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Unerwartete Brexit-Nachwehen?

von Rainer Brunath

Theresa May kämpfte bei ihren aktuellen Brexit-Gesprächen mit dem EU-Verhandlungsführer Michel Barnier aus Brüssel um Haltung, denn der hatte ihr etwas vorgeschlagen, das für sie unannehmbar war: Nordirland in der EU zu belassen, es quasi von Britannien zu lösen. In der Konsequenz käme das einer Vereinigung mit der Republik Irland gleich, kommentierte Theresa May.

Zur Erinnerung: Noch vor wenigen Wochen hatte Theresa May für Nordirland den „Sonderstatus“ ausgehandelt, dass sich für dieses Gebiet in seinem Verhältnis zur EU nichts ändern sollte. Die harte Grenze zwischen Irland und Nordirland sollte vermieden werden.

Theresa May, die nur mit den nordirischen Unionisten regieren kann, reagierte verärgert: „Der Vorschlag Nordirland zolltechnisch der Republik Irland zuzuschlagen habe diabolischen Charakter, denn der bedrohe die Einheit des UK.“

Ihre mit gewisser Spannung erwartete Rede offenbarte die Ratlosigkeit aller Seiten. Sie hatte vorgeschlagen, aus der Zollunion der EU auszutreten, was sicherlich nicht schmerzlos abgewickelt werden könnte. Die Beziehungen zu den EU-Staaten sollten aber tief und freundschaftlich bleiben. Wie sie sich das vorstellte, blieb jedoch ihr Geheimnis, denn der EU-Verhandlungsführer bekannte nach dieser Rede: „Es bleibt im Nebel, welche Verhandlungsposition die Regierung in London einnimmt.“

Wie schon während des Brexit-Votums offenbart sich, dass die Eliten Britanniens in ihrer Haltung zur EU gespalten sind. Der Kompromiss solle zwar der Austritt aus der Zollunion sein, zu welchen Bedingungen aber – da ist man sich uneins, wobei man bisher den dicksten Brocken, den hochsensiblen und monströsen Finanzsektor (in London), noch gar nicht zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht hat. Darüber, so scheint es, soll auch gar nicht gesprochen werden, denn die Londoner Banken sollten auch dort bleiben – gemäß der Meinung der britischen und der Finanzeliten aus aller Welt. Die Geldgeschäfte mit der EU könnten auch nach dem Brexit in London abgewickelt werden.

Der Standort London hat für europäische, global agierende Großunternehmen einen enormen Vorteil: Man kann die Verbindungen zu Commonwealth-Ländern zur Vermeidung EU-weiter Besteuerung und Regulierung nutzen. Das steht jetzt auf dem Spiel und das scheint Theresa May als Trumpfkarte im Ärmel behalten zu wollen. Andererseits fühlen sich Manager deutscher Unternehmen benachteiligt, weil sich, nach dem Niedergang der Deutschen Bank, kein bedeutendes deutsches Finanzhaus mehr in London befindet. Käme es zu einer Bruchlandung bei den Brexit-Verhandlungen, könnte es geschehen, dass große Banken von London nach Frankfurt umziehen.

Das Königshaus scheint sich mit einer Kuscheloffensive einmischen zu wollen. Prinz Harry und seine Angetraute in Spe, Meghan Markle, öffentlichkeitswirksame Sympathieträger, sollen offensichtlich im Commonwealth für Britannien werben. Ihre Teilnahme an der bald stattfindenden Commonwealth-Konferenz in London wurde inoffiziell schon bestätigt – obwohl ihre Verheiratung erst nach der Tagung stattfinden soll.

