticapitalistas (Miguel Urban) vertreten.
• Iglesias stellt ein ‚Schattenkabinett‚ für die künftige angestrebte ‚UP-geführte Regierung‘ auf, die ein Regierungsprogramm für die nächste Wahl in 2020 erarbeiten soll; innerparteiliche Minderheiten sind darin vertreten (z.B. Errejón, Urban, etc.).

Also jetzt alles in Butter bei Podemos – ‚klare Verhältnisse‘, ‚Pluralität‘ gewahrt und innerparteilicher Ausgleich gesichert? Jetzt alle nach vorne blicken, ‚gemeinsam in die Hände gespuckt und ran‘ an den ‚Hauptgegner PP‘? Wird Iglesias Strategie funktionieren? Dafür sind zumindest viele Hürden zu überwinden.

Fragile politische Verhältnisse in Spanien

Die im Dezember 2016 durch Ciudadanos und durch Enthaltung der PSOE-Fraktion ermöglichte Minderheitsregierung der Konservativen hat bislang von harten Ausgabekürzungen (wie in 2011/12) abgesehen. Um die von der EU-Kommission vorgeschriebenen Ziele zur Reduzierung des Haushaltsdefizits zu erreichen, hat sie in einem Deal mit der PSOE Steuerschlupflöcher und Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen gestrichen sowie Mehrwertsteuern auf Alkohol, Tabak und zuckerhaltige Getränke erhöht. Den Rest für die Haushaltskonsolidierung werde das anhaltende Wirtschaftswachstum besorgen. Rajoy hat sogar den Beschluss des spanischen Parlaments zur Erhöhung des Mindestlohns übernommen – Podemos stimmte übrigens auch dafür. Weitere sozialpolitische Verbesserungen stellt Rajoy in Aussicht, falls die spanische Wirtschaft deutlich wächst.

Die konservative Minderheitsregierung fährt damit einen ähnlichen Kurs wie die Große Koalition in Deutschland unter Merkel. Das Kalkül der PSOE lautet: ohne uns kann Spanien nicht regiert werden, Rajoy muss soziale Zugeständnisse machen. Dass ein neuer Aufstand der Indignados (der Empörten) sich entwickeln könnte, wollen PP und PSOE so verhindern. Unter diesen Bedingungen ‚Gegenmachtpositionen‘ auf der Straße, in den Betrieben usw. aufzubauen, wie Podemos es vorschwebt, dürfte nicht so einfach werden.

Noch ist die de-facto Große Koalition (formell eine von den ‚Oppositionsparteien‘ Ciudadanos und PSOE von Fall zu Fall tolerierte Minderheitsregierung der PP) nicht konsolidiert. In der PSOE tobt der innerparteiliche Kampf um die künftige Führung und Ausrichtung der Partei. Im Mai 2017 laufen Urwahlen zur Position des Generalsekretärs, im Juni findet der Parteitag statt. Hierzu tritt auch der ehemalige PSOE-Generalsekretär Pedro Sanchez wieder an, den die Parteigranden in einem Putsch aus dem Amt entfernt hatten. Er wirbt mit seinem Credo: „Nein zur Regierung Rajoy“. Dies tut auch der zweite Kandidat Patxi López von den baskischen Sozialisten. Er hatte sich allerdings bei der Abstimmung über Rajoy enthalten und hat somit ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die hauptsächliche Gegenkandidatin zu Sanchez ist Susana Diaz, die Ministerpräsidentin von Andalusien. Sie zog gemeinsam mit dem ehemaligen PSOE-Ministerpräsidenten Felipe Gonzàlez die Strippen beim Sturz von Sanchez.

Die Regionalfürsten der PSOE (‚barones‘) und der Parteiapparat befürchten nun eine ‚populistische Welle‚ unter den Parteimitgliedern – wie in Großbritannien, wo Linksaußen Jeremy Corbyn sich gegen Putschversuche der Anhänger von Tony Blair an der Spitze von Labour behauptete, oder wie in Frankreich, wo Benoit Hammon vom linken Flügel der PS die Vorwahlen für die Präsidentschaftskandidatur der Sozialisten gewann. Sollte Sanchez von der Basis erneut zum Generalsekretär gewählt werden, zögen neue Probleme für die konservative Minderheitsregierung herauf.

Die PSOE als Teil des ‚historischen transformatorischen Blocks‘?

Pablo Iglesias hofft vor diesem Hintergrund, die PSOE für den angestrebten ‚transformatorischen Block‘ zu gewinnen. Das Wahlbündnis Unidos Podemos (UP) propagierte als Alternative zu Rajoy eine Koalitionsregierung von PSOE, UP und den baskischen und katalanischen Nationalisten (baskische PNV; sozial-liberale ERC und wirtschaftsliberale CDC aus Katalonien, welche die Lostrennung Kataloniens vom spanischen Staat im November 2017 anstreben). Ein solches ‚rosa-rot-sozialliberales‘ Bündnis hätte im derzeitigen spanischen Parlament eine absolute Mehrheit der Mandate. ERC und CDC sind zu einer solchen Allianz bereit, sofern ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens zugelassen würde. Dies lehnte die PSOE stets ab. Ob Sanchez die Partei für eine ‚föderalistische Staatsreform‘ gewinnen könnte, die das Selbstbestimmungsrecht der kleineren Nationen im spanischen Staat (Galicier, Basken, Katalanen usw.) absichert, sei einmal dahin gestellt. Im Juni 2017 werden wir mehr wissen …

Sollte sich Susana Diaz als Generalsekretärin der PSOE durchsetzen, dürfte die de-facto Große Koalition erstmal Luft schöpfen. Die ‚Alternative zu Rajoy‘ (PSOE, UP, etc.) dürfte die bekannten Probleme der Mitte-Links-Bündnisse der letzten Jahrzehnte mit sich bringen, dass selbst milde sozialdemokratische Forderungen wie die von Podemos kaum umgesetzt würden. Leicht würde es für die junge Partei so oder so nicht …

 

[1] Es gibt auch noch eine vierte Strömung – Podemos en Equipo. Sie erreichte bei allen Abstimmungen in Vistalegre 2 (politische Dokumente, Wahlen zur nationalen Leitung usw.) nur 1 – 2 % für ihre Positionen.

[2] Bei der Gründungskonferenz von Podemos in 2014 setzte Errejón gemeinsam mit Iglesias das ‚zentralistische Generalsekretärsmodell‘ durch. Ihr gemeinsames Ziel damals war, die Anticapitalistas aus der Leitung von Podemos heraus zu halten, was ihnen gelang. Repräsentation von innerparteilichen Minderheiten in den Gremien – egal ob ‚Rechts- oder Linksabweichler‘ aus der jeweiligen Sicht des ‚Zentrums‘ – dafür hatte das Vistalegre 1-Modell keinen Platz. ‚Demokratie‘ entdecken einige wohl nur für sich, wenn sie aus einer ‚dissidenten‘ Position zum innerparteilichen ‚Machtzentrum‘ heraus für ihre Vorschläge werben müssen … Siehe auch: https://www.jacobinmag.com/2017/02/spain-pablo-iglesias-errejon-podemos-anticapitalistas-vistalegre-ciudadanos/

[3] Podemos ist nicht Mitgliedspartei der EL; Izquierda Unida aus Spanien ist dies hingegen seit deren Gründung. Politisch hat das alte Führungsduo von Podemos um Iglesias und Errejón stets die Nähe ihrer Formation zu Konzepten der EL betont. Kritisch zur EL und alledem siehe meinen Beitrag in Z Nr. 97 vom März 2014.

