DIE PORTUGIESISCHEN, GRIECHISCHEN, SPANISCHEN WAHLEN UND DIE LINKE STRATEGIE

Die linke Bescheidenheit und die Hegemonie der Eliten

Die konservativen Regierungsparteien in Portugal haben gestern 13 Punkte gegen 2011 verloren, sind von 50,4 % auf 36,8 %geschrumpft, wenn man PSD und CDS von 2011 zusammen nimmt; selbst wenn man nur den PSD rechnet, gab es noch immer einen Verlust von 2 Punkten. Dafür hat die alternative konservative Partei, die Sozialdemokraten (PS) gute 4 Punkte gewonnen, von 28,1 % auf 32,4 % – man muss hier aufpassen, denn die extrem Konservativen des PSD heißen offiziell Sozialdemokraten, der PS nennt sich „sozialistisch“.

Die Linke hat auch einige Gewinne gemacht. Die Kommunisten+Grünen stiegen leicht von 7,9 % auf 8,3 %. Der Linksblock (BE), eine reformistische Gruppe, die der Europäischen Linkspartei zugehört, hat sich verdoppelt, von 5,2 % auf 10,2 %. Daneben gibt es noch eine Kommunistische Arbeiterpartei, die bei 1,1 % stand und steht.

Schlecht?

Man muss schon sehr bescheiden sein, um dies nach sechs Jahren Austeritätspolitik als Erfolg zu betrachten. Ende 2014 stand das BIP um -8 % „real“ hinter jenem von 2008. Die Ungleich­heit hat sich verschärft. Der Bevölkerung geht es gar nicht gut. Und doch wählen vier Fünftel unter den Menschen noch jene Parteien, welche die Austeritätslinie vertreten und an dieser Politik festhalten. Wenn irgendwo, zeigen sich hier Macht und Hegemonie der Eliten. Aber solange Menschen noch wählen dürfen, müssen diese Kräfte auch irgendwo ansetzen.

Man wird sich also wohl fragen müssen, was die Linke falsch macht. Und damit sind wir wieder bei der Strategie-Debatte.

„Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“ Dieser Satz aus dem Kommunisti­schen Manifest von 1847, der vorletzte, war schon damals nicht so völlig richtig. Vergessen wir nicht: 7 Jahrzehnte zuvor schrieb Adam Smith: „Der Palast eines europäischen Fürsten übersteigt die Unterkunft eines fleißigen und sparsamen europäischen Bauern nicht so deut­lich, wie dessen Heim jener vieler afrikanischen Könige, die doch die absoluten Herren über Leben und Freiheiten von Zehntausenden nackter Wilder sind.“ – Er schreibt damals zwar wohlweislich nicht von den elenden Proletariern in ihren Londoner und Birminghamer Löchern. Aber trotzdem ist der Vergleich und ihr Sinn klar: Es geht Euch besser als fast allen Menschen in der Dritten Welt – die damals noch nicht so hieß und heute nach den Spin-Doktoren nicht nur der liberalen Intellektuellen nicht mehr so genannt werden darf.

Die europäischen Unterschichten haben etwas zu verlieren. Das gilt selbst für jene in Portu­gal, wo vielleicht manche sich noch an ihre Soldatenzeit in Angola und Moçambique in der Zeit der Diktatur erinnern. Und heute steht die Dritte Welt wieder vor der Tür, ganz wort­wörtlich, klopft an, bisweilen sogar mit deutlicher Neigung, die Tür aufzubrechen. In Portugal gar wandern manche Menschen nicht in die hoch entwickelten Nachbarn aus, sondern nach Angola, wo sie unter dem korrupten Regime mehr persönliche Möglichkeiten sehen.

Und in Österreich?

Nach der für die Regierungsparteien so völlig offensichtlichen Katastrophe der oberöster­reichischen Wahlen trat der Bundesgeschäftsführer der SPÖ, ein gewisser Schmidt, im ZIB 2 auf. Es war ein jämmerliches Bild. Er nahm einfach die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis, die Unzufriedenheit der ehemaligen Kern-Klientel der SPÖ. Er versuchte, den Auftritt für die jetzt schon gescheiterte Linie des Wiener Wahlkampfs zu nützen: Augen zu und durch, und ja nichts ändern! In wenigen Tagen wird er ja sehen, was dies gebracht hat.

Ich kann mir nicht helfen. Mich erinnert dieser jämmerliche Auftritt an unsere eigenen Debatten innerhalb der konsequenten Linken. Unsere Frage heißt meist auch: Wie können wir unsere Inhalte an die Menschen bringen – „besser kommunizieren“ heißt dies bei den Apologeten der Regierung. Aber wir müssen uns doch wohl auch fragen: Treffen wir die Erfahrung der Menschen? Ist vielleicht an unserer Analyse etwas defizient?

Und es gibt einen Punkt, einen entscheidenden Ausgangspunkt, wo wir falsch ansetzen: Die Erfahrung vieler Menschen und ihr Gefühl, implizit wie oft auch explizit, ist: Es ist uns noch nie so gut gegangen. Und hier setzen die Ängste ein: Dieser bescheidene Wohlstand soll erhalten bleiben. Ein Linker, der dies nicht ernst nimmt, ist ein Zyniker.

Die Antwort der Linken ähnelt jener in den Anfang-1970er. Damals kamen Leute wie Ernest Mandel nach Wien, und erzählten uns: Die Weltrevolution steht vor der Tür. In Schottland wird eben wieder gestreikt. Und sogar die österreichischen Arbeiter bei Hukla im Süden von Wien stellen sich auf ihre Füße und streiken.

Wenn wir Wahlergebnisse wie jene in Portugal als Vorzeichen einer politischen Wende nehmen, dann sind wir bereits ganz und gar im hegemonialen Sumpf der Eliten und ihrer Intellektuellen versunken. Um nicht missverstanden zu werden: Solche bescheidenen Zeichen des Aufbegehrens sind nicht gering zu schätzen. Aber eine Wende zeigen sie nicht notwendig an. Sie verschwinden mit dem nächsten Konjunktur-Aufschwung, und den wird es auch wieder geben, wenn er auch bescheidener sein wird, als es alle möchten.

Es geht u. a. auch darum, die Leistungen des Kapitalismus richtig einzuschätzen und seine Flexibilität zu erkennen. Nur nebenbei: Das war auch der Startpunkt des Marxismus. Seine Aussage war ja nicht: Wir alle verelenden immer mehr. Diese Behauptungen gab es auch, aber sie haben sich für uns, die Bürger der Ersten Welt, als vollkommen falsch erwiesen. Marx selbst hat ziemlich kräftig dagegen argumentiert, z. B. in „Lohn, Preis und Profit“. Aber immer wieder konnte er doch der taktischen Versuchung nicht widerstehen. Wir finden tatsächlich auch bei ihm immer wieder einmal eine Verelendungs-These.

Die entscheidende Aussageaber war: Der Kapitalismus hat inzwischen die Grundlage geschaffen, dass es allen gut gehen kann. Und der Sozialismus – was immer das ist und sein soll – muss die Gesellschaft so umbauen, das dies auch eintritt.

Dem haben sogar manche aus den Eliten zugestimmt. Sicher, da gab es die Malthusianer und sonstige extreme Reaktionäre, die dies einfach nicht wünschten. Aber da gab es auch die Leute wie Alfred Marshall, den britischen Professor, welcher Generationen von Ökonomen erzogen hat: „Mittlerweile stellen wir uns ernsthaft die Frage, ob es sogenannte ‚untere Klassen‘ überhaupt geben soll: d. h., ob wir eine große Zahl von Menschen brauchen, die von ihrer Geburt an zu harter Arbeit verdammt sind, um für andere die Erfordernisse eines verfeinerten und kultivierten Lebens zu erbringen“ (Marshall 1977 [1920], 2 f.).

Es geht also um eine neue Strategie. Sie muss aber in aller Klarheit festhalten, was wir ändern wollen, aber auch, was wir festhalten wollen – die Leistungen eines Systems bei der Innovation einerseits, aber auch in seiner Fähigkeit, die Menschen zu motivieren. Die sogenannten „realsozialistischen“ Systeme glaubten u. a., dies wegreden zu können. Das Ergebnis kennen wir.

  1. Oktober 2015

MIGRATION 2: Politische und moralische Voraussetzungen einer linken Debatte

Das Wort „Moral“ hat in der marxistischen Linken einen schlechten Klang. Man will nur von Politik sprechen. Die aber wurde in einer ziemlich vulgären Auffassung stets als Vollzug historisch unumstößlicher Gesetze gesehen. Die „historischen Notwendigkeiten“ hätten mit Moral nichts zu tun. Das ist eine Art linkes TINA („There is no alternative“ – M. Thatcher). Aber jedes TINA ist von Grund auf konservativ, ja reaktionär. Denn in der menschlichen Entwicklung und in der Politik geht es immer um Alternativen, zwischen denen man sich zu entscheiden hat. Die Wahl zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten beruht aber immer auf Werturteilen. Wenn wir über Werte rational debattieren wollen, müssen wir offen an sie heran gehen.

Nicht zuletzt die Frage der Migration, der Zuwanderung, ist unentwirrbar mit politischen Werten verknüpft, dem Problem der Ungleichheit ebenso wie – bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung – mit identitären Fragen. In diesem Beitrag geht es mir darum, zumindest einige unserer politischen Grundlagen anzusprechen. Ohne das kommen wir beim Migrations-Problem nicht weiter.

(1) Jede Gesellschaft und ihr Staat hat das Recht, über den Eintritt anderer in sie selbst zu entscheiden, d. h. auch: über die Einwanderungspolitik.

Manchen Genossen stößt diese Grundsatzfrage sauer auf. Sie folgt direkt aus der Grundidee: Jede Gesellschaft hat über ihre eigene Entwicklung zu entscheiden, will sie diese nicht völlig unreguliert und unkontrolliert dem Spiel anonymer Mächte überlassen. Was ist wichtiger als der Ein- und Austritt aus der Gesellschaft? Dass es dabei gilt, individuelle Ansprüche und Rechte zu beachten, versteht sich von selbst. Aber das ist der nächste Schritt.

Geht man von einem Leitbild der Politik aus, welche die autonome Planung ihres Weges in irgend einer Form als Grundlage sieht, dann wird dies noch selbstverständlicher. Wenn wir schon die Ein- und Ausfuhr von Waren planen wollen, dann ist die Planung des eigentlichen Produktionsfaktors, der Arbeitskräfte, erst recht eine Basis dafür.