Auch Oppositionsführer Jeremy Corbyn meldete sich zu Wort. Er forderte „eine“ Zollunion mit der EU, jedoch derart, in der die Bestimmungen des Lissabon-Vertrages unwirksam sind. Es gehe der Labour und der Linken in Britannien darum, nicht der Regulierungshoheit Brüsseler Institutionen über einen Binnenmarkt unterworfen zu sein. Zölle im Allgemeinen seien verhandelbar, meinte er und bekannte sich zur Zollfreiheit zwischen den EU-Ländern und Britannien im Besonderen. Ob er da nicht einem realitätsfernen Traum aufsitzt? Britannien kann nicht – schon alleine nicht mit Rücksicht auf das Commonwealth – wie die USA Exportdefizite durch Innenverschuldung, sprich Vermehrung des umlaufenden Geldes, ausgleichen. Wird im UK doch wieder der kleine Mann zur Kasse gebeten, damit das Land seine Schulden bei der EU, speziell bei Deutschland bezahlen kann? Oder bleibt es Britannien doch nicht erspart, Zollbestimmungen gegenüber der EU einzuführen, so wie es Mr. Trump mit Stahl und Aluminium gegenüber EU (meinen tut er Deutschland) angekündigt hat. Aber hätte Britannien die Kraft dazu? Zollfragen sind Machtfragen. Auch geopolitische und globale Machtfragen. Vor 100 Jahren konnte Britannien solcherart Position erfolgreich durchsetzen. Aber heute?

Seit den 1980 Jahren trat der „Neoliberalismus“ auf die Weltbühne – und dessen hauptsächliche Stoßkraft richtete sich gegen weltweite Kapitalverkehrskontrollen. Ironischerweise war es die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die den Abbau solcher Kontrollen diktiert hatte und löste damit eine massive Deindustrialisierung im eigenen Land aus. Verschuldungsfähigkeit wurde zu neuen Ikone. Kapital ging – und geht immer noch – seit jenen Jahren in die Billiglohnländer und hinterlässt eine Industriewüste. In den USA heißt sie Rustbelt.

Mr. Trump fällt nichts besseres ein als Zollbestimmungen; wird Theresa May ähnliches verkünden wollen? Seit sich die reichen Global Player daran gewöhnt haben, dass Textilien aus China, Indonesien oder von sonst wo in Fernost – wo es keine Sozialleistungen gibt – nur ein paar Cent kosten; seit sie es für normal halten, dass so gigantische Profite erzielt werden, und seit es Millionen und Abermillionen von Minderbemittelten und armen Menschen nur mit den bei Billigläden erhältlichen, aus Asienimport stammenden Waren, möglich ist, ein einigermaßen erträgliches Leben zu führen, dürfte es Mr. Trump oder Theresa May nicht mehr frei stehen sein, das Rad der Geschichte einfach nur zurückzudrehen. Theresa May muss mehr als nur einen Spagat hinlegen können und Jeremy Corbyn muss sich mehr einfallen lassen als nur freundlich die Freihandelsfanfare zu blasen. Von ihm übrigens erwartet die britische Arbeiterbewegung, die ihm zwar eine gewisse Renaissance verdankt, deutlichere Signale. Auf dem Feld Menschenrechte, Frieden und Umwelt hat er sich Vertrauen in breiten Massen erworben. Zuletzt hielt er eine viel beachtete Rede am 10.12.2017 in Genf zum Tag der Menschenrechte[1], aber nun steht für ihn ein weiteres Arbeitsfeld bereit: die soziale Frage, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, die Sicherung und der Ausbau sozialer Sicherungssysteme in Britannien. Seine Haltung gegenüber der EU sollte er klarer herausarbeiten, gegenüber einer EU die nicht zu einem demokratischen Gebilde reformiert werden kann. Er muss eindeutig und unbefangen Position beziehen zum Bestand Britanniens – der eigenen Nation – dessen Weiterbestand für die Britischen Arbeiter eine Kernfrage ist und die sie gerade vermittels des Brexit-Votums deutlich gemacht hatten. Gelingt ihm das, wird er Vorbild sein für Entwicklungen auf dem Kontinent.

Bild oben: Theresa May, Britische Premierministerin (offizielles Foto, open Government Licence (UK), Quelle Britisches Nationalarchiv)

[1] www.nachdenkseiten.de

GROSSMACHT-IDEOLOGIE, „KLEINE NATION“ UND POLITIKFÄHIGKEIT: 1918 – 1938 – 1988 – 2018

 