[4] Um nicht missverstanden zu werden: ich bin kein Anhänger der Populismus-Strategie von Laclau und Mouffe. Ich finde es aber sinnvoll, Argumentationen (egal ob ich sie teile oder nicht), auf ihre ‚inhärente‘ Schlüssigkeit hin zu überprüfen. Sind diese logisch konsistent mit der Linie, wie sie von den entsprechenden AkteurInnen selber vorgetragen wurde?

ALEXANDER VAN DER BELLEN – DIE DRITTE REPUBLIK UND IHRE MACHTGELÜSTE. Schuschnigg in Berchtesgaden und der Bundespräsident in Brüssel / Strassburg

„Kleinstaaterei … Verzwergung … die Macht unserer großen europäischen Gemeinschaft“ … usw. (Wiener Zeitung, 15. Feber 2017). Es ist nicht Schuschnigg, der hier vor Hitler in Berchtesgaden auf den Knien liegt. Das erkennt man daran, dass die Macht Europas, nicht des Deutschen Reichs, angerufen wird. Es ist Alexander van der Bellen, welcher am 14. Feber 2017 seinen Kotau vor Brüssel und dem sogenannten Europaparlament macht. Die Unterwer­fungsgeste kam natürlich bestens an. Die Janitscharen der EU tobten vor Begeisterung: „Tosender Applaus … Niemand verstand es, aber alle klatschten“ (Kurier, 15. 2. 2017).

Es war Felix Kreissler, erzwungener Emigrant aus Österreich mit jüdischem Hintergrund, der in einem umfangreichen Werk (1980) darauf hinwies: Bevor die Erste Republik von den Nazis mit dem Einmarsch der deutschen Truppen einkassiert wurde, ging sie mental an ihren Intellektuellen und ihrer politischen Klasse zugrunde. Er, selbst Historiker, hat oft genug und im Detail gezeigt, wie das akademische Establishment – er nennt immer wieder Srbik, Groß­professor und Präsident der Akademie unter den Nazis – damals die hegemoniale Ideologie bestimmt hat. Ein doch erheblicher Teil der Bevölkerung ging dabei mit, nicht zuletzt, weil die Menschen die Austrofaschisten hassten.

„Zu groß für Österreich“ (Reimann 1968) dünkten sich einige der Sozial- und Christdemokra­ten damals. Nur nebenbei: Dieser Buchtitel eines deutschnationalen Journalisten hallt noch in jenem läppischen Brief seines Gesinnungsgenossen Gorbach aus Vorarlberg 2007 nach, wo der den britischen Schatzkanzler um eine Sinekure anging: Austria „is too small a country…“. Und in diese Umgebung und diese Mentalität gehört der neue Bundespräsident denn auch.

Das Österreich der Ersten Republik ging auch und nicht zuletzt an der Weigerung seiner politischen Klasse zugrunde, die neue Existenz als Kleinstaat als eine historische Chance zu sehen. Sie waren im archaischen Habsburgerstaat aufgewachsen und hingen dem Wahn der Großmacht nach. Diese Großmacht sahen sie nun im Deutschen Reich. Dementsprechend lief auch die sonstige Politik der Möchtegern-Staatsmänner zwischen Größenwahn und Unterwerfung – erst unter Mussolini, dann unter Hitler.

Die Zweite Republik verstand hingegen ihre Existenz ganz anders und erreichte damit einen Riesenerfolg für die Bevölkerung. Nicht dass dies von vorneherein für alle selbstverständlich war. Insbesondere die Sozialdemokraten taten sich schwer. Fritz Adler wollte aus dem Lon­doner Exil von seiner großdeutschen Gruppe gar nicht zurück kehren in dieses so verabscheu­te Österreich. Karl Czernetz tat dies sehr wohl und wurde NR-Abgeordneter und, in der Diktion der konservativen Journaille, „Chef-Ideologe der SPÖ“. Über die deutsche Nation hielt er in Hinkunft den Mund. Dafür sprach er mit Vorliebe über Europa. Bei keinem anderen als diesem langjährigen hohen SP-Funktionär ist dies so durchsichtig: Deutschland durfte er nicht mehr sagen – also sagte er „Europa“.

Die Konservativen taten sich da leichter, weil sie eher auf kleine, regionale Einheiten orien­tiert waren. Dort waren sie noch die Herren. Raab – „mich werdet ihr nicht zum Demokraten machen“, sagte der Wirtschaftskammer-Präsident und Bundeskanzler – spöttelte sogar darüber. Gefragt, warum die Sowjets Österreich entgegenkamen, meinte er: „Weil wir ein so furchtbares Land sind…“ Heute allerdings sind die Kräfte in der Tradition dieser Konservati­ven die unbedingtesten EU-Enthusiasten. Das gilt auch für jene, die einmal historisch positiv über Österreich reflektiert haben (etwa: Bruckmüller 1984 und 1998).

Heinz Fischer hatte den Vertrag von Lissabon mitzuverantworten. Er hat eine Volksabstim­mung verhindert. Damit trägt er hohe Verantwortung für den heutigen Verfall Österreichs. Aber Heinz Fischer hat nie die Aufrüstung der EU befürwortet. Er hat Österreich nie in diesem Ausmaß verkauft. Der österreichische Bundespräsident hat zwar keine Machtstellung. Trotzdem ist diese bedingungslose Unterwerfung unter das deutsch-brüsseler Diktat von symbolischer Kraft. Van der Bellen betont nicht zufällig immer wieder seine Freundschaft mit Franz-Josef Fischer. Der steht für den ersten Angriffskrieg der Berliner Republik, zusammen mit Schröder. Das also ist die Perspektive der Dritten Republik. Der grün-rosa Bundespräsi­dent kehrt in die Erste Republik zurück. Er nimmt den Diskurs der Nostalgiker des Ancien Regime wieder auf.

Aber hat denn nicht eine Mehrheit der Österreicher diese Figur gewählt? Ja, hat sie. Die hegemonialen Kräfte und die politische Klasse an den Futtertrögen haben sich akut bedroht gefühlt. Es ist fast lachhaft, wenn man den Gegenkandidaten und sein Format betrachtet. Aber selbst dieser stellte eine Gefahr dar, weil ihn die unteren Klassen mit großer Mehrheit wähl­ten. In ihrem knappen Triumph übersehen sie nur jetzt, dass sie zwar die Wahl gewonnen haben, die Hälfte der Bevölkerung aber doch gegen den Grünen gestimmt hat. Einen solchen Erfolg hat die FPÖ allein gegen alle noch nie erzielt. Wenn die Elite halbwegs nüchtern wäre, müssten alle Alarmglocken bei ihnen schrillen…

Doch bleiben wir ein wenig noch bei der Dritten, der Zweiten und der Ersten Republik.