(2) Doch wir stehen auch auf dem Boden eines Universalismus. Was also ist mit der Welt­gesellschaft, der „Weltrevolution“? Bewusste politische Arbeit kann nicht oder nur marginal auf globaler Ebene stattfinden. Das gilt jedenfalls, wenn wir Demokratie, Basis-Orientierung und eine gewisse Alltags-Verbundenheit als wichtige Faktoren einschätzen, ganz egal, wie wir selbstpersönlich agieren. Die Lebenswelt der großen Mehrheit ist nicht global.

Ich gehe somit von der Notwendigkeit selbständiger, autonomer politischer Gemeinschaften aus. Das bedingt politische Grenzen. Die gegenwärtig (noch) sinnvolle Form dessen ist der Nationalstaat. Was in fünf Jahrzehnten sein wird, ist eine andere Frage.

(2.1) Einzelstaaten im Rahmen eines Weltsystems sind nicht nur pragmatische Angelegen­heiten. Sie sind auch die einzige gangbare Möglichkeit, Machtkonzentration und somit „Machtmissbrauch“ zu verhindern. Jede Machtausübung ist Macht“missbrauch“, weil damit – per Definition! – Menschen zu etwas gezwungen werden, was sie selbst nicht anstreben. Großgesellschaft kommt jedoch ohne Organisation, Koordination, somit: Machtausübung, nicht aus. Es geht darum, dies unter möglichst strikter Kontrolle der Bevölkerung zu halten. In diesem Sinn ist der abgegriffene und unter uns wenig beliebte Satz „Small is beautiful“ von grundlegender Bedeutung. Wir sollten auf den anarchistischen Impuls in der sozialistischen Bewegung nicht vergessen!

(2.2) Ein Weltstaat bedeutete das unvermeidbare Abgleiten in einen Totalitarismus, gegen den sich die historischen Totalitarismen der Orientalischen Despotien oder des rezenten und gegenwärtigen Imperialismus menschenfreundlich ausmachen. Überdies wäre dies auch eine Sackgasse der Geschichte. Jede historische Entwicklung beruht auf Versuch und Irrtum. Dies wäre damit blockiert.

(2.3) Für den Großteil der Bevölkerung stellt die National-Gesellschaft und der Nationalstaat die Lebenswelt des Alltags dar. Wenn überhaupt was, hat er noch eine gewisse Übersichtlich­keit und damit die Möglichkeit, ihn zu beeinflussen. Er stellt einen brauchbaren Kompromiss dar zwischen den Notwendigkeiten der Großorganisation und ihrer Kontrolle in Selbstbe­stimmung. Es sind die Eliten und ihre Intellektuellen, welche den Weltstaat anstreben. Der wurde inzwischen denn auch zum eigentlichen Ziel der Oligarchie, wenn auch auf ihre Weise, als „Privatstaat“ der Reichen und Mächtigen.

(3) Die enormen Unterschiede im regionalen Wohlstand / Einkommen entstanden, als vor gut zwei Jahrhunderten zum ersten Mal realiter Weltgesellschaft hergestellt und politisch-militä­risch durchgesetzt wurde, im „klassischen“ Imperialismus. Heute proklamieren auch die Eliten mit viel rhetorischem Aufwand, dass diese riesige Divergenz abgebaut und die Schere geschlossen werden müsse. Es ist kein Zufall, dass diese Eliten in ihrer Rhetorik (Agenda 2030 der UNO) ausgerechnet jene Struktur dafür einsetzen wollen, welche das Problem erst erzeugt hat. Ihr Standpunkt ist reiner Zynismus. Doch die mainstream-Intellektuellen springen darauf an: Es ist eine unglaubliche Naivität, so sie die Bestrebungen der Eliten nicht teilen.

(3.1) Aus dieser Ecke kommt nun der implizite Gedanke, dieser Ausgleich könne durch ein verallgemeinertes Wanderungs-Geschehen erfolgen. Doch alle, die Augen haben, sehen: Diese globale Wanderung dient dazu, die regional-horizontale Ungleichheit in eine weltsystemisch-vertikale Ungleichheit überzuführen. Die Ungleichheit wird durch Wanderung nicht aufgehoben, sondern verstärkt. Ungeplante, ungelenkte und unkontrollierte Massen-Wanderung verschärft die Zentrum-Peripherie-Struktur. Sie ist keine Lösung, sondern ein wesentlicher Teil des Problems. Dazu sei noch auf Punkt 6 verwiesen.

(4) Das Problem der individuellen Wanderung – sofern man die umfangreichen Ströme so nennen kann – ist damit freilich nicht gelöst. Sich gegen Wanderung als politisch-ökonomi­sche Strategie auszusprechen, hilft uns nicht unbedingt weiter, um unsere Haltung zu den Migranten zu definieren. Ich will auch nicht behaupten, dass ich hier die Lösung gefunden und den Stein der Weisen anzubieten habe.

Trotzdem muss ganz am Beginn doch ein wesentlicher, wenn auch sehr abstrakter Punkt genannt werden:

(4.1) Die Abhängigkeiten der armen Länder durch die Politik ihrer Eliten einerseits und der Interventionismus der Metropolen und hier in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich; der USA steht an der Wurzel eines Großteils der Probleme, ja des Problems selbst. Ohne dies zu beheben, wird es schlichtweg unlösbar bleiben.

(5) Es geht also – vor dem Umbau des Weltsystems, den wir nicht so bald lösen werden – um einige vereinzelte Ansätze, die hoffentlich im weiteren Verlauf der Diskussion etwas systema­tischer und umfassender erkenntlich werden. Nochmals: Die folgenden paar Punkte sind als Beispiel gedacht, keineswegs als systematischer Ansatz. Ich möchte nur zwei Beispiele bringen und damit illustrieren, wie man m. E. auch an die Migration heran gehen könmnte:

(5.1) Solange es Armuts-Wanderung gibt, gilt es, zumindest die üblen Folgen dieser Wande­rung zu mildern. Es muss Entschädigungen für brain drain und „activity drain[1] geben. Wie dies zu gestalten ist, wäre sehr sorgfältig zu überlegen. Multilaterale Entwicklungshilfe ist sicher keine Lösung, das heißt den Teufel mit Belzebub austreiben; sie dient nur der Korruption der Eliten.

(5.2) In den Zielländern selbst muss der Anreiz beseitigt werden, Migranten als Lohndrücker einzusetzen. Strikteste Kontrolle und ein Malus-System für Unternehmen mit besonders hoh­en Anteilen von migrantischen Beschäftigten wäre ein möglicher Zugang. Eine Überlegung wäre auch, bei migrantischen Arbeitskräften, welchen die Unternehmen den vollen Lohn ohne jede Trickserei zu gewähren haben, eine Art (geringfügigen) Solidaritäts-Beitrag für die Herkunftsländer bzw. einen dementsprechenden Fonds einzuheben.

 

Handelsblatt, 30. September 2015: Das Blatt des Großkapitals lässt seine Leser sagen, was es selbst weniger gern so offen schreibt. Denn bereits gibt es in der BRD Forderungen, Migranten (gesagt wird: „Flüchtlinge“) vom Mindestlohn auszunehmen – nicht von irgend jemand, sondern von CDU-Ministerpräsidenten und ähnlichen Kalibern: „Wer mit geringer Wochenarbeitszeit und vollem Lohnausgleich, bezahltem Urlaub und hohem Stundenlohn sein Dasein bestreitet, muss Angst haben vor jedem, der mehr für weniger Geld arbeiten will. Somit dürfte die Herrschaft des ’nimmersatten Deutschen‘ bald vorbei sein.“

 

(6) Da hier, absichtlich und unabsichtlich, mit Sicherheit Missverständnisse kommen werden, zum Schluss dieses Beitrags – er wird nicht der letzte sein – noch ein Hinweis: Flucht vor Verfolgung und Asyl für Schutzbedürftige sind von diesen Überlegungen nur am Rand betroffen. Sie sind auf jeden Fall und möglichst großzügig zu gewähren. Quantitativ macht dies gewöhnlich sowieso nur einen kleinen Teil des Migrations-Geschehens aus. Das bedingt, nüchtern besehen, allerdings auch, diesen Kanal von jenen frei zu halten, die ihn für andere Zwecke nützen wollen. Dass Migranten ihn nützen wollen, ist verständlich, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen. Wir müssen uns nur klar sein, und es auch aussprechen: Das zerstört auf die Dauer den dringlich notwendigen Schutzweg. Wieso wir dafür Sympathien haben sollen, ist mir nicht einsichtig.

(7) Zum Abschluss schließlich: Was wir derzeit miterleben, ist der Beginn einer neuen Entwicklung. Ob es uns gefällt oder auch nicht: Das sozio-ökonomische und das politische Weltsystem tritt damit in eine neue Phase ein. Es ist eine Antwort von unten, unorganisiert, die Probleme verschärfend, auf die von oben forcierte Globalisierung. Die Verdammten dieser Erde versuchen, ihr Schicksal individuell in ihre eigenen Hände zu nehmen. Wir wissen, dass dies nicht funktioniert. Aber es ist ein Fanfarenstoß. Die Herrschenden haben dies ganz gut begriffen. Werden wir, wie so oft, dies nicht begreifen?

3.°Oktober 2015

[1] Ich verstehe darunter die Tatsache, dass es vor allem die jüngeren, motivierteren und damit tendenziell produktiveren Menschen sind, welche nachweisbar abwandern.