Seminar „80 Jahre Anschluss“, 10. März 2018

Eine Vorbemerkung

Heinz Fischer wurde von der Bundesregierung zum Beauftragten bestimmt, das „Bedenkjahr“ in ihrem Sinn abzuwickeln. Gibt es etwas Symbolischeres, etwas, was mehr über die Rolle der Geschichte auch heute noch aussagen könnte? Der alte und noch heimliche aktuelle Bundes­präsident – denn dem neuen trauen offenbar nicht einmal seine Unterstützer die nötige Fähig­keit zu – wird die Ideologie überantwortet. Das zeigt, wie wichtig die Herrschenden die Geschichte nehmen. Damit sind auch solche Erinnerungs-Daten Teil eines antihegemonialen Kampfes. Wir tun gut daran, uns damit auseinanderzusetzen. Ideologie läuft immer über die Einbettung von Interessen in einen kulturellen Rahmen – wenn es nicht so missverständlich wäre, würde ich sagen: in einen identitären Kontext.

Der Ausgangspunkt

Die Nation, dieses politische Handlungs-Konzept, entstand als Projekt der Selbstbestimmung und der Volkssouveränität. Aber schnell kapperten das aufsteigende Bürgertum und politische Eliten-Gruppen diesen Entwurf. Sie drehten das Demokratie-Projekt um und wandelten es in ein Instrument des Großmacht-Chauvinismus. Dabei stießen sie allerdings auch auf Wider­stand. Unter den unterdrückten Bevölkerungs-Gruppen fanden sich Intellektuelle, welche die emanzipative Potenz des neuen Begriffs erkannten. So standen sich Ende des 19. Jahrhunderts zwei recht unterschiedliche Ausprägungen der Idee Nation gegenüber. Den chauvinistischen und imperialistischen Großmacht-Nationen der neuen und auch zunehmend der alten Eliten traten neue Bewegungen gegenüber, die sich auch als Nationen sahen – erst in Europa, doch zunehmend auch in den außereuropäischen Peripherien, in Lateinamerika, in Ägypten, in Indien.

Im Habsburger-Staat entstand aus diesem Konflikt die sogenannte „nationale Frage“. Die oppressive Strömung orientierte sich am Bismarckianismus und Wilhelminismus. Die meist deutschsprechende Bürokratie allerdings war in ihrer Loyalität zwischen deutschem Chauvi­nismus und autoritär-vornationalen Neigungen zerrissen. Die Großbourgeoisie war auch damals bereits a-national. Aber insbesondere die Intellektuellen waren nahezu durchwegs nationalistisch deutsch. Ihnen standen vor allem tschechische, slowenische und italienische Angeordnete gegenüber, welche in der Selbstbestimmung ihrer präsumptiven Nationen ihre Zukunft sahen, als kleine Nationen (Hroch 2000, 2001). (Die Polen hingegen waren in der Mehrzahl Stützen des alten Systems.)

1918 zerfiel dieses „Monstrum“ (S. Puffendorf 1667 über das Alte Deutsche Reich). Die deutschprechenden Österreicher standen damit vor einem unerwarteten Problem. Sie hatten plötzlich einen eigenen Staat, aber einen Kleinstaat. Die möglichen Objekte der Herrschaft – und auch der Ausbeutung – waren ihnen abhanden gekommen. Sie sollten nun selbst eine kleine Nation darstellen, selbstbestimmt, aber ohne Peripherien. Die politische Klasse, noch immer in Großmacht-Illusionen verwurzelt, war dazu nicht bereit. Stellten sie selbst schon keine Großmacht mehr dar, so wollten sie zumindest Teil einer solchen sein. Sie optierten geschlossen für den Anschluss an das Deutsche Reich.

Die Bevölkerung war zumindest geteilt. Wir haben eine ganze Reihe von Zeugnissen: Die Politiker fürchteten daher eine Volksabstimmung, auch damals schon, weil sie glaubten, sie wahrscheinlich zu verlieren. Die deutschen Imperialisten hatten auch schon gezeigt, wie es aussehen würde: Deutsche Truppen waren unmittelbar bei Kriegsende in Tirol und Salzburg einmarschiert und erst auf Druck der Entente wieder zurück gezogen worden. Die Entente verbot darauf hin formell der Anschluss, weil sie das geschlagene Deutsche Reich nicht auch noch stärken wollten.