Seit Jahrzehnten gibt es immer wieder Untersuchungen zum Thema „democratic peace“ (Ward / Gleditsch 1998). Die These ist: Demokratien führen keine Kriege. Wenn also die Welt möglichst demokratisiert würde, käme Frieden. Unglücklicher Weise stützen die Ergebnisse dieser aufwendigen Untersuchungen mit hohem statistischen Einsatz die These nicht wirklich. Es kommt darauf an, was man als Demokratie versteht. Man bräuchte dazu eigentlich gar keine hochgestochenen statistischen Untersuchungen. Es genügt völlig, dass man nachzählt: An wie vielen Kriegen, Aggressionen und sonstigen bewaffneten Konflikten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA beteiligt? Der Anteil ist äußerst hoch. Und die Politikwissenschafter, welche diese Untersuchungen durchführen, werden die USA wohl ohne Zweifel zu den „Demokratien“ rechnen.

Es kommt also nicht auf das Regime an, jedenfalls nicht, solange unter Demokratie nicht etwas Substanzielleres verstanden wird als der geläufige westliche Parlamentarismus. Auf was kommt es aber dann an?

Da hatte Karl W. Deutsch, Nationentheoretiker in der Mitte des 20. Jahrhunderts und Politik­wissenschafter, eine ingeniöse Idee. Sie wird seither von den mainstream-Politikwissenschaf­tern, den Großmacht-Apologeten, noch und noch wiederholt, obwohl nichts sie stützt und sie in Wahrheit auch nicht ehrenhaft war. Es gibt umso eher Frieden, sagen sie, je weniger Staaten es gibt. Das Beste wäre ein (despotischer?) Weltstaat. Denn mit jedem zusätzlichen kleinen Staat gibt es mehr Konflikte. Wer allerdings diese Konflikte auslöst, sagen sie nicht dazu.

Das Machtgefälle und die Machtkonzentration macht defnitorisch den Großstaat aus. Das aber ist die eigentliche Quelle von Konflikt aus der Aggressivität der Großstaaten heraus. Jeder Großstaat ist unter augenblicklichen Verhältnissen eine Gefahr für den Frieden. Man müsste die bestehenden Großstaaten zerlegen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten. Kant hat dies vor mehr als zwei Jahrhunderten schon ganz gut begriffen. Seiner Auffassung nach wäre ein System von gleichrangigen Staaten die beste Voraussetzung für „ewigen Frieden“. Als ich das nicht nur einmal auf einer Konferenz ausgerechnet eines Kleinstaats vertrat, der gerade der NATO beitrat, habe ich mich bei den offiziösen Gastgebern akut unbeliebt gemacht (Reiterer 2000). Man sieht, auch in anderen Kleinstaaten haben Politiker mit der Kleinstaaten-Existenz Schwierigkeiten: Sie fühlen sich nicht ernst genug genommen…

Eine Reihe der archaischen Großstaaten sind bereits vor einem Jahrhundert zerfallen: das Osmanische, das Zaren-, das Habsburgerreich, nicht ohne vorher Millionen von Toten zu verursachen. Bei den USA, China, Indien, ist es derzeit ziemlich schwierig, sich das vorzu­stellen. Die EU hingegen kann noch ohne Schaden, ja mit ganz erheblichem Gewinn ausein­ander genommen werden, bevor sie noch mehr Schaden anrichtet, zum ökonomischen Desaster auch noch mehr Kriege jenseits der Ukraine etc. anfängt. Dringlich vonnöten wäre dies, wie es sich in den letzten Jahren gezeigt hat. Denn da war das Kriegs- und Militarisie­rungs-Projekt EU besonders in Fahrt. Die Berliner Republik hat ihre neuen Ansprüche nicht zuletzt auch über die EU nach außen getragen.

Für dieses Aufrüstungs- und Militarisierungs-Projekt steht Alexander van der Bellen. Die Eliten und ihre Lohnschreiber lieben ihn daher. Man lese nur den „Kurier“-Leitartikel vom Sonntag, 19. Feber 2017.

Wir von der Linken müssen uns drauf einstellen: Wir müssen diesen Gegner bekämpfen, bevor er mehr Schaden anrichtet – ebenso wie wir seinen Gegenkandidaten zu bekämpfen gehabt hätten, wäre der Sieger gewesen. A. van der Bellen ist aber gefährlicher, weil er die Unterstützung nicht nur der nationalen politischen Klasse hat, sondern auch den übernatio­nalen Staat hinter sich weiß. Der Bundespräsident hat heute eine einzige reale politische Funktion: Er soll die jeweilige Regierung legitimieren und mit ihr dieses verrottete System. Das allein reicht schon aus, dass wir die Funktion bekämpfen. Beim Grünen kommt aber noch was dazu: Er will Österreich zerstören, diesen „Zwerg“, der ihm so zuwider ist. Doch dieses Österreich hat in der Zweiten Republik immerhin ein Projekt dargestellt, welches auch für die mittleren und unteren Schichten ein halbwegs menschenwürdiges Leben ermöglichen sollte.

Wir müssen uns also auf einen jahrelangen Kampf gegen dieses Amt und gegen diese Person, gegen dieses Symbol, diese Verkörperung der Eliten einstellen, gegen Alexander van der Bellen. Den aber müssen wir unbedingt sofort beginnen. Leicht wird es nicht, weil die Menschen andere Sorgen haben, die ihnen näher liegen. Aber der Fisch beginnt vom Kopf zu stinken, also muss dieser Kopf weg.

Albert F. Reiterer

Literatur

Ernst Bruckmüller (1984), Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung. Wien / Köln / Graz: Böhlau.

Ernst Bruckmüller (1998), Die Entwicklung des Österreichbewusstseins. In: Kriechbaumer, Robert, Hg., Österreichische Nationalgeschichte nach 1945. Die Spiegel der Erinnerung: Die Sicht von innen, Band 1. Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 369 – 396.

Deutsch, Karl W. (1968), The Analysis of International Relations. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall-

Félix Kreissler (1980), La Prise de conscience de la nation autrichienne. 1938 1945 1978. 2 vol. Paris: PUF.

Kant, Immanuel (1795), Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg: Friedrich Nicolovius (Reprint Stuttgart: Engelhorn, 1987).

Reimann, Viktor (1968), Zu groß für Österreich Seipel und Bauer im Kampf um die Erste Republik. Wien u. a.: Molden.

Reiterer; Albert F. (2000), Human Rights and Great Power Politics: A Social Scientist’s View. In: Javnost – The Public 7: 1, 15 – 23.

Ward, Michael D. / Gleditsch, Kristian S. (1998), Democratizing for Peace. In: Am. Pol. Sc. Rev. 92, 51 – 61.

 

  1. Feber 2017

EU-DEBATTE UND NEOLIBERALE POLITIK IN ÖSTERREICH: EIN ZUSTANDSBERICHT

Österreich steht strukturell in einer fast seltsamen Position im Rahmen des Weltsystems und der EU: Das Land ist eindeutig Bestandteil des hoch entwickelten Kerns, ja hat – als Indikator – einen der höchsten Werte des BIP pro Kopf. Gleichzeitig ist es aber durch seine subalterne Beziehung zur BRD politisch und in gewissem Sinn auch wirtschaftlich ein System mit peripheren Zügen. Die schleichende politische Krise des Landes, die sich nicht zuletzt auch in den diversen Krisen der gegenwärtigen Regierung abbildet, ist auch auf diese Zwitterstellung zurück zu führen. Und die Alternativen?

Ein Blick auf die sichtbaren politischen Kräfte ist unerlässlich.