MIGRATION 1

Die Struktur des Weltsystems und die Menschenfreundlichkeit von „la Merkel“

Das WIFO hat dem österreichischen Sozialministerium Mitte 2015 eine Studie über „Auswirkungen einer Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Asylwerbende in Österreich“ geliefert. Sagen wir es frei heraus: Die Arbeit ist belanglos, jenseits ihrer inhaltlichen und methodischen Mängel. Denn sie beschäftigt sich mit der Auswirkung von 2.500 bis höchstens 10.000 Personen. Das wäre allerdings nicht den Autoren / – innen zuzuschreiben, sondern dem Auftraggeber, dem Ministerium. Aber für uns hier ist es der Anlass zur entscheidenden Feststellung bezüglich Migration in Europa überhaupt:

Die wirkliche Frage der Migration ist im Rahmen der EU längst der nationalen Steue­rung völlig entzogen. Im Rahmen der „vier Freiheiten“ ist die Freiheit des Lohndrückens im Gefolge der Zuwanderung vor allem aus dem Osten des Kontinents, aus Polen, Rumänien etc., für die EU ein Tabu. Und fast alle wagen es nicht, dieses Tabu auch nur anzurühren – die Gewerkschaften schon gar nicht. Dabei dient es – etwa dem EuGH – als bequemer Vorwand, um Gewerkschaftsrechte abzubauen, den Druck auf die Einkommen der gering Verdienenden zu erhöhen, die Lohn- und Beschäftigungspolitik der Mitgliedsländer völlig zu unterlaufen und die Gesellschaftsspaltung durchzusetzen. Kurz: Es geht um die Zerschlagung all jener Errungenschaften, welche die Arbeiter-Bewegung, und zwar auch ihr reformistischer Flügel, in der kurzen Epoche vom Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre erreicht hat. Deswegen ist diese „Freiheit“ der Oligarchie und ihrer Bürokratie ja auch so fundamental wichtig.

Die Zuwanderung aus Drittstaaten ist also nicht das Hauptproblem.

Mit dieser richtigen Erkenntnis die Problematik der Zuwanderung wegzuschieben, hilft nicht nur nichts, sondern ist – aus meiner Sicht – durchaus falsch. Das steigt auf jene Strategie ein, aus welcher auch die WIFO-Studie geboren wurde. Denn wieso gibt es zwar diesen belanglosen Auftrag, nicht aber einen, der die Zuwanderung aus Polen, der Ex-DDR, etc., untersucht? Die Strategie dahinter ist gut erkenntlich: Dies Studie muss bei den geringen Zahlen bisher zum Resultat kommen, dass sich fast nichts ändert, wenn man den vergleichsweise wenigen Asylsuchenden den Zugang zum Arbeitsmarkt leichter macht. Damit soll auch signalisiert werden: Zuwanderung ist ja im Grund überhaupt kein Problem. Dazu kommt, dass die Studie manche wesentliche Fragen nicht einmal andeutungsweise stellt: etwa jene, ob die Zuwanderung (aus Drittstaaten) mittlerweile ihren Charakter geändert hat, heute also etwas Anderes bedeutet, als 2007 oder auch noch 2014. Ein deutliches Zeichen war, wie sich Migranten mit Gewalt versuchten, Zutritt zu Ungarn zu verschaffen. Solche Bilder kannte man bisher nur von Ceuta und Melilla.

Solche Studien beschränken sich also, im besseren Fall, von vorneherein auf die Zuwande­rung aus Drittstaaten. Doch selbst dabei kommen einige ganz wesentliche Ergebnisse zum Vorschein – wenn man sie sehen will.

Diese Studie will sie nicht sehen. Daher baut sie denn auch ihre Überlegungen auf der sogenannten ökonomischen „Theorie“ auf. Darunter verstehen die Verfasser/-innen die banalen Geometrien aus der mainstream-Ökonomie (S. 56 – 61): Sie würden von keiner Epistemologie oder auch keiner anderen (Sozial-) Wissenschaft als Theorie anerkannt, nämlich als generalisierte systemische Aussagen und Erklärungen, die empirisch nachzu­prüfen wären. Und was ist mit der Empirie selbst? Da ist es wert, die Studie bzw. ihrer Darstellung anderer Arbeiten (insbesondere Longhi u. a. 2006. 2007, 2008; Schweighofer 2012, Horvath 2011) im Wortlaut zu zitieren:

„Die Auswirkungen der Migration auf die heimischen Arbeitskräfte [zu denen auch die Zuwanderer aus dem Osten gezählt werden!! – AFR] sind zumeist eher gering“ (62). Aha! Aber es gibt „signifikante negative Effekte auf ArbeiterInnen in den unteren drei Lohndezilen [und] signifikante positive im obersten Lohndezil… Bei ArbeiterInnen steigt das Arbeits­losigkeitsrisiko signifikant, bei Angestellten nicht … Erhöhung der Arbeitslosigkeitsdauer“ (63). Kann ja sein, dass es in einigen Branchen und in einigen Regionen Lohndruck, steigende Arbeitslosigkeit und Verdrängung durch neue Migranten gibt. Aber im Durchschnitt wird dies durch steigende Löhne oben aufgehoben.

Es gibt aus demselben Haus eine Studie, die genauso zur Währungsunion argumentiert. Im Durchschnitt war der Zinssatz schon richtig. Nur war er halt für den Norden zu hoch und für den Süden zu niedrig …

Es gibt somit laut dieser Studie – „insgesamt“ keine Auswirkungen. Nur sinkt der Lohn für die Unterschichten und steigt er für die best Verdienenden, und die Arbeitslosigkeit der Arbeiter steigt; usw. In diesem Sinn geben die Verfasser tatsächlich die Ergebnisse der anderen Studien wieder, die weniger banal und daher eher zur Lektüre zu empfehlen sind.

Im Grund ist damit in ökonomischer Hinsicht alles gesagt. >Migration ist allerdings keines­wegs nur eine ökonomische Frage in diesem reduzierten Sinn. Wir werden im Verlauf der Debatte nach Gelegenheit haben, in anderen Beiträgen, näher auf Einzelheiten der ökonomischen Auswirkungen einzugehen. Fürs erste ist aber deutlich genug gesagt, was die Menschenfreundlichkeit der Frau Merkel und auch die der so öffnungsfreundlichen Grünen, dieser BOBO-Partei, motiviert. Ihre Löhne steigen ja.

Wir dürfen uns allerdings mit dieser so durchsichtigen Interessenslage nicht zufrieden geben. Sie wäre auch reduktionistisch. Denn ich möchte vielen der Aktivisten in diesem Bereich ihr aufrichtiges Engagement nicht absprechen. Vor allem aber:

Was hier mit den neuesten Migrations-Schüben zur Debatte steht, ist die Struktur des Weltsystems selbst. Das gilt in ökonomischer wie in politischer Hinsicht. Seit gut zwei Jahrhunderten steigt die Ungleichheit zwischen den Regionen und der Ländern der Welt. Scheint es aber einmal in der zwischennationalen Ungleichheit einen Hoffnungsschimmer zu geben, dann wird er konterkarriert durch das Steigen der inneren Ungleichheit: Die statisti­sche Auswirkung der chinesischen „Erfolge“ durch das, übrigens ziemlich umstrittene, hohe chinesische Wachstum (es dürfte u. a. auch ein statistisches Artefakt sein, allerdings keineswegs zur Gänze) wird zunichte gemacht durch das horrende Ansteigen der Ungleichheit in diesem Musterland des Wildost-Kapitalismus.

Da aber die kommunikativen Verbindungen immer enger werden, hoffen die Menschen der abgehängten Länder und Klassen, im westlichen Paradies zu erreichen, was sie in ihren Heimatländern nicht finden: ein bisschen dezenten Wohlstand. Hegemonie und die ökonomi­sche und militärische Dominanz der hoch entwickelten Zentren verhindert ein Schließen der sich stets stärker öffnenden Schere. Es ist daher wenig verwunderlich, wenn immer mehr Menschen versuchen, an diesem Wohlstand der Metropolen individuell, durch Ortsverände­rung, teilzunehmen, da sie doch offensichtlich durch den Zufall ihrer Geburt in der Peripherie zum Elend verdammt sind.

Und hier muss unsere Debatte einsetzen. Was ist von dieser individuellen Strategie zu halten? Lässt sich ihr, moralisch wie politisch (in den Erfolgs-Aussichten), eine andere Strategie entgegen setzen? Oder ist das Bestehen auf den Grenzen und ihren Auswirkungen nur der egoistische Reflex der Habenden, auch nichts anderes als die schäbige Haltung von oberen Mittelschichten auf der Suche nach billigen Arbeitskräften?

Aus meiner Sicht sind dies die Fragen, welche im Vordergrund zu stehen hätten. Dabei helfen uns die grünen Alternativ-Straches gar nichts, die apodiktisch erklären: „Es geht darum, Menschenleben im Mittelmeer zu retten. Punkt.“

  1. September 2015

Studien

Longhi, Simonetta, u. a. (2008), Meta-Analysis of Empirical Evidence on the Labour Market Impacts of Immigration. IZA DP No. 3418.

Horvath, Gerard Thomas (2011), Immigration and Distribution of Wages in Austria. Linz: The Austrian Centre for Labor Economics and the Analysis of the Welfare State.

Schweighofer, Johannes (2012), Gab es auf regional-sektoreller Ebene Verdrängungseffekte im Gefolge der Arbeitsmarktöffnung vom Mai 2011? In: Wirtschaft und Gesellschaft 38, 601 – 614.

Was bleibt nach dem (Wahl)sieg von Berlin und Brüssel in Griechenland?

von Gernot Bodner

 

Der Wahlausgang in Griechenland stand nach dem neuen Memorandums-Abkommen vom 15. Juli im wesentlichen fest: Eine Regierung mit eingeschränkter Souveränität, die die im Memorandum vorgegebenen Gesetze (bis Jahresende 120) unter der Leitung des designierten Protektors aus Brüssel, dem Holländer Maarten Verwery, durchs Parlament bringt und ausführt. Einzig die Frage, ob dies unter der Schirmherrschaft von Syriza oder von Nea Dimokratia gesehen wird stand zur Entscheidung. Und einige Vertreter in Brüssel scheinen, vor allem seit dem Hinauswarf des Störenfrieds Varoufakis und dann der linken Rebellen im Parlament, durchaus Gefallen an der hörigen Truppe von Alexis Tsipras gefunden zu haben.