1918 – 1922: Verhinderte Revolution; Transformismus; der ökonomisch-soziale Crash

Im Jänner 1918 waren die österreichischen Arbeiter und auch andere Gruppen nicht mehr bereit, den deutsch-habsburgischen Krieg mitzutragen. Eine breite Streik-Bewegung, begin­nend in Wiener Neustadt, schien den Impuls der Oktober-Revolution aufzunehmen. Die Sozialdemokratie kam in Panik. Zusammen mit den Repressions-Kräften des alten Regimes gelang es ihr nochmals, die militanten Arbeiter zu überlisten. Lobend merkte das kaiserliche Kriegsministerium an: „Die sozialdemokratischen Führer [bemühten sich] … mit Erfolg … um die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in den Betrieben“ (zit. bei Hanisch 1994, 273). Und der konservative Historiker hebt die „geschmeidige Taktik“ des Friedrich Adler und Otto Bauer hervor: „Der Primat der Ruhe und Ordnung setzte sich durch“ (a.a.O., 269). Bei Hautmann (1971, 1972) kann man nachlesen, wie sie die Arbeiter mit Räte-Phrasen aus­tricksten. Die Proletarier vertrauten noch immer „ihren“ Gewerkschaften und der Partei. Die Sozialdemokratie aber lernte dazu. Als im Oktober die Fronten endgültig zusammen brachen, wurde sie als erste Partei aktiv. Die Ausrufung der Republik war, später eingestanden, vor allem eine taktische Bewegung, um den Massen eine Revolution vorzuspielen. Einige materi­elle Zugeständnisse an die Bevölkerung sollten ihnen den Eindruck vermitteln: Es tut sich was. Im Übrigen aber – so vor allem Otto Bauer – sind wir nicht imstande, allein etwas zu machen und müssen uns an das Deutsche Reich anschließen. Die „österreichische Revolu­tion“, wie es Bauer 1923 beschönigend nannte, reduzierte sich auf einen Firmenwechsel beim alten Staatsgebäude.

1922: Das Programm der Konservativen – der Crash der Republik

Die Erste Republik musste nicht zuletzt aus dieser Ausgangs-Situation her zum Misserfolg werden. Die politische Klasse und ihre Sprachrohre sprachen von der „Lebensunfähigkeit“ des neuen Österreich und meinten damit ihren Unwillen, eine eigenständige Politik zu betrei­ben. Hier spielten vor allem die Sozialdemokraten eine verhängnisvolle Rolle, und nicht zu­letzt Otto Bauer als Person. „Seine revolutionäre Phraseologie stand in krassem Gegensatz zu seine Zurückschrecken vor jeder entscheidenden Handlung“ (Kaufmann 1978, 147 f.). Die Konservativen dagegen, die tendenziell gegen den Anschluss waren, zogen eine Wirtschafts-Politik durch, welche die Bevölkerung so drangsalierte, dass diese nur mehr nach Erlösung anderswohin schaute.

Der erste Streich war die sogenannte Genfer Sanierung. Bei den Christdemokraten hatte in­zwischen Ignaz Seipel das Sagen, der blutige Prälat – „Man muss schießen, schießen, schie­ßen“ waren seine Letzten Worte auf dem Totenbett. 1922 war es noch nicht so weit. Damals manövrierte Seipel noch in einer Weise, die uns inzwischen bekannt ist. Er benutzte das Aus­land, um seine Politik als unabänderlich notwendig durchzubringen. Die Christlichsozialen, seit 1920 mit den Großdeutschen am Ruder, hatten es bislang vermieden, gegen die Finanz­spekulanten vorzugehen. Dabei trafen die Folgen auch und nicht zuletzt die eigene Klientel. „Was sie [die Regierungen] an der österreichischen Wirtschaft verbrochen haben, konnte nie mehr gut gemacht werden“ (K. Ausch, zit. in: Schausberger 1978, 95). Folge war die Hyper-Inflation. In Genf ließ Seipel sich die Wirtschaftspolitik vorschreiben, die er gerne führen wollte. Diesen Trick spielte in der Gegenwart auch wieder die spanische Regierung, und in bescheidenerem Maßstab spielen ihn alle Regierungen der EU. Der Inhalt dieser Politik ent­sprach wirtschaftlich und sozial dem, was heute die Troika, die „Institutionen“ des Tsipras und Varoufakis, in Griechenland tut.