Der Rechtspopulismus ist in Österreich hauptsächlich in der FPÖ organisiert. Alle anderen Ansätze waren und sind ephemer. Im Gegensatz zum Rest Westeuropas ist aber diese Partei nicht anti-EU, oder jedenfalls nicht grundsätzlich. Der vergangene Wahlkampf Hofer vs.Van der Bellen war gekennzeichnet durch das Bemühen des FP-Bannerträgers, diese Punzierung abzuwehren. Parteiobmann Strache zieht gegenwärtig durch die Lande und versichert allen, die es hören wollen, und auch allen anderen: Wir sind nicht gegen die EU. Wir wollen ganz sicher drinnen bleiben. Aber es war kein Zufall, dass die FPÖ diese Punze bekam. Denn Strache versucht, auf gut Schweizerisch, eine Politik des Fünfers und des Wegglis: Ein ganz erheblicher Teil der Bevölkerung steht der EU höchst kritisch gegenüber. Insbesondere die Unterschichten, auf die er seine Hoffnung setzt, lehnt sie ab. Denen will er also signalisieren: Wir sind auch EU-kritisch. Gleichzeitig will er sich als „Staatsmann“ gerieren, der „verant­wortungsvoll“ für die Globalisierung arbeitet. Kurzfristig kann dies durchaus gelingen, denn eine Mehrheit der Bevölkerung will diese Regierung nicht mehr. Längerfristig ist es, wie die Politik der FPÖ insgesamt, zum Scheitern verurteilt. Man muss sie nur scheitern lassen.

Die SPÖ ist seit ihrer Wende zum neoliberalen mainstream Ende der 1980er EU-Partei. Als Vranitzky und Genossen die Partei umdrehten, verließen sie die letzten prominenten linken Gestalten. Vor allem aber setzte, erst langsam, dann rapide, der Verfall der Partei ein. Die Arbeiter, früher Kernwähler-Schicht, sind heute weitgehend weg. Die Jüngeren unter ihnen wählen fast alle die FPÖ. Die SPÖ ist halb so groß wie zu Kreiskys Zeit. Aber von den Verbliebenen steht noch immer ein gar nicht so geringer Teil in permanenter Opposition zur Partei-Führung. Das sind Menschen, an die wir uns zu wenden hätten. Denn die beginnen sich in letzter Zeit auch wieder zu rühren. Das Anti-CETA-Volksbegehren wurde von SP-Bürger­meistern und -Funktionären initiiert. Das Hauptproblem ist: In dieser Partei haben die „Kulturlinken“ die Hegemonie. Dazu später.

Die ÖVP ist seit Jahrzehnten die eigentliche neoliberale Partei ohne wenn und aber. Damit ist ihr die Mitgliedschaft zu Euro und EU ins genetische Programm geschrieben. Es gibt dort einfach niemanden, den wir als Gesprächspartner hätten.

Dasselbe gilt für die Grünen. Sie sind inzwischen die Janitscharen der EU. Die bedingungs­lose Unterwerfung unter die supranationale Politik wird vielleicht nur noch von den NEOS überboten. Beide Parteien wachsen aus demselben Sumpf der Mittleren und Oberen Mittel­schichten. Sie haben auch, empirisch nachweisbar dasselbe Elektorat. Fällt die Zustimmung der einen, so steigt die der anderen, und umgekehrt. Die Bobos der Grünen legen ein bisschen mehr Wert auf Ökologisches, die Jeunesse dorée der Neos wollen ein bisschen mehr Deregu­lierung. Denn die Grünen sind eine autoritäre Partei. „Die Natur kennt keine Demokratie“ schleuderte mir eine Aktivistin entgegen, als ich einmal meinte, man müsse Umweltpolitik doch demokratisch diskutieren. Direkt aus dem Völkischen Beobachter…

Die Zivilgesellschaft aber weist das in ganz Westeuropa schon gewohnte Bild auf. Es geht ein tiefer Riss quer durch die Gesellschaft. Ein wesentlicher Teil, eher die Mehrheit, fühlt sich nicht mehr repräsentiert, obwohl sie die bisherigen Parteien noch wählt. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick auf die EU. Aber die Stimmung ist resignativ: Die Eliten machen, was sie wollen. Wir können nichts mehr ausrichten. Folge dieser Haltung ist eine allgemeine Entpolitisierung der ohnehin wenig an Politik interessierten Menschen.

Die Medien sind eine Sache für sich. Im ORF hat die „Kulturlinke“ das Sagen. Der Ausdruck ist problematisch. Denn links ist daran eigentlich nichts mehr an ihnen. Sie treten für liberal-individualistische Anliegen ein. Sozio-ökonomisch stehen sie rechts. Homosexualität ist alle­mal wichtiger als Umverteilung – von letzterer würden sie verlieren. Von Immigration können sie potenziell gewinnen, und überdies ist Globalismus sowieso der Wert schlechthin, Identität. Es ist im Grund der alte Deutschnationalismus, der bei den österreichischen Intellektuellen bis 1945 so völlig herrschte. Nur ruft er jetzt „Europa“.

Für Menschen, welche der EU kritisch gegenüber stehen, ist da kein Platz. In der BRD bietet die Existenz der LINKEN noch einen gewissen Schutzschild. Deren linker Flügel ermöglicht die Artikulierung von Manchem, was ist Österreich zur völligen Marginalisierung führt. Kennzeichnend ist auch, dass attac in Österreich wirklich ein Teil der herrschenden Kräfte ist und dazu dient, eventuelle kritische Hirne in die allgemeine Hegemonie zu integrieren. Sie verwechseln systematisch, und ich glaube mit Absicht, Internationalismus mit Globalismus. Eine Aufregung tritt vielleicht einmal auf, wenn das Monopol der akademischen Position in Frage gestellt wird – kennzeichnend der Sturm im Wasserglas über Felbers „Gemeinwohl-Ökonomie“ in einem Schulbuch.

Ist also für uns der Kampf um eine andere Gesellschaft von vorneherein schon verloren?

Als wir vor mehr als zwei Jahren EUROEXIT gründeten, waren wir noch völlig isoliert. Mittlerweile bewegt sich etwas. Zugegeben: Die Arbeit ist mühsam. Auch können wir uns die Gesprächspartner nicht aussuchen. Wir finden sie oft mehr in der Tradition der alten Konser­vativen, und das intellektuelle Niveau ist nicht immer attraktiv. Nichtsdestoweniger: Berüh­rungsängste können wir uns gar nicht leisten. Wir müssen also den Dialog auch mit Rechts suchen, wenn diese Rechte wenigstens aufrichtig ist. Denn leider können wir dies bei den Menschen in der Tradition der alten reformistischen Linken nicht immer feststellen.

Was aber den rechten Populismus betrifft, so gäbe es eine ganze Menge zu sagen. Solange er Populismus ist, versucht er immerhin, auf die Anliegen der Menschen hinzuhören. Überdies: Die Parteien und Organisationen der traditionellen alten Linken, aus der in Österreich vor allem die SPÖ kommt, haben von sich aus auf die Vertretung der Menschen aus den Unter­schichten verzichtet. Wohin sollen sich also diese wenden, wenn sie nicht völlig apathisch sind? Wenn heute ein erheblicher Teil der Unterschichten nach rechts schaut, dann ist ausschließlich der alte Reformismus dafür verantwortlich, der diese Menschen nicht mehr vertritt, auch nicht in kleinen Alltags-Interessen.