 

Vor diesem Hintergrund war zu erwarten, dass die wesentlichste Verschiebung in der Wählerschaft zu den enttäuschten Nichtwählern erfolgte, die mit 4.3 Millionen im Vergleich zu Januar 2015 einen Zuwachs um 7 Prozentpunkte verzeichneten (36,4 % zu 43,4 %). Von den bis zuletzt Unentschlossenen (die letzten Vorwahlprognosen lagen bei etwa 17 %) waren offenbar die Mehrheit enttäuschte Syriza-Anhänger, die sich am Wahltag teils doch wieder für Tsipras entschieden und teils nicht zur Wahl gingen. Die Prognosen von Nea Dimokratia (ND) dagegen bestätigten sich in der Wahl. Mit Ausnahme eines kleinen Zuwachses im neoliberalen Zentrum (Union der Zentristen und PASOK-DIMAR) verzeichneten alle im Parlament vertretenen Parteien in absoluten Zahlen Wählerverluste im Vergleich zu den Wahlen im Januar 2015. Bei den beiden Großparteien belief sich der Wählerverlust im Vergleich zu Januar auf 14 % (Syriza) bzw. 11 % (ND). Aber auch der rechte Radikalismus konnte keinen Profit aus dem Verrat von Syriza ziehen. Absolut verringerte sich die Wählerschaft der Goldenen Morgenröte sogar geringfügig (-2 %), wenngleich sie mit 6,99 % der abgegebenen Stimmen ihren dritten Platz halten und an Mandaten zulegen konnte. Genauso gelang es aber auch den radikal linken Gegnern des Memorandums – Kommunistische Partei (KKE), Volkseinheit (LAE, Syriza-Dissidenten) und Antarsya – in keiner Weise zu profitieren. Die KKE hat ein relativ stabiles Wählerpotential von etwa 5-6 %, das beinahe unabhängig von der politischen Konjunktur seine eher identitäre Stimme abgibt – ähnlich unbeweglich gegenüber den konkreten politischen Momenten wie die Parteiführung selbst. Die KKE verlor 36.000 Wähler, legte aber prozentuell zu, während Antarsya sowohl absolut als auch in Prozent leicht zulegte. Enttäuschend war das Abschneiden der LAE (dazu näher unten), die mit 2,86 % den Einzug ins Parlament nicht schaffte.

 

Die Wahl war im Gegensatz zu jener im Januar 2015 eine Wahl der Resignation. Im Januar artikulierten die 36 % der Syriza die Hoffnung auf eine Kursänderung im Land. Es waren Stimmen, die hofften den fünf Jahren der Troika-Herrschaft und der sozialen Katastrophe ein Ende zu setzen. Doch sie standen von Anfang an auf tönernen Füßen. Es war eine passive und ausschließlich institutionelle Hoffnung, die Austerität ohne einschneidenden Bruch mit der EU zu stoppen, kongruent mit dem illusionären Programm der Syriza.

 

Die folgenden Monate belegten auf ganzer Linie, das völlige Scheitern dieser Illusion. Das Ende der Austerität ist, wie in verschiedenen Kommentaren auf dieser Seite immer wieder dargelegt wurde, eben nicht kompatibel mit den Regeln der Eurozone, die in Berlin und Brüssel geschrieben werden. Die politische Dynamik nach den Wahlen im Januar war immer abhängig vom Verhalten der Syriza-Führung und nicht getrieben durch einen kämpferischen Druck der Straße. Die seit den kämpferischen Monaten im Juli 2012 am Syntagma-Platz, tendenziell rückläufige soziale Bewegung konnte sich nicht erholen und dem sich immer deutlicher abzeichnenden Scheitern der Syriza-Führung nichts entgegenhalten. Deutlich kam dies zum Ausdruck an der extremen Schwäche der Proteste gegen die Kehrtwende von Tsipras nach dem überwältigenden Nein beim Referendum. Nur wenige hunderte Demonstranten aus der organisierten radikalen Linken fanden sich vor dem Parlament und zeichneten damit bereits vor, was sich bei den Wahlen nun bestätigte. Das kurze Fenster der Möglichkeit eines Bruches, das Syriza mit dem Referendum geöffnet hatte, schloss sich mit der Kehrtwende der Führung genauso schnell wieder. Die Bevölkerung schien zwar in diesem Moment bereit, das Risiko des Grexit aus sich zu nehmen, um sich vom Diktat Brüssels und Berlins zu emanzipieren. Nicht jedoch gegen Syriza und ohne jegliche alternative Führung. Damit konnte Tsipras seine Operation des Neuwahl-Putsches gegen das „Oxi“ beim Referendum und gegen die eigene Partei erfolgreich durchziehen. Mit dem Wahlausgang ist die Chance des Bruches nun auf absehbare Zeit wieder geschlossen. Tsipras hat Syriza zu einer neuen Memorandumspartei transformiert und eine Regierungsmehrheit, die als Verwalter des dritten Memorandums dienen kann.

 

Was sind nun die Perspektiven der kommenden Periode und was bleibt für die Linke, die eine radikale Option des Bruchs anstrebt? Allen Seiten ist klar, dass Griechenland mit dem neuerlichen Austeritätsprogramm nicht aus der Krise herauskommen wird. Die lächerliche Beruhigungsparole einer Schuldenerleichterung von Tsipras ändert an der strukturellen Sackgasse Griechenlands im Euro-Regime gar nichts. Und auch seine Rederei, die interne Oligarchie zur Kasse zu bitten zwecks sozialer Abfederung des Memorandums ist populistische Augenauswischerei. Keiner rechnet mehr mit der Fähigkeit Griechenlands, die Schulden je zurückzuzahlen. Brüssel und Berlin geht es vielmehr um ein langfristiges Gängelband, welches das Land in der Austeritätsfalle hält, ohne dass die Stimmung zu rasch kippt und ihre neuen Verwalter destabilisiert. Und es geht darum, die politischen Folgen eines Präzedenzfalls des Schuldenschnitts gegenüber den anderen Peripherieländern zu verhindert. Die Schwäche der außerparlamentarischen Kämpfe seit 2012 und der Erfolg von Tsipras Manöver zeigen jedoch, dass das Elendsregime durchaus noch weitere Jahre bestand haben kann, solange sich kein neuerliche politischer Hebel für die soziale Krise findet, wie es Syrizas Anti-Austeritäts-Wahlprogramm von Saloniki im Januar 2015 war. Und der Aufbau einer neuen Wahlalternative als Katalysator des Unmuts der Bevölkerung ist schwierig. Das zeigt die Niederlage der Volkseinheit.

 

Die Voraussetzungen der Volkseinheit waren zweifellos schwierig: zu kurz war die Zeit sich organisatorisch aufzustellen, zu sektiererisch viele potentielle Bündnispartner der außerparlamentarischen Linken. Dennoch, das schlechte Abschneiden erklärt sich daraus nicht. Die Volkseinheit war nach all den Ereignissen ein sichtbarer Faktor mit ausreichend prominenten Figuren – sogar Varoufakis optierte letztlich für eine Wahl der LAE. Doch im Moment fehlt die politische Voraussetzung: die Resignation war nicht in eine Proteststimme umzumünzen. Die LAE war für die Öffentlichkeit die „Partei der Drachme“ – so wurde sie von der Presse hingestellt, obgleich ihr Programm wesentlich breiter ist. Aber gerade in dieser Frage – Drachmen vs. Euro – kondensierte sich über die letzten fünf Monate die Frage des Bruchs mit dem System. Das war allen klar und diese Option war nicht mehrheitsfähig.

 

Trotz des Scheiterns der LAE ist sie die politische und programmatische Quintessenz der Lehren der letzten fünf Monate. Sie vereinigt ein intellektuelles Substrat, das in der Lage war ein konkretes Programm zu entwerfen, in dem die Bedeutung der Euro-Frage erfasst und eine konkrete radikale Alternative der Souveränität aufgezeigt ist. Auch hat sie zweifellos einige wichtige Segmente aus der sozialen Basis von Syriza mitgenommen. Doch die Gefahr für diese neue Kraft sich nach dem Scheitern bei den Wahlen als weitere radikale Kleinpartei zu zerreiben besteht leider. Die Unfähigkeit der anderen linken Kräfte, insbesondere von KKE, Antarsya aber auch EPAM, sich auf ein Wahlbündnis aller „Oxi-Kräfte“ einzulassen, zeigt, in welch schwierigem Milieu die LAE als außerparlamentarische Kraft bestehen muss.

Ein Pfeiler für ihr Überleben kann im Transfer der griechischen Erfahrung auf die europäische Ebene liegen, wo das grandiose Scheitern von Syrizas „sozialer Europa-Strategie“ die Euro-Debatte innerhalb der Linken angeheizt hat und wo sich zumindest Ansätze für fruchtbare Bündnisse eröffnen. Im Inneren wird die LAE vorerst in mühsamer Kleinarbeit weiter arbeiten müssen, um einen organisatorischen Apparat um ihre programmatischen Ansätze zu bilden, der im Falle einer nächsten politischen Krise bestehen kann. Denn diese wird fraglos wiederum um dieselben Konstellationen ausbrechen wie in den vergangenen Monaten: Austerität im Euro oder Sprung ins kalte Wasser eines Grexit.

 

Wir hatten zweimal auf eine Beschleunigung der Entwicklungen in Europa durch die griechischen Ereignisse gehofft – zuerst mit dem überwältigenden Sieg des Nein im Referendum und dann mit der Bildung und dem Wahlantritt der LAE. Beide Chancen konnten nicht wahrgenommen werden. Beide zeigten die Bedeutung, eine politische Kraft der Linken gegen den Euro strategisch und rechtzeitig aufzustellen. Denn die Krise in Europa bleibt ungelöst und sie wird fraglos neue Möglichkeiten eröffnen.

DIE NIEDERLAGE DER GRIECHISCHEN LINKEN UND DER SIEG DES ALEXIS TSIPRAS

Welche Strategie?

Die Resultate der Griechischen Wahl sind noch nicht völlig fix. Aber das tut wenig zur Sache. Auf der Ebene der Bevölkerung stehen sie ebenso klar da wie in ihren institutionellen Folgen. Tsipras hat in seiner Weise gewonnen: Die Wahlbeteiligung ist so niedrig wie noch nie. Nicht viel mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten hat die Stimme abgegeben. An Stimmen hat er gegenüber dem Jänner mehrere Hunderttausend verloren. Das ist also sein erster Erfolg. Ein großer Teil der Menschen ist so enttäuscht, dass sie selbst diese bescheidene Möglichkeit, irgend einen Einfluss auszuüben, nicht mehr nützen.

Die Linke, die LAE, konnte offenbar keineswegs genug Überzeugungskraft aufbringen. Sie konnte die Enttäuschten nicht mehr motivieren, ihnen zu vertrauen. Zugegeben: Ihre Aus­gangslage war nicht bequem. Gingen sie zu früh aus der Partei, so mussten sie sich den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten nicht gekämpft. Aber sie gingen definitiv zu spät. Sie hätten gehen müssen, als die erste informelle Koalition zwischen den Memorandums-Parteien geschlossen und sie überstimmt wurden. Der Erfolg, wenn auch bescheiden, der KKE zeigt es deutlich. Trotz ihrer absoluten Verweigerung ist sie offenbar glaubwürdiger als die LAE.