Diese Parallele fiel auch österreichischen Zeitungen der letzten Jahre auf. In den Salzburger Nachrichten, 18. Jänner 2018: „Als Österreich Griechenland war“, kann es der Journalist nicht lassen, die Phrase von der Nicht-Lebensfähigkeit Österreichs zu wiederholen. – Auch in der Presse, 14. Juli 2015 finden wir es: Als Österreich eine Art Griechenland war“. Die Presse und vor allem ihre Leserbrief-Schreiber kommen nicht umhin, das damalige Österreich und seine Pakttreue lobend hervorzuheben – das Land habe ja keine „linksradikale Regierung“ gehabt. Schließlich findet man diese Phrase auch in einer Broschüre der Grünen Bildungswerkstatt (2014: Als Österreich Griechenland war: Krisenpolitik damals und heute).

Das ging weit über die reine Wirtschaftspolitik hinaus. Die parlamentarische Demokratie wurde faktisch sistiert (Ermächtigungsgesetz, BGBl 844 vom 3. Dezember 1922). Und auch das kennen wir aus der EU, und zwar nicht erst nach der Finanzkrise. Auf dem Weg zum €-Regime hat z. B. Belgien unter seinem Premierminister Jean-Luc Joseph Marie Dehaene1996 die Budgetrechte seines Parlaments – als den Kern der Politik schlechthin – sistiert, um die berüchtigten Maastricht-Kriterien zu erreichen.

Das war in Genf vereinbart worden. Es war ein Notstandsregime. Anstelle des Parlaments trat ein „Außerordentlicher Kabinettsrat“, in dem sich die Regierung die Zwei-Drittel-Mehrheit gesichert hatte (BGBl 842: Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922). Über dem allen schweb­te der Völkerbund-Kommissar Zimmermann als Kontrollor. Damit konnten nun alle Maßnah­men „im Verordnungsweg“, also durch simplen Regierungsbeschluss, durchgesetzt werden. Erinnern wir uns vielleicht hier wieder an Carl Schmitt: Souverän ist, wer über den Ausnah­mezustand bestimmt.

Das entsprechende „Wiederaufbaugesetz“ (BGBl 843) lässt sich nicht an seinen Einzelmaß­nahmen verstehen. Die meisten Einzelmaßnahmen machen durchaus Sinn. Ich möchte einen Vergleich bringen: Regime wie jenes des Xi Jin-ping in China fahren gern Anti-Korruptions-Kampagnen. Jeder einzelne Betroffene verdient seine Behandlung dreimal. Aber es geht um ganz was Anderes. Die Kampagne ist schlicht ein Instrument im Machtkampf. Wichtiger ist noch wer nicht betroffen ist. So auch hier. Man kann das ganze Gesetz samt Anlagen lesen, und wird den Ablauf nicht verstehen. Es geht mehr darum, was nicht im Gesetz steht. Es war ein Crash-Programm, welches bisher der Bevölkerung noch nicht zugemutet worden war. Die Sozialdemokratie aber sprach sich zwar im Parlament scheinheilig dagegen aus, spielte aber mit – sonst wäre es auch gar nicht möglich gewesen. Später, schon im Austrofaschismus, wird dies Schuschnigg (1937) den Sozialdemokraten halb spöttisch, halb empört vorhalten. Die Sozialdemokratie hatte selbst bereits der Regierung Schober vorgeschlagen, die Lebensmittel-Subventionen abzubauen. Diesen Teil griffen die Herrschenden gern auf.

Es gab auch sonst genug, was da an Korruption (z. B. zugunsten der Beamten) aus der Monar­chie in die Republik mitgeschleppt worden war. Den zweiten Teil, der im sozialdemokrati­schen Vorschlag auch enthalten war, nämlich eine expansive Wirtschaftspolitik und eine ge­wisse Beschränkung der Spekulation, dachte sie keineswegs aufzunehmen. Seipel hatte be­reits 1921 zum ersten Mal mit einem Putsch gedroht und konkrete Planungen dafür eingelei­tet. Für ihn war die Genfer „Sanierung“ vor allem eines: Ein Mittel, um den „Revolutions­schutt“ wegzuräumen. Und dabei hatte er Erfolg