Die KPÖ geht auf Bundesebene eben den Weg, den die SPÖ bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert ging. Die einzige erfolgreiche Landesorganisation allerdings hat sich links positioniert, die steirische KP. Ihr ist es noch nicht wirklich gelungen, als politische Kraft und nicht als linke Caritas wahrgenommen zu werden. Überdies lässt die Bewältigung der alten Ausrichtung auf die Sowjetunion als Modell durchaus zu wünschen übrig.

Der Verrat der Intellektuellen war ein Stichwort aus der Zwischenkriegszeit. Doch wann gab es je einen größeren Verrat der Intellektuellen als im Kampf gegen die Globalisierung und deren Hauptorganisation, die EU? Aber war er das wirklich? Die Mehrheit der Intellektuellen hat sich stets an die eigene Identität geklammert und die eigenen Interessen verfolgt. Es war immer eine Minderheit, und zwar eine kleine Minderheit, welche die Partei der Subalternen ergriffen hat. Aber diese Minderheit ist ganz und gar unverzichtbar. Wir als eine kleine Gruppe der konsequenten Linken haben diese Rolle gewählt. Unsere Funktion ist nun auch, andere aus unserer Umgebung anzusprechen, um das kritische Potenzial zu vergrößern. Es ist mühsam. Aber gegenwärtig haben wir mehr Chancen als seit Jahrzehnten.

Albert F. Reiterer, 31. Jänner, 2017

„Auch bestehende österreichische Freihandelsabkommen zuungunsten Osteuropas kritisieren“

Bericht über die Diskussion Demokratie vs. Freihandel in Wien am 17.1.2017

von Wilhelm Langthaler

Anlass der öffentlichen Diskussion war das von 23.-30.1. stattfindende Volksbegehren gegen CETA/TTIP/TISA. Am Podium befanden sich der Initiator Herbert Thumser, SP-Landtagsabgeordneter für Niederösterreich; Marcus Strohmeier, internationaler Sekretär des ÖGB; Iris Friedrich, Sympathisanten von G!ILT („Düringer-Initiative“); Harald Troch, SP-Nationalrat; sowie Gernot Bodner, Assistenzprofessor an der Boku und Vertreter des Personenkomitees Euroexit.

Das Video zur Veranstaltung ist hier anzusehen:

 

Herbert Thumser fasste die Motive für das Volksbegehren zusammen: Die Verhandlungen und Vertragsabschlüsse würden fern von der Öffentlichkeit und ohne Mitbestimmungsmöglichkeit durchgeführt. Es gehe dabei darum, die Interessen der multinationalen Großkonzerne mittels Deregulierung und Privatisierung durchzusetzen und zwar auf Kosten der einfachen Menschen. Gegen die Blockade der Medien und der Machtinteressen solle mit dem Volksbegehren nun ein starkes politisches Signal gesetzt werden. Danach will Thumser den Kampf fortsetzen, auch auf lokaler Ebene beispielsweise mit Initiativen der Gemeinwohlökonomie.

 

CETA, TTIP und Co seien nichts Neues, sondern nur ein weiterer Versuch gescheiterter Verträge wie beispielsweise MAI, sagte Marcus Strohmeier. Es gehe um die Verteidigung des österreichischen Sozialstaates und der staatlichen Leistungen wie des Bildungssystems oder auch der Wasserversorgung. Auch als kleines Land könne man eine wichtige Rolle bei der Abwehr solcher Verträge spielen. Die deutsche Sozialdemokratie vertrete in dieser Frage die Interessen ihrer Exportindustrie, von dort sei also keine Unterstützung zu erwarten.

 

Iris Friedrich, die sich bei G!ILT engagiert, wies auf die Entmündigung der Bevölkerung hin. Bundeskanzler Kern habe seine Kehrtwende zu CETA damit erklärt, dass Österreich sonst keine Zugeständnisse von der EU erhalten würde. Doch er habe niemanden wissen lassen, worin es in dieser Brüsseler Erpressung ginge. Die Intention des Volksbegehrens sei richtig, aber es würde abprallen, wie viele solcher Initiativen zuvor. Man müsse tiefer schürfen und den Ausgeschlossenen und Stimmlosen ihre Stimme zurückgehen.

 

Harald Troch, Vorsitzender der SP Simmering, kritisierte den „naiven Freihandelsoptimismus“. Er sei mit dem CETA-Schwenk der Partei nicht glücklich, doch dürfe man im Gegenzug mit Zugeständnissen bei der Frage der Schiedsgerichte rechnen – was von Thumser in einem Zwischenruf bezweifelt wurde. Jedenfalls habe man es nach Jahrzehnten bei vielen öffentlichen Vergaben geschafft vom Billigst- zum Bestbieterprinzip zu kommen. Mit Klauseln für lokale Wertschöpfung und aktiver Wirtschaftspolitik müsse man gegensteuern.

Zur Debatte über die EU lies Troch dann aufhorchen: Nicht nur, dass die Darstellung der EU als Antithese zum Krieg nicht stimme – er wies explizit auf die Kriege am Balkan hin. Sondern Deutschland dominierte Europa heute wirtschaftlich in eine Weise, wie es selbst 1939 nicht gelungen sei.

Abschließend wies das Mitglied des Bundesparteivorstands auf die verbreitete Doppelmoral hin, Freihandel dann zu kritisieren, wenn daraus Nachteile für Österreich erwachsen könnten, aber zu schweigen, wenn Österreich Handelspartnern vor allem in Osteuropa zum Schutz seiner Investitionen Schiedsgerichte aufzwinge, die deren nationale Gesetzgebung aushebeln.

 

Gernot Bodner von Euroexit wies darauf hin, dass Globalisierung und Freihandelsregime darauf abzielten, die soziale Konterreform der Eliten als Sachzwang des Marktes darzustellen. Doch diese seien nicht nur bewusste politische Entscheidungen, sondern man könne ihnen auch Widerstand entgegensetzen – was von vielen der Diskutanten zustimmend unterstrichen wurde. Brexit & Co, das was gegenwärtig als Populismus bekämpft würde, sei eine Form der sozialen Opposition, auch wenn manchmal in reaktionärer Überformung. Wer von CETA und TTIP spräche, dürfe nicht von der EU schweigen, die die mächtigste Freihandelsorganisation im Dienste der Eliten sei. Die einfachen Menschen forderten die Rückkehr zur nationalen Souveränität, um einen Hebel gegen Austerität und Demokratieabbau zu haben – und sie hätten recht damit, auch wenn man das in ein umfassendes Programm der Solidarität mit den Schwächeren national und international einbauen müsse.

 

Der Moderator Boris Lechthaler von der Solidarwerkstatt schloss die Veranstaltung der Plattform „Demokratie statt Freihandel“ mit einem dringenden Aufruf das Volksbegehren zu unterstützen.