Die griechische Linke als Massenbewegung ist also nahezu vernichtet – der zweite Erfolg des Alexis Tsipras. Mit dem betrügerischen Wahlrecht und dessen Prämie kann er sich nun die fehlenden nötigen Stimmen aussuchen, entweder wieder ANEL, die es auch wieder geschafft hat, oder aber eine der Kollaborationisten-Parteien, To Potami oder PASOK. Damit hat er sein wirkliches Ziel erreicht: Er kann Ministerpräsident bleiben.

Nicht nur die griechische Linke ist, kurz- und mittelfristig, fast vernichtet. Der Schlag traf auch die europäische Linke, ihre Hoffnungen, ihre Illusionen. Da gab es einige Fehleinschät­zungen. Nicht dass wir Gregor Gysi falsch beurteilt hätten. Es liegt in der Natur des wendigen Rechtsanwalts aus der ehemaligen DDR, sich an Leute wie Tsipras zu halten. Aber auch der Sprecher von Podemos, Pablo Iglesias, hat in den letzten Tagen Wahlkampf für SYRIZA gemacht. Und auf den setzten viele bisher einige Hoffnung. Nun aber steht sonnenklar, wo er steht, und wahrscheinlich die Mehrheit von Podemos auch.

Nach diesem ernüchternden Ergebnis bleibt uns nur die Frage: Hat die Linke, die konsequente Linke, nicht jene Karikatur, für die SYRIZA nunmehr steht, irgend eine politische Chance in Europa?

Der Parlamentarismus wurde geschaffen, um eine Schumpeter‘sche Variante von „Demo­kratie“ zu verwirklichen. Kurz gesagt: Das Volk darf zum Demos werden, indem es sich seine Herren selbst aussucht. Aber dann hat es zu kuschen und sich nicht einzumischen. Es darf vor allem nicht bei den wirklich entscheidenden Fragen mitsprechen. Jede plebiszitäre Regung und jede politische Bewegung außerhalb der Eliten ist verpönt. Gerade in der BRD ist dies so ausgeprägt, wie sonst selten: Eine Volksabstimmung gilt dort unter den Eliten und ihren Intellektuellen als wahrhaft des Teufels.

Schumpeter hat dies vielleicht generalisiert. Erfunden hat er es nicht. Als er, sehr kurzfristig, nur wenige Wochen, Finanzminister der neu gegründeten Republik Österreich war, hat eben sein akademischer Kollege Hans Kelsen die österreichische Bundesverfassung entworfen. Und ein absolut zentraler Punkt dieses Kelsen’schen Rechtsstaats war das „freie Mandat“, die Möglichkeit jedes Abgeordneten, für oder gegen Alles zu stimmen, was ihm eben seine Partei befielt, ob das seinen Wählern gefällt oder nicht.

Bis vor wenigen Jahren und Jahrzehnten hat dies ganz gut funktioniert i. S. der Eliten. Sicher, vereinzelt kamen Unfälle vor. Aber die konnte man bereinigen: Als das Parlament in Chile nicht so wollte, wie es sollte, ließ man eben putschen und beseitigte es am 11. September, nicht 2001, sondern 1973.

Um mit dem Spuk ein- für alle Male aufzuräumen, wurde schließlich die EU gegründet und das Europäische Parlament instituiert. Nun konnten die nationalen Parlamente machen was sie wollten. „Es gibt keine Demokratie gegen die europäischen Verträge“ (Juncker).

Aber jetzt hat es in Griechenland auch national wieder einmal funktioniert. Der Großteil der Enttäuschten ging anscheined nicht mehr zur Wahl. Was wünscht man sich mehr, wenn man ein Schäuble, Juncker, Faymann oder Tsipras ist?

Nun könnte man mit einigem Recht sagen: Das ist doch nichts Neues! Marxisten haben dies schon immer gewusst. Das Parlament ist für den Hugo. Aber damit würden wir es uns denn doch entschieden zu leicht machen. Ein ohnmächtiger Stalinismus ist keine Alternative zu einer Politik des Konformismus.

Wir müssen unbedingt eine neue Strategie-Debatte aufnehmen. Es geht um eine Strategie zuerst einmal für uns selbst, in den hoch entwickelten Ländern, wo auf Grund der ver­gleichbar günstigen Situation die Bevölkerung in ihrer Mehrheit ganz und gar nicht links orientiert ist. Aber auch hier ändert sich die Situation, und die Proteststimmen für Strache und Konsorten zeigen deutlich genug, dass tiefe Unzufriedenheit herrscht.

Aber sich dabei entweder parlamentarischen Illusionen oder tiermondistischen Träumereien hinzugeben, ist das Verfehlteste überhaupt.

  1. September 2015, 21.00 Uhr

VON MÉLENCHON ÜBER LAFONTAINE ZU VAROUFAKIS?

Wenn die politische Realität den Plan B zum Plan A macht

Ein mittlerweile verstorbener Freund, in seiner Jugend kurzfristig Maoist, dann SPÖ-Mitglied, dann wegen derer politischen Korruption aus der Partei ausgetreten, glaubte mich Mitte der 1990 folgend für die EG / EU motivieren zu können: „Haben wir denn nicht immer den Internationalismus gewollt?“ Viel später meinte ein Trotzkist und inzwischen Aktivist der LINKEN aus Bayern: „Auch Trotzki hat bereits die Vereinigten Staaten von Europa angestrebt.“

An die beiden mit ihrer Gleichsetzung des proletarischen Internationalismus mit dem Inter­nationalismus der Finanz-Oligarchie erinnern mich stets Politiker der reformistischen Linken. Ein Plan B für Europa heißt der neueste Vorschlag von Jean-Luc Mélenchon. Unterschrie­ben ist er auch von Oskar Lafontaine, Stefano Fassina, Zoe Kontantopoulou – und Yannis Varoufakis. Und was ist dieser Plan B? Sie erklären ausdrücklich: Er ist nur ein Ersatz für ihren bevorzugten Plan A. Der aber sei eine vollständige Neuverhandlung der europäischen Verträge. Also: Die EU ist prinzipiell das Ziel und soweit OK. Sie ist nur fehlerhaft gestaltet.

Ein erster Schritt ist besser als gar keiner. Der Unverantwortlichkeit der Euro-Gruppe ebenso wie der „Unabhängigkeit“ der EZB und dem Märchen von ihrem apolitischen Charakter ein Ende setzen; wer von der Linken wollte dies nicht? Dazu muss es also einen Plan B geben. Deutlicher: Es geht wieder um die Verbesserung der EU, und der Plan B soll ein Drohpoten­zial aufbauen. Das Mittel dazu sei „ziviler Ungehorsam“. Der altrömische Spruch kommt einem auf die Lippen: „Es fällt schwer, nicht sarkastisch zu werden.“ Die Euro-Gruppe wendet sich ausschließlich an Regierungen und die EZB ausschließlich an Banken und Spekulanten. Und dagegen soll „ziviler Ungehorsam“ helfen? Was heißt dies konkret?

Wir finden in diesem Text die alten Illusionen: „ein Europa für die Europäer“, der gegen­seitigen Hilfe, Unterstützung und der Demokratie; „eine Währung für den gemeinsamen Wohlstand“, die „Transformation des Euro in eine Gemeinschaftswährung“ (?); usf. Der Euro sei zum Instrument der Eliten geworden; er sei im Rahmen der Juncker’schen Vorstellung von einer beschränkten Souveränität nach Art der seinerzeitigen Breschniew-Doktrin zu einem eisernen Käfig geworden. Als ob dies Alles nicht das ausgesprochene Ziel bei der Konstruk­tion von EU und Währungsunion gewesen wäre! Diese explizite Absicht wird wieder als Abirrung dargestellt, der man das bessere Europa von früher gegenüberstellen muss. Warum lesen die Unterzeichner nicht die Dokumente? Waren es doch teils ihre eigenen Beamten und Experten, die dies Alles entworfen haben. Und nicht zuletzt auch: Renzi und Hollande, so lesen wir, benehmen sich wie Muster-Häftlinge in diesem Käfig, die auf Hafterleichterung und Begnadigung setzten. Das ist denn doch zuviel vorausgesetzt bei den beiden, gibt ihnen einen zu großen Vorschuss an Glaubwürdigkeit: Sie stehen für das selbe Programm wie die Euro-Gruppe ein, nur heucheln sie Dissens, weil die Bevölkerung unzufrieden ist.

Das Memorandum vom 13. Juli war ein Staatsstreich. Ganz und gar einverstanden. Aber wer hat ihn in Griechenland durchgeführt? Meines Wissens stehen die deutschen Divisionen noch nicht dort im Süden. Das „offizielle Europa“ (?) kann es nicht ertragen, dass fast ein ganzes Volk NEIN sein: Völlig richtig. Aber wer hat dieses NEIN in ein Ja zum Memorandum verwandelt und dabei eine Koalition mit den Erzkonservativen, den Rechtssozialdemokraten und den Liberalen geschlossen, gegen die eigene Linke?

Sehen wir doch die Unterzeichner an! Varoufakis gehört noch immer zur Memorandumspartei SYRIZA. Warum hat er sich Ende August nicht LAE angeschlossen, wenn er gegen das neue Memorandum ist? Nicht, dass dies für LAE ein so großer Verlust ist. Angeblich waren nicht wenige dort erleichtert über sein Fernbleiben; denn er wird in seinem politischen Zick-Zack als ein Risiko betrachtet. Aber es geht um die Haltung.

Mélenchon trifft Lafanzanis und unterschreibt kühne Texte mit Varoufakis. Er wird sich ent­scheiden müssen. Wen unterstützt er nun eigentlich: das Memorandum oder die Opposition? SYRIZA oder LAE? Jene, welche sich gegen den Kurs von Schäuble, Dijsselbloem und Juncker stellen, oder jene, welche mit den gewohnt schmutzigen Tricks herkömmlicher griechischer Politik die Linke im eigenen Land bekämpfen? – Parallelwährungen, Euroexit? Hat er vergessen, dass es Varoufakis war, welcher Ende Juni offen signalisierte: Wir haben keine Wahl, wir müssen den Euro behalten? Und als sich LAE konstituierte, hat er gesagt (laut Spiegel): „Ich halte es für besser, im Euro zu bleiben. … Ich bin ganz sicher nicht dafür, … zur Drachme zurückzukehren.“ Die Lederjacke allein tut es wohl nicht.