Wer mit dem Neoliberalismus Schluss machen will, muss auch über den Lexit sprechen

von Cristina Assensi, KoordinatorInnen des Lexit-Netzwerks, aktiv bei Democracia Real Ya und in der Kommission für ökonomische Souveränität bei Attac Spanien

Quelle: mosaik-blog.at

Der Sommer begann für die Linke mit einem Erdbeben: Das Brexit-Ergebnis wurde mit Fassungslosigkeit aufgenommen. Doch die Zustimmung für den EU-Austritt konnte nur jene überraschen, die sich davor der Realität verweigert hatten. Leider kennzeichnet genau diese Realitätsverweigerung die Einschätzung eines Großteils der Linken zur europäischen Integration. Grob skizziert lässt sich der Mainstream-Diskurs in der Linken wie folgt zusammenfassen:

  1. Märkte sind völlig globalisiert und Staaten völlig machtlos.
  2. Wir brauchen internationale Institutionen, um die Macht der Märkte zu zähmen.
  3. Die EU (oder die Eurozone) ist eine solche Institution.
  4. Daher ist die EU (und die Eurozone) gut.

Punkt 1 beruht auf einer Fehlinterpretation des sogenannten Rodrik’schen Trilemmas. Dies wurde von unzähligen Artikeln überzeugend widerlegt (etwa hier und hier). Leider folgte daraus keine spürbare Veränderung der Argumentationslinie des Mainstreams linker Organisationen. Im Glauben, die EU könnte tatsächlich eine Zähmung der Märkte (oder gar eine soziale Angleichung Europas) erreichen, haben viele Linke ausgeblendet, was tatsächlich mit der EU durchgesetzt wurde. Sie waren blind für den Charakter der real existierenden Europäischen Union. Denn diese ist ein zutiefst autoritäres Gebilde, mit neoliberaler Wirtschaftspolitik als Kern. Nur die emotionale Bindung an die Geschichte von der „guten EU“ und dem „guten Euro“ kann erklären, warum weite Teile der Linken die negativen Folgen der EU-Integration nicht erkannt haben – und warum sie jetzt so überrascht reagieren.

Fakten-Check: Freiheit der Märkte

Wirkt die EU tatsächlich als Schutzschild gegen die neoliberale Globalisierung? Und wenn die Antwort auf diese Frage „Nein“ lautet: Kann die EU reformiert werden, um diese Funktion einzunehmen?

Analysieren wir kurz die Fakten: Bereits im Vertrag von Rom 1957 lag der Schwerpunkt auf den sogenannten wirtschaftlichen Freiheiten, also Rechten und Freiheiten im Sinne des Funktionierens der Märkte. Mit der Zeit erhielt die Europäische Union immer weitere Kompetenzen, doch dieser konstituierende Kern wurde beibehalten und zur wichtigsten rechtlichen Grundlage erklärt. Die Rechte von Menschen als politischen AkteurInnen, das heißt als BürgerInnen, deren politische Teilhabe und informierte Zustimmung die Grundlage demokratischer Legitimität sein müsste (ein konstitutives Element der Verfassungen auf staatlicher Ebene), wurde durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Frage gestellt und geriet immer mehr in den Hintergrund.

Die rechtliche Festschreibung neoliberaler Prinzipien wurde mit dem Vertrag von Maastricht 1992 besiegelt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Systemalternativen zu Kapitalismus und Neoliberalismus eine historische Niederlage erfahren. Die neoliberalen Grundsätze wurden zum Kern der EU-Verträge, denen sich die nationalen Rechtssysteme unterordnen mussten. Gleichzeitig wurden die Verträge durch das Einstimmigkeitsprinzip immunisiert, um spätere Änderungen fast unmöglich zu machen. Für solche Änderungen bräuchte es die Zustimmung von allen mittlerweile 28 Mitgliedstaaten.

In anderen Worten: In EU und Eurozone wurde Wirtschaftspolitik völlig von politischer Teilhabe abgekoppelt. Es ist praktisch unmöglich, die zentralen Ziele der EU-Strukturen zu verändern, denen alle anderen Bereiche untergeordnet sind.

Ohne eigene Geldpolitik keine Alternative

Vor diesem Hintergrund sind die Strategien zur Demokratisierung der Europäischen Union und des Euro völlig abstrakt. Um zu bestimmen, ob eine Struktur demokratisiert werden kann, müssen wir zuerst ihren realen Zustand analysieren. Diese besteht aus den Verträgen, Verordnungen und Vereinbarungen des Binnenmarkts und der Eurozone – also der Achse, um die sich die Austeritätspolitik dreht.

Selbst jene Teile der Linken, die für eine Reform der EU eintreten, gestehen zumeist ein, dass diese Struktur nicht durch den normalen legislativen Prozess in der EU verändert werden kann. Dies könne jedoch, behauptet etwa der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, durch „vorsätzlichen Ungehorsam“ innerhalb von EU und Eurozone erreicht werden. Was dabei unbeantwortet bleibt: Wie soll ein Land gegen die politischen Vorgaben der EU handeln, wenn es keine eigene Geldpolitik machen kann und wenn seine Liquidität folglich von der Europäischen Zentralbank abhängt? Mit der Einführung des Euro wurden wirtschaftspolitische Entscheidungen an technokratische Institutionen übertragen. Innerhalb dieses Rahmens ist es nicht mehr möglich, eigene Liquidität zu schaffen oder die Währung anzupassen, um eine andere Wirtschaftspolitik zu ermöglichen.

Dies sind objektive Bedingungen, die nicht umgangen werden können. Die Erzählungen von der „guten EU“ bzw. vom „guten Euro“ klammern diese Fragen einfach aus. Sie haben daher auch keine Strategien, wie diese objektiven Bedingungen überwunden werden könnten. Stattdessen fordern sie, wie etwa Varoufakis‘ Bewegung DiEM25, die Gründung supranationaler Bewegungen, die dann die gleiche, in Griechenland gescheiterte Strategie des Widerstands innerhalb des Euro anwenden sollen. Doch nur die Ebene zu verschieben ändert nichts an den objektiven Bedingungen. Solange die EZB entscheiden kann, ob Geld in ein Land fließt oder nicht, kann Widerstand nicht aufrechterhalten, können die Verhältnisse nicht verändert werden.

Rechtsextremes Monopol auf EU-Kritik

Um DiEM25 nicht Unrecht zu tun: Sie sind nicht die einzigen, die unrealistische Vorschläge machen. Ein Großteil der Linken war in den letzten Jahren nicht in der Lage, eine glaubwürdige und umsetzbare Alternative zum Neoliberalismus zu entwickeln. So genießt die extreme Rechte zunehmend das Monopol auf Opposition und, noch wichtiger, das Monopol auf den Bruch mit einem System, das immer mehr Entscheidungsmacht an die Eliten überträgt.

Es geht also nicht darum, abstrakt zu entscheiden ob wir auf der lokalen oder auf einer gedachten supranationalen Ebene kämpfen sollen. Wir sollten immer dort kämpfen, wo die Chancen am größten sind, dass gesellschaftliche Mehrheiten sich politisch einbringen können. Es geht darum, demokratische Spielräume zurückzuerobern. Dafür müssen sich unsere Kämpfe gegen die neoliberale Integration richten, angefangen mit dem Regime des Euro.

Bedeutet das, dass ein linker Austritt aus dem Euro als Alternative zum Neoliberalismus ausreicht? Nein. Der Austritt ist nur eine notwendige Bedingung, um Entscheidungen im Sinne der gesellschaftlichen Mehrheiten überhaupt erst zu ermöglichen. Der Austritt ist somit die Bedingung für jeden Kampf gegen die herrschende Politik.

Die Zeit drängt

Diese Kämpfe können nicht warten, denn die bittere Wahrheit ist: Wenn wir die Ausstrahlungskraft der extremen Rechten brechen wollen, müssen wir schnellstmöglich die neoliberale Verarmungspolitik und die autoritäre neoliberale Globalisierung beenden und alternative Politik umsetzen.