Die Unterzeichner wollen einen internationalen Kongress bereits für den November einbe­rufen, um dort ihre Version des Plan B zu diskutieren. Man wird sich dies ansehen müssen – falls sie überhaupt interessiert sind, die konsequente Linke einzubeziehen. Uns bleibt gar nichts Anderes übrig, als unser Interesse zu zeigen und die Debatte aufzunehmen, wenn wir nicht in das Sektierertum abgleiten wollen. Aber man wird uns zugestehen: Mit Personen wie Varoufakis ist Skepsis, ja Misstrauen an der Initiative angebracht.

  1. September 2015

 

„WOFÜR STEHT DIE VOLKSEINHEIT?“

Das Programm der LAE: eine Neuformierung der griechischen Linken

Wir dürften die SYRIZA nicht aus der Linken ausschließen, erklärte am „Volksstimme“-Fest ein in Griechenland geborener alter Genosse. Er übersah dabei Eines: Tsipras und die SYRIZA-Mehrheit haben sich selbst aus der Linken ausgeschlossen, als sie mit den Memo­randumsparteien, der ND, der PASOK, To Potami, gegen die eigene Linke stimmten und damit das neue Memorandum durch das Parlament peitschten.

Man spaltet sich nicht leichtfertig von einer Partei ab, welche für kurze Zeit die Hoffnung fast der ganzen Bevölkerung darstellte. Aber nach dem letzten Trick der Tsipras-Gruppe, den vorgezogenen Neuwahlen, um die Linke los zu werden, blieb den loyalst Gesinnten unter dieser keine andere Alternative – außer die Linke aufzugeben. Die Linke Plattform konstitu­ierte sich somit zusammen mit mehr als einem Dutzend Gruppen und Bewegungen aus der konsequenten Linken, zur neuen Bewegung. Die Linke Plattform bleibt zwar der Kern. Sie ist aber bei weitem nicht die einzige Komponente der neuen Bewegung.

Radikal-sozialistisch und Anti-Memorandum – auf diese beiden Slogans lässt sich das Pro­gramm der Volkseinheit bringen. Das NEIN zur EU-Austerität vom 5. Juli ist ihre wirkliche Geburts-Urkunde. Sie definiert sich als „patriotische Volksfront“, und fordert damit schon die Häme aller Pseudo-Internationalisten heraus. Aber man muss erst die koloniale Situation, die totale Abhängigkeit von Berlin / Brüssel wieder auflösen, bevor man nur denken kann, eine eigene Politik zu machen. Dabei stellt sie aufrichtig fest: Als Front sind wir nicht monoli­thisch und wollen es auch gar nicht sein, weder ideologisch noch praktisch-politisch. Aber: Wir stehen gegen die Austerität, für den Schuldenschnitt, auch für einen Schnitt in den priva­ten Schulden, welche die Haushalte erdrücken. Die Privatisierungen mit ihren räuberischem Charakter werden wir wieder rückgängig machen. Wir wollen das Einkommen wieder heben, den Arbeitsmarkt umgestalten und Kollektivvertrags-Verhandlungen entsprechend unterstüt­zen. Auch werden ein neues („umverteilendes“) Steuersystem einführen. Ein leistungsfähiges Gesundheitssystem muss wieder aufgebaut werden. Mit Deutschland werden wir in harte Ver­handlungen treten, um endlich die Frage der deutschen Kriegs-Schulden aus der seinerzeiti­gen Zwangs-Anleihe zu bereinigen.

Das Alles hat Konsequenzen. Wir müssen die „monetäre Souveränität“ wieder gewinnen und die Bindung der griechischen Nationalbank an die EZB lösen. Konkret heißt dies: Der Austritt aus der €-Zone steht auf der Tagesordnung. Danach, und hier beginnt das Programm deutlich über die Anti-Memorandum-Linie hinaus zu gehen, müssen wir die Banken nationalisieren. Wir werden regionale und nationale Planung etablieren. Der Arbeitsmarkt muss neu gestaltet werden. Wir werden überdies einen Teil der Importe zu ersetzen versuchen. In der Industrie-Politik werden wir u. a. neue Formen der Produktion und der Wirtschaft unterstützen. In der Außenpolitik stehen wir gegen die wahnsinnige US- und EU-Konfrontations-Politik und den neuen Kalten Krieg. Das Problem Zypern lösen wir entlang der Linie der UNO. Mit der Türkei wollen wir freundschaftliche Beziehungen, doch lehnen wir jede Grenzveränderung ab: Basis ist das Seerecht.

Wir lehnen es auch ab, uns der NATO zu unterwerfen und wollen uns aus diesem Club zurück ziehen. Schließlich muss die militärische Zusammenarbeit mit Israel beendet und der palästinensische Staat anerkannt werden.

Und die EU? „Die Frage, ob Griechenland die EU verlässt, ist auf die Agenda zu setzen.“

Die folgenden, auch kritischen Bemerkungen sollen keineswegs als Wadel-Beisserei ver­standen werden. Wir müssen eine nüchterne Analyse durchführen, und dazu gehört eine solidarische Kritik – man zögert, das Wort zu verwenden: Heißt doch Solidarität heute die Konformität mit den Bösartigkeiten und Verbrechen der EU. Vielleicht sollten wir das Wort ihnen überlassen und einen neuen Begriff prägen.

Wie sehr Realismus nötig ist, zeigt die Entwicklung des letzten halben Jahrs. Wir waren skeptisch hinsichtlich SYRIZA. Doch die ersten Bewegungen nach den Wahlen waren unerwartet positiv. Es war daher völlig richtig, sie zu unterstützen. Aber gleichzeitig mischte sich doch eine gewisse Illusion hinein. Wir erwarteten zuviel von dieser Partei.

Auch jetzt scheint es das einzig Richtige zu sein, LAE zu unterstützen, soweit wir können. Aber wir geben nicht vor Begeisterung unser Hirn ab. Wir wissen, dass manche Kräfte in der LAE ihren eigenen Mut fürchten.

Die gewundenen Formulierungen bezüglich der €-Zone, noch mehr aber hinsichtlich der EU zeigen, dass es in diesen Punkten Differenzen gibt, und dass noch immer oder wieder einigen die Konsequenz abhanden kommt, wenn sie die Folgen ihrer Politik bedenken müssen. Das hat auch eine positive Seite: Sie wollen nicht gegen die Bevölkerung agieren. Aber damit hegt man den Illusionismus: „Wir gehören zu Europa.“ Ja: Aber zu welchem? Zum hoch entwi­ckelten Kern, oder zur geschurigelten Peripherie? Das muss man aussprechen, wieder und immer wieder. Das Ergebnis ist sonst eine Situation wie heute und eine SYRIZA-Politik.

Ein weiterer, ganz entscheidender Punkt ist: LAE wird in den kommenden Wahlen mit Sicherheit keine Mehrheit erhalten. Was geschieht in der folgenden Zeit der Opposition gegen die Memorandums-Parteien? Und damit stellt sich eine Frage, die weit über die Alltags-Politik einer Oppositions-Partei hinaus geht. Denn dringlich notwendig ist: eine neue und vertiefte Debatte um die Problematik von gegenwärtigem Parlamentarismus und sozialistischer Politik. Dieser Punkt kommt überhaupt nicht vor, obwohl es einige reichlich diffuse Nebensätze in diese Richtung gibt: „eine radikale Transformation des Staats, des Justizwesens und der Verwal­tung, … eine gründliche Revision der Verfassung, … ein Zusammenführen von repräsentativer und direkter Demokratie…“

Hier liegt ein Kernpunkt des Programms und eine Defizienz. Es geht nicht darum, hier lange Abhandlungen um die Transformations-Periode, oder wie immer man die künftige Politik bezeichnet, einzufügen. Aber es sollte erkennbar sein, dass sich die Bewegung / Partei darüber Gedanken macht, dass nicht das Grundsätzliche hinter einem hastig zusammen gezimmerten Wahlprojekt und dem alltäglichen Parlamentarismus verschwindet.

Im Einzelnen gibt es noch eine Reihe von Punkten, die man kritisch sehen könnte. Ohne zu beckmessern, frage ich nach: Was heißt „zentrale und regionale Planung“ konkret? Wie kann man in der Asyl- und Immigrations-Politik die „Unterstützung der EU“ verlangen, die man doch verlassen will? Ähnlich: Wenn man die EU verlässt, geht einem TTIP nicht mehr allzuviel an. Doch lassen wir dies. Aber es sind Widersprüche die verraten, dass in der neuen Bewegung auch in solchen Grundfragen keineswegs Übereinstimmung herrscht.

Aber das ist nicht tragisch. Die neue Bewegung ist im Aufbau. Auch wenn eine vertiefte theoretische Bemühung wesentlich ist: In der praktischen Politik wird sich entscheiden, ob LAE dazu wird, was sie anstrebt: eine Volksbewegung und gleichzeitig eine radikal-sozialistische Partei. Aber die Praxis der Theorie gehört auch zur politischen Praxis. Griechenland wird nicht von heute auf morgen transformiert. Doch LAE ist ein viel versprechender Ansatz. Das verdient unsere ganze Sympathie und unsere Unterstützung, soweit wir sie leisten können.

10. September 2015

Der englische Text des Programms:

ttps://www.jacobinmag.com/2015/09/tsipras-popular-unity-syriza-eurozone-snap-elections/

„KEYNESIANISMUS“

Beruhigungspille für „Linksliberale“

Der längerfristige Blick auf Politik und Wirtschaft erfordert immer wieder einen Blick auf frühere Debatten. Seit einiger Zeit sehe ich mir, halb systematisch, halb zufällig, etwas ältere Publikationen an. Dabei geriet mir André Gorz: Wege ins Paradies, Rotbuch 1983, in die Hände. Da startet er von der Krise Ende der 1970er. Er versucht die Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist sehr interessant, nicht zuletzt seine Irrwege und Deffizienzen.

Sein Blick trifft auch den damaligen politischen Keynesianismus, gerade im Begriff, seine Wirkkraft einzubüßen. Einen fast tödlichen Schlag versetzte ihm die Politik der französischen Regierung nach dem Wahlsieg von Mitterand. Es ist jene Politik, die Hollande nach seinem Wahlsieg 2012 in furchtsamer und zögerlicher Weise wieder zu beleben suchte. Beide scheiterten in spektakulärer Weise. Hollande dürfte wohl ein „one-term“-Präsident werden, wie man jenseits des Atlantiks nüchtern und hämisch zugleich formuliert.

„Keynesianische Schemata“, so meint Gorz (25, auch auf anderen Seiten ähnlich) haben einige Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen waren schon damals nicht mehr gegeben. Wichtigste Grundlage wäre ein funktionierender Nationalstaat. Keynesianismus braucht einen Staat, der stark genug und, vor allem, dessen Regierung willens ist, in die konkreten Abläufe der Wirtschaft einzugreifen. Sie muss ihre politischen Ziele klar definieren und sie auch gegen Widerstand durchsetzen. Und – man ist versucht zu sagen: natürlich – solche staatlichen Maßnahmen funktionieren nur und ausschließlich auf einem ziemlich homogenen und übersehbar abgegrenzten Territorium mit einer effektiven Grenze nach außen.

Die alte „keynesianische Sozialdemokratie“ des Mitterand und Mauroy scheiterte. In Frank­reich war diese erste Bedingung nicht mehr gegeben. Der Nachfragestoß ging in die Importe, und die Leistungs-Bilanz kippte. Sie scheiterte mit Eklat: Die Sozialdemokratien rundum, nicht nur in Frankreich, wagten es am Ende der Nachkriegs-Aufbau-Periode nicht mehr, ihr keynesianisches Programm wirklich durchzusetzen.

Die EG hatte damals zwar noch nicht die umfassende Staats-Qualität von heute. Aber sie war in der Entgrenzung der Wirtschaftsräume bereits zu weit gekommen. Man diskutierte noch kaum über diese Thematik, auch nicht auf der Linken: Dazu zähle ich schon damals nicht mehr den PS. Die französischen Redensart, die selbst heute noch den PS in „die Linke“ ein­bezieht, ist völlig irreführend. Die Sozialdemokratie war längst ins Lager der Euro-Enthusias­ten eingeschwenkt. Sie versuchte immer stärker, den Teufel mit Belzebub auszutreiben; die Probleme der vorangetriebenen Globalisierung mit den Mitteln der Globalisierung zu lösen.

Doch ebenso wichtig war der zweite Punkt. Er hängt engst mit dem ersten zusammen. Die Sozialdemokratien versuchten ihre typische „Fünfer-und-Weggli“-Politik: Sie wollten das eine tun (Nachfragebelebung), aber das andere nicht lassen (Politik für die obern Einkom­mens-Schichten). Dafür waren sie bereit, den Staatsschuldenstand zu erhöhen. Aber dies nutzte nichts mehr, zumindest im furchtsamen Ausmaß, in dem es betrieben wurde. Es er­höhte mittelfristig nur den Steuerdruck. Der lief hauptsächlich über die regressive Mehrwert­steuer, die Unterschichten relativ stärker trifft als die Gutgestellten. Die Ergebnisse kamen sichtbar stärker den ohnehin schon Begünstigten zugute, nicht den Unterschichten. Der Aus­bau des Sozialstaats wurde vor allem eine Umverteilung hin zu den Mittelschichten, durch die Bildungs-Politik, auch die Familien-Politik und sonstige Politikfelder.

Dadurch begann die liberal-konservative Botschaft zu wirken: Wir können uns dies auf die Dauer nicht leisten. Zwar war damals das Vokabel „Sparen“ noch nicht so unbefragt ver­breitet wie heute. Aber der Gedankengang wirkte, und zwar nicht zuletzt auf die ältere Generation, die noch Erinnerungen an Inflations-Perioden hatte. Sie wird in der Zukunft durch das „Sparen – nämlich den Abbau von staatlichen Leistungen für sie selbst – am stärksten betroffen sein. Aber ihr Verzichts-Ethos war noch vorhanden. Noch gab es nicht den Slogan von der schwäbischen Hausfrau. Aber der Gedanke begann bereits zu wirken.

Die Bevölkerung sah das Versagen der angeblich keynesianischen Politik, das Versagen der Sozialdemokratie. Sie sah, dass sie selbst in ihrer Mehrheit durch diese Politik nichts gewann. Die Ängste vor unkontrollierten inflationären Ausgaben tat das Ihre. So bestrafte sie die Sozialdemokratien. Besonders deutlich ist dies in der BRD zu sehen. Aber auch in Österreich, wo doch diese Politik in den 1970ern vergleichsweise erfolgreich war, bekam die Sozialdemokratie die Ohrfeigen. Es wurde seit 1983 ein kontinuierlicher Abstieg daraus.

In Frankreich warteten die regierenden Sozialdemokraten diese Ohrfeigen gar nicht erst ab. Sie bekamen sie zwar bei den Regionalwahlen auch. Delors mit und seiner Partie reagierte im Auftrag von Mitterrand von vorneherein. Sie warfen das Steuer in neoliberale Richtung herum. Etwas später geschah genau dasselbe in Schweden. Die dortigen Sozialdemokraten waren in der Nachkriegszeit das Vorbild für Mitteleuropa geworden. Nun, spätestens Anfang der 1990er, wurden sie mit ihrer Politik zur Vorreitern von Blair und Schröder, obwohl sie noch eine andere Rhetorik führten. Damit starb der alte Keynesianismus endgültig.

Der alte politische Keynesianismus ist tot. Er drückte sich um das Hauptproblem herum: die Transformation des Systems – durchaus eine systemkonforme Transformation – und längerfristig der geplanten Aufbau einer stärker sozialisierten Wirtschaft. Was dies konkret bedeutet, darüber wird anderswo noch zu sprechen sein.

An seine Stelle trat der politische Monetarismus, der Neoliberalismus. Er war eine Zeitlang, von 1990 bis 2008, durchaus erfolgreich in seinem Sinn. Es war ein Alternativanbot zu keynesianischen Tendenzen. Dem Kapital sollten seine bisherigen leichten Zügel abgenom­men werden. Deregulierung hieß und heit die Devise. In der Praxis bedeutete dies u. a.: die Privatisierung der Restbestände staatlicher Anbote und Leistungen. Die „Kommandohöhen“ der Wirtschaft, soweit noch staatlich beeinflusst, wurden geräumt. In Österreich hat die Wiener Sozialdemokratie die Zentralsparkasse verkauft; andere staatlich beeinflussbare Posi­tionen wurden ebenfalls abgestoßen. Die andere Seite des politischen Proporzes verwandelte die Genossenschaften ERSTE und Raiffeisen in gewöhnliche Bank-Konzerne. Der spätere Ruin der BAWAG fügt sich in dieses Bild bestens ein. Kapitalistische Musterbetriebe in staatlicher Hand wie die AUA wurden mutwillig kaputt gemacht; der Verkauf der PSK gehört auch hierher, usw. Mit der Bahn hat es noch nicht so ganz funktioniert. Die fährt noch.

An die Stelle der Nachfragestärkung trat die „angebotsorientierte Politik“, d. h., ein Abbau von Steuerleistungen für Unternehmen und Hoch-Einkommen und eine bewusste Politik der Umverteilung nach oben. Dies wird ein wenig verdeckt, dass die als Sozialleistungen ausgewiesenen Summen noch steigen, wegen der demographischen Alterung. Aber wieso, bitte schön, ist eine Pension eine „Sozialleistung“?

Dies alles konnte nicht dem „guten Willen“ der Sozialdemokratie allein überlassen bleiben. Das wäre zu riskant, angesichts des weiteren formellen Bestehens von Wahlen. Es wurde obligatorisch unter EU-Regeln. Es wurde also vom übernationalen Staat im Aufbau gelenkt. Teils ging es gegen die Nationalstaaten. Im Großen und Ganzen aber war die Kollusion der nationalen Eliten gegeben: an erster Stelle den Sozialdemokraten. Die schwärmten dabei zynisch vom Internationalismus, der endlich verwirklicht würde. Die Alt-Konservativen hatten da durch ihre engen Verbindungen mit nationalen Kapitalgruppen und deren Wünschen oft mehr Schwierigkeiten.

Die Finanzkrise 2008 brachte diese Politik vorläufig mit Eklat zum Scheitern.

Die Antwort der Eliten war zwiefach: Sie entwarfen eine neue Strategie: eine Verschiebung aller wichtigen Kompetenzen hin zur übernationalen Bürokratie. Sie war in einem Ausmaß politisch erfolgreich, welches man sich vor 2008 nicht hatte vorstellen können. Die zweite Antwort ist: Sie überantwortete die Kontrolle dieser Bürokratie in hohem Maß den Finanz-Eliten. Das sichtbarste institutionelle Beispiel ist die EZB und ihre Besetzung. Aber es gibt eine ganze Reihe von sonstigen Vorgehensweisen. Man denke nur an den „Lobbyismus“ in Brüssel.

Und nun kommen die alt gewordenen Wanderprediger des Keynesianismus wieder und wollen uns weismachen: Dort liegt die Lösung. Gleichzeitig wollen sie dieses System, nun­mehr ins Supranationale transformiert, nicht nur beibehalten, sondern noch ausbauen und perfektionieren. Es wirkt fast grotesk. Juncker macht sich den Witz und gibt ihnen scheinbar nach. Er entwirft ein Programm, das er mit 300 Mrd. beziffert, das in Wirklichkeit aber nur ein Hundertstel kostet. Die Idee ist offensichtlich: Schieben wir diesen Typen was zu, damit sie Ruhe geben. Was schon auf nationaler Ebene nicht mehr funktionierte, weil der politische Wille dafür nicht da war, soll nun mit einem politisch-bürokratischen Apparat erreicht werden, dessen genuine Ziele das exakte Gegenteil davon sind.

Die wirkliche Politik der EU-Bürokratie schaut anders aus. Das QE (quantitative easing, Geldschwemme) ist das genaue Gegen-Programm von Keynesianismus. Es ist eine neue Form von Supply side-Ökonomie, transponiert in die Welt des Finanzkapitalismus. Man schießt das Geld nicht mehr in die Realwirtschaft ein. Es wird den Banken zugeschoben und damit den Spekulanten. Die Börsenkurse sind heute höher als 2007. Den Weg in die Realwirtschaft findet es nicht, der ist dazu inzwischen zu lang. Geführt wird die Politik typischer Weise nicht von der Regierung (der Brüsseler Kommission), sondern von der Finanzbürokratie, der Frankfurter EZB.