Die fehlende Glaubwürdigkeit linker Politik lässt sich nicht durch Kampagnen herstellen, die weiterhin, wie manche vorschlagen, für eine soziale EU „im Jahr 2025“ eintreten, „auch wenn wir nicht daran glauben, dass die EU in ihrer jetzigen Form überleben kann, oder soll“. Vielmehr müssen wir die Realitätsverweigerung beenden und erkennen, dass die neoliberale EU unsere Loyalität nie verdient hatte. Wir müssen damit beginnen, die existierenden konkreten Alternativen zu diskutieren, wie dies international etwa auf den Plan B-Treffen oder im Lexit-Netzwerk getan wird.

Souveränität als Hebel der Abgehängten

EU-Krise: supranationale Forcierung zum Scheitern verurteilt

von Wilhelm Langthaler

aus: Unsere Zeit, Ausgabe vom 13. Januar 2017

Brexit, No-Renzi-Referendum, wacklige Minderheitsregierung in Spanien, Griechenland-Diktat, EU-Streit über Flüchtlinge, mehrheitliche Ablehnung von CETA und TTIP – selbst die deutschen Medien und Politiker können den offensichtlichen Hegemonieverlust der EU nicht mehr leugnen. Dieser drückt von unten immer mehr auf die Staatsapparate vor allem der peripheren Mitgliedsländer und gefährdet so die Funktionsfähigkeit der supranationalen Institutionen selbst. Von den Eliten wird die zunehmende Ablehnung der EU unter dem Kampfbegriff „Gefahr des Populismus“ gefasst, meist als rechts, im Anklang an das alte Totalitarismus-Ideologem nachmals auch als links.

Der Chefkolumnist der Financial Times, Martin Wolf, hat zum Neuen Jahr die Euro-Krise zur Bedrohung für die Weltwirtschaft erklärt. Das spezifisch Neue besteht aber darin, dass die Krise aus der ökonomischen in die politische Sphäre eingedrungen ist. Sie beginnt in den am härtesten getroffenen Ländern die breite Masse der Bevölkerung zu bewegen – ein Phänomen, das die europäischen Eliten seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben und mit dem „Ende der Geschichte“ für begraben gehofft hatten. Überhaupt gibt es in der gesamten westlichen Welt eine Abwendung der Unter- und Mittelschichten von der Globalisierung, und nicht mehr nur der Marginalisierten. Das neoliberal-globalistische Narrativ, nachdem soziale Ungleichheit letztlich den Wohlstand aller heben würde, verfängt nicht mehr. Die Wahl Trumps zum Präsidenten der kapitalistischen Führungsmacht legt davon Zeugnis ab. Sie basiert vor allem auf der Unglaubwürdigkeit der x-ten Neuauflage des liberalen „American Dream“, aber auch auf den protektionistischen und isolationistischen Anspielungen Trumps. Selbst der Starökonom Larry Summers, Urgestein des Establishments der Demokratischen Partei, meint, dass es eines „verantwortlichen Nationalismus“ bedürfe, um dem Populismus zuvorzukommen.
Für die EU und ihre Oligarchie ist dieser Weg jedoch verschlossen, nicht nur aus ideologischem Starrsinn, wie er in der Reaktion des Kommissionspräsidenten Juncker auf den Brexit zum Ausdruck kommt, der nun den Weg für die weitere Forcierung der Zentralisierung frei sieht. Sondern vor allem durch die institutionellen Zwänge der supranationalen Konstruktion der EU selbst und insbesondere ihrer Einheitswährung, die einst als Krönung der Vereinigung betrachtet wurde.

Der Euro war vor allem ein politisches Projekt Frankreichs, die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung mit der Kontrolle über die ehemalige Großmacht mittels gemeinsamer supranationaler Institutionen zu verbinden. Wirtschaftspolitisch hoffte man, dem Zinsterror der Bundesbank mit ihrer ideologisierten Hartwährungspolitik ein Ende bereiten zu können. Daher sprach sich die deutsche ordoliberale Schule auch vehement gegen den Euro aus. Sie fürchtete, dass die südeuropäischen Staaten nicht mithalten können und ihnen trotz aller Verbote keynesianische Maßnahmen aufzwingen würden. Doch Geopolitik schlug Wirtschaftsideologie.
Schäuble & Co. wollten in der Folge den Euro auf das reiche Kerneuropa beschränken, doch das war im Zuge der kapitalistischen Landnahme im Osten unter der Flagge der Demokratie ebenfalls nicht möglich. Aus politischen Gründen konnte man den Zutritt zum Club der „Reichen und Schönen“ nicht zu sehr versperren. Statt das EU-Gründungsmitglied Italien wie geplant auszuschließen, führte selbst Griechenland die Einheitswährung ein.

Ein ganzes Jahrzehnt lang schien der Euro ein Erfolg. Die Zinsen sanken, die Inflation ebenfalls. Der Kreditboom als „weise Entscheidung effizienter Märkte“ befeuerte Blasen. Die Handelsbilanzdefizite, die den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit des Südens hätte indizieren können, wurden nicht problematisiert, denn Kapital floss weiter zu. Hauptproblem war, dass Deutschland mit seinem Lohndumping (Hartz IV, etc.) alle unterbot. Keine einzige herrschende Klasse hatte auch nur annähernd die Macht, ihren Arbeitsnehmern weniger an der Produktivitätssteigerung weiterzugeben. Die Wirtschaftskrise 2007/2008 ließ dann das Kartenhaus in sich einstürzen.

Doch der übliche Weg der Abwertung zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit bleibt versperrt. Der eigenen Währung und damit auch Wirtschaftspolitik beraubt, wurde dem Süden die „innere Abwertung“, Lohndeflation und Austerität, aufgezwungen. Das Euro-Regime wurde zum ultraliberalen Brecheisen der Gläubigernation Deutschland gegen die Schuldnernationen der Peripherie.

Doch im Rahmen des krisenhaften Grundmodus der Weltwirtschaft funktionieren die neoliberalen Rezepte nicht. Einerseits hört Deutschland mit der Lohndeflation nicht auf, sodass ein uneinholbarer Abstand der Wettbewerbsfähigkeit verbleibt. Andererseits verträgt die Weltwirtschaft eine „Verdeutschung“ Europas, so wie sie von der EU verordnetet wird, nicht, denn die globalen Handelspartner können im Gegensatz zu peripheren Euroländern sehr wohl abwerten. Temporäres Ergebnis ist, dass die deutsche Exportmaschine durch den für sie unterbewerteten Euro von einem Erfolg zum nächsten eilt, während der Süden durch den für ihn überbewerteten Euro in der Dauerrezession verbleibt und dessen Industrie vor die Hunde geht. Die sozialen und politischen Widersprüche stauen sich so immer mehr auf. Sie sind dabei, als Rückwendung zum Nationalstaat zum Ausdruck zu kommen.

Die einzige Lösung in Sinne der Eliten wäre die geordnete Auflösung der Eurozone, um so die EU zu retten. So lautet der in kapitalistischer Rationalität grundvernünftige Vorschlag Oskar Lafontaines und anderer. Doch die Euro-Oligarchien haben ihr gesamtes Schicksal auf die supranationale Zentralisierung gesetzt:

Das gilt zuerst für das anfangs skeptische Deutschland, das wohl oder übel vom Ersten unter Gleichen zum Euro-Imperator aufgestiegen und mittels Weichwährung Hauptprofiteur ist. Die deutsche herrschende Klasse ist gegenüber Heiner Flassbeck taub, der ihnen völlig zutreffend erklärt, dass nur Lohnerhöhungen, ein Ende der Austerität und staatliche Investitionen die EU retten können. Für die Eliten ist die volkswirtschaftliche Not eine Klassentugend, der alle nachzueifern haben. Am deutschen Wesen soll Europa nochmals genesen. Paradoxerweise wird die Eurozone nur mehr durch die Nullzinsen und Anleihenkaufprogramme der EZB zusammengehalten, die nach dem Modell der Bundesbank konstruiert wurde, aber sehr zum Ärger dieser als einzige EU-Institution akkurat nicht dem deutschen Diktat folgt. Auf dem Exportpanzer fahrend, gibt es keine deutsche Arbeiterklasse, die sie stoppen könnte. Lediglich die Weigerung der geschädigten Nationen kann dem Spuk ein Ende bereiten.

Auch der französische Partner hält an der EU fest, dessen Staatsbürokratie sich nicht eingestehen kann, dass ihr supranationales Konstrukt in die Hand des stärkeren ostrheinischen Konkurrenten gelangt ist, der sie abermals überrollt. Den Eliten bleibt angesichts ihrer ununterbrochenen neoliberalen Angriffe nur zu hoffen, dass ihre präsidentielle antidemokratische Panzerung ausreicht, um den Front National von der Macht fernzuhalten. Auch die südeuropäischen Eliten, die wie neokoloniale Kompradoren von der Macht des Zentrums abhängig sind und gegen aufsteigende Oppositionsparteien und potentielle Massenbewegungen alleine sich nicht mehr halten können, wollen den Kurs nicht ändern. Und schon gar nicht der Große Bruder auf der anderen Seite des Atlantiks, der um seine Nachkriegsordnung fürchtet. So fährt die EU unweigerlich in die Katastrophe.

„Populismus“ und nationale Souveränität

Die Medien richten ihr ganzes Feuer gegen den Populismus, den sie als rassistisch, chauvinistisch und nationalistisch zu zeichnen versuchen. Und tatsächlich bildet die Mobilisierung gegen die Migration ein wichtiges Einfallstor der historischen Rechten.

Doch blickt man unter die Oberfläche, so kann man überall die Verteilungsfrage erkennen. Die Unter- und Mittelklassen wollen ihren sozialen Abstieg beenden oder verhindern. Sie wollen Schutz vor der Globalisierung (Protektionismus), staatliche Eingriffe und Maßnahmen, um ihre soziale Notlage zu verbessern (Keynesianismus) und sie wollen demokratische Kontrolle über den Staat zurück, der von den supranationalen Eliten okkupiert wurde. Symbolisch-identitär komprimiert heißt das: Zurück zum Nationalstaat, der die Volkssouveränität verspricht.

Ist das rechts(radikal), wie die Eliten und die institutionelle Linke weiszumachen versuchen? Jedenfalls liegt darin ein sozialer und demokratischer Impuls der Subalternen gegen die kapitalistischen Eliten beschlossen, auch wenn er politisch nicht in klarer Form zum Ausdruck kommt. Natürlich hängt dieser politische Ausdruck vom jeweiligen historischen Kontext ab. In einigen Ländern des Zentrums und des Ostens wird diese Opposition von der Rechten geführt und kanalisiert, auch weil die Linke systematischer Fürsprecher und Exekutor der Globalisierung war und ist.

Doch selbst im altimperialen Großbritannien, wo das Referendum ursprünglich ein Versuch der Tories war, die nationalkonservative Mittelstands­opposition einzufangen, drehte sich die Brexit-Kampagne letztlich um soziale Argumente, die auch vor allem von den „working poor“ aufgegriffen wurden – ganz abgesehen davon, dass es auch eine hörbare linke EU-Austrittsposition gab. Fast überall auf dem Kontinent baut der Rechtspopulismus soziale Versatzstücke in sein nationales Programm ein und kann das auch, weil er von links durch den Eliten-Internationalismus keine Konkurrenz hat.

Trotzdem wird in allen südeuropäischen Ländern die soziale Opposition von der Linken dominiert. In Griechenland konnte nur mittels der linken Regierung das neoliberale Schockprogramm durchgeführt und das Land durch die EU-Oligarchie plattgemacht werden. Ein Wunder, dass eine soziale Rechte das noch nicht nutzen konnte. In Portugal tanzt eine SP-Minderheitsregierung unterstützt von der Linken etwas geschickter auf des Messers Schneide – die Konfrontation hinauszögernd. Der Ruf nach dem Bruch mit dem Euro-Regime wird aber immer lauter.

In Spanien versuchte es Podemos in den Fußstapfen von Syriza. Mit einer zentralistischen Großen Koalition (in Form einer konservativen Minderheitsregierung) konnte sich das alte Regime nochmals retten. Die Rückeroberung der Volkssouveränität schlägt in Spanien mit seiner franquistischen Staatstradition einen linksdemokratischen Weg sein. Die insbesondere unter den oppositionellen Nationalitäten starke soziale Opposition soll mit einem offenen Verfassungsprozess integriert werden, der die soziale Einheit der Subalternen mittels Selbstbestimmung der Nationalitäten erreichen will.

Italien ist das industriell entwickeltste und bevölkerungsreichste Land des Südens sowie EG-Gründungsmitglied. Renzi war die letzte Karte des Euro-Establishments. Er wollte das Euro-Regime mittels einer Präsidialverfassung retten. Das darüber abgehaltene Referendum geriet zum Klassenvotum dagegen. Nicht nur der arme Süden und die Unterschichten, sondern anders als in England vor allem auch die gebildete städtische Jugend will mit der neoliberalen Konterreform Schluss machen. Die Nein-Kampagne wurde auf der Basis eines demokratischen Republikanismus geführt, der die protosozialistische Nachkriegsverfassung wiederentdeckte. Umfragen attestieren den Euro-Gegnern eine Mehrheit und machen die mittelstandsdemokratische Protestbewegung „Fünf Sterne“ zur stärksten Partei, die um die Bildung einer Allianz kämpfen muss, um demnächst eine Regierung bilden zu können. Die Rückkehr zur nationalen Souveränität wird zur Losung der Stunde, um deren hegemoniale Interpretation sich Rechte und Linke streiten.

Und was ist mit Deutschland, dem ultrakapitalistischen Zuchtmeister der EU? Ging es beim europäischen Supranationalismus nicht gerade darum, die deutsche Macht zu beschränken? Die Sprengung der EU und die Herstellung der vollen deutschen Souveränität wäre aus linker Sicht ebenfalls wünschenswert. Einerseits könnten dann die Ordoliberalen ihr Stabilitätsziel zum eigenen Schaden und nicht zu jenem der anderen betreiben sowie sich eine Klassenopposition dagegen bilden. Die Peripherie wäre ihrerseits freier für (links-)keynesianische Projekte. Andererseits könnte ein Ausgleich mit Russland zu einer wirklich multipolaren Welt führen, der Emanzipationsbestrebungen um den ganzen Globus mehr Spielraum einräumt.