Eines der Ziele ist übrigens, sich um das geltende Recht herum zu drücken und monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben. Denn ein Großteil der vorgesehenen Mittel geht in staatliche Anleihen (auf Sekundär-Märkten). Zugute kommt dies allerdings keineswegs jenen, die es am dringlichsten bräuchten, nämlich dem Oliven-Gürtel. Als das Programm zwei Tage vor den griechischen Wahlen angekündigt wurde, jubelte der griechische Finanzminister, damals noch von der ND. Der bescheidene Mann sagte nicht dazu: Die Bedingung war, dass das Austeritäts-Programm vorerst „erfolgreich“ auslaufen müsse, also die Verschiebung auf St. Nimmerlein. Die Spekulanten ließen sich denn auch überhaupt nicht beeindrucken. Es geschah – nichts. Die Wahlen aber gingen für ND trotzdem verloren. Das wäre nun eine Debatte für sich. Wir werden sie auch ein anderes Mal führen.

Sagen wir es in aller Deutlichkeit: Keynesianismus heute ist ein unrealisierbarer Politik-Vorschlag. Damit soll vermieden werden, die wirkliche Problematik zu benennen und zu diskutieren. Man will nicht über Umverteilung, nicht über Regulierung und noch weniger über gesellschaftliche Planung sprechen. Die dafür aufgewandten Gelder, etwa die real vielleicht 3 Milliarden, welche das Juncker-Programm kosten wird, ist reine Geldverschwendung. Es wird voraussichtlich in korrupte Kanäle versickern.

Dieser Ausweich-Charakter des neuesten Keynesianismus zeigt: Der Vorschlag ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Seien wir also lieber offen, konsequent und scheuen wir uns nicht, die Verhältnisse beim Namen zu nennen.

6.September 2015

LINKE NRW unterstützt „Volkseinheit“

DIE LINKE. NRW bleibt beim OXI zum dritten Memorandum
Die Erpressung durch Wolfgang Schäuble und die deutsche Bundesregierung hat gewirkt. Der Widerstand gegen diese Politik der griechischen Regierung unter Alexis Tsipras, dem Vorsitzenden der Syriza Partei, ist aufgebrochen worden. Nun geht der Ausverkauf mit dem dritten Memorandum unter Tsipras verstärkt weiter. Leidtragende werden diejenigen sein, die schon in den letzten Jahren unter der fatalen Kürzungs- und Sozialabbaupolitik der Troika gelitten haben.

DIE LINKE in NRW wird sich an allen Versuchen beteiligen dieser Politik europaweit ein deutliches OXI entgegenzuhalten. Nun hat der Ministerpräsident Tsipras unter Umgehung der innerparteilichen Demokratie in Syriza Neuwahlen ausgerufen und säubert die Partei von allen Kritikern dieses Kurses.

„Wir unterstützen sowohl in Griechenland als auch allen anderen Ländern die Kräfte, die sich konsequent gegen Austeritätspolitik und Erpressung stellen. Und vor allem stehen wir an der Seite derjenigen, die sich in konkreten Auseinandersetzungen gegen die Konsequenzen der Diktate aus Deutschland und der Institutionen stellen. Nur der Widerstand der Bevölkerungen in Griechenland und in ganz Europa kann die unmenschliche Troika-Politik stoppen“, appelliert Özlem Demirel, Landessprecherin der LINKEN in NRW.
Es geht schließlich nicht nur um die Bevölkerung in Griechenland, sondern in allen Staaten, denen die Institutionen ihr neoliberales Sparprogramm aufzwingt. Was sich in Griechenland abspielt und wie gegen Griechenland vorgegangen wird, betrifft nicht nur die Opfer dieser Politik in Griechenland. Hier wird ein Exempel statuiert: Nirgendwo in Europa, so lautet die Botschaft, darf sich eine Alternative zur neoliberalen Spar- und Privatisierungspolitik im Interesse des Kapitals und der Banken entwickeln. Keine demokratische Entscheidung, keine demokratische Wahl soll das verhindern können: Das letzte Wort haben die Finanzmärkte.
„Diese Vorgänge kann man nicht ignorieren“, so Ralf Michalowsky, Landessprecher der LINKEN in NRW, „und man darf jetzt nicht so tun, als sei nichts passiert. Wir brauchen breitere und stärkere Bündnisse gegen die Austeritätspolitik auch auf der Straße in Deutschland. Auch für die LINKE in Deutschland kann es kein weiter so in Bezug auf die EU und auf Griechenland geben.“
Die beiden Landessprecher Demirel und Michalowsky erklären abschließend: „Wir werden mit allen progressiven Kräften zusammenarbeiten, die sich konsequent gegen die Durchsetzung der Privatisierungs- und Kürzungspolitik in allen Ländern Europas wenden. Dies gilt auch für linke Kräfte in Griechenland wie dem Bündnis der ‚Volkseinheit‘ (Laiki Enotita, LAE), der Antarsya und anderen. Wir hoffen darauf, dass sich in Griechenland eine widerständige Mehrheit durchsetzt, die sich der Diktatur der Finanzmärkte widersetzt. Griechenland hat das verdient!“

DIE KOMMENDEN GRIECHISCHEN WAHLEN: DIE AUSGANGSLAGE HEUTE

Eine Kurzinformation

Es wird also am 20. September wiederum Wahlen in Griechenland geben. Diesmal wird die ehemalige SYRIZA-Linke als eigene Partei antreten. Wie sehen die Chancen aus?

Die griechische Demoskopie ist ja nicht unbedingt vertrauenswürdig. Trotzdem wollen wir uns ihre Daten kurz ansehen. In der letzten Woche gab es 12 Umfragen. Sie stimmen in der Tendenz überein. Die Unterschiede sind aber auch beachtlich. Wir gehen also so vor, dass wir diese Umfragen als eine einzige Stichprobe betrachten und die Werte mitteln. Das klingt etwas hanebüchen, hat sich aber im Großen und Ganzen bewährt.

Dabei gibt es ein Problem, wenn wir mit den Wahlergebnissen vom 25. Jänner vergleichen. In den Umfragen gibt es sowohl Antworten, Im Schnitt 18,8 %, welche keine Partei angeben, als auch solche, welche Kleinstparteien angeben, die nicht ins Parlament kommen werden. Die Prozentsätze von damals sind aber natürlich von den gültigen abgegebenen Stimmen gerechnet. Man kann also nicht die Ergebnisse nehmen wie sie sind, sondern muss sie sozusagen aufwerten mit einem Faktor, der die „No Party“-Absichten berücksichtigt. Der soll hier mit 0,8 angenommen werden: Das heißt: Die Angaben werden so umgerechnet, dass die Prozente der Wahlabsichten auf nur 80 % der Befragten bezogen werden.

Zuerst die Daten als Mittelwerte der 12 Umfragen bzw. umgerechnet, wie eben erläutert.

Mittelwert korrigiert Wahlergebnisse 25. Jänner

SYRIZA 24,4 30,5 36,3

ND 21,3 26,6 27,8

XA 6,2 7,8 6,3

To Potami 5,4 6,7 6,1

KKE 5,1 6,4 5,5

ANEL 2,4 3,0 4,8

PASOK 3,9 4,9 4,7

LAE – Volkseinheit 4,8 6,0 –

 

Kurz zusammengefasst:

(1) SYRIZA verliert im Vergleich zu den Wahlen erheblich. Sehen wir uns aber die (fiktiven) Höhenflüge der Partei in den ersten Monaten nach der Wahl an, dann bricht sie fast auf die Hälfte ein. Die frommen Wünsche unserer Zeitungs- und Rundfunk-Leute, dass Tsipras trotz seiner Politik noch immer „sehr populär“ sei, bestätigt sich nicht. Außerdem wissen wir ja aus langer Erfahrung: Selbst wenn er noch persönliche Sympathien haben sollte, sagt dies für die Wahlergebnisse wenig aus. Die sind meist von solchen Sympathien abgekoppelt. – Überdies könnte ihr der Koalitionspartner ANEL abhanden kommen. Der fliegt möglicher Weise aus dem Parlament. Von einer absoluten Mehrheit ist die SYRIZA aber heute weiter denn je entfernt.

(2) Das kommt aber in nur sehr geringem Maß der ND zugute. Auch die liegt noch immer hinter den seinerzeitigen Wahlergebnissen. Allerdings hat sie ihren Tiefpunkt hinter sich, als sie um die Zeit der Volksabstimmung herum eindeutig als die Partei der Troika wahrgenommen wurde.

(3) Den anderen Troika-Parteien, der PASOk und To Potami, geht es nicht so viel anders. Sie liegen auf dem Niveau ihrer Wahlergebnisse.

(4) Ähnlich geht es der KKE. Sie könnte vielleicht geringfügig gewinnen. Dasselbe trifft auf die XA (Goldene Morgenröte) zu.

(5) Und was ist mit der Volkseinheit? Formell existiert sie erst seit einer Woche. Trotzdem könnte sie mit 6 % das Niveau der KKE erreichen. Das ist nicht berauschend. Aber es ist auch nicht so schlecht. Die Parteispaltung war dringlichst, aber sie wird von vielen in der potenziellen Wählerschaft noch mit Stirnrunzeln betrachtet. Überdies gibt es eine politisch unter den gegebenen Umständen wirklich dumme Konkurrenz von Antarsya, die mit Sicherheit nicht ins Parlament kommt. Aber sie wird der Volkseinheit 1 bis 1 1/2 Punkte der Stimmen wegnehmen. Insoferne müssen wir zur Kenntnis nehmen: Solche Entwicklungen brauchen Zeit, und die ist im Moment knapp.

Wiederholen wir: Die Daten geben die Situation der vergangenen Woche wieder. Weiters ist die Verlässlichkeit mit größter Reserve zu betrachten. Und überdies beziehen sich die Zahlen auf Wahlabsichten. Die sind nur als Stimmungsbild ernst zu nehmen. Wie sprühen da einige übrig gebliebene Anarchisten an die Wände? „Wenn Wahlen etwas änderten, würden sie verboten.“ Da ist was dran: Einem solchen „Verbot“ von Wahlen war Griechenland in den letzten Woichen näher, als es seit dem Sturz der Militär-Diktatur je war.

  1. August 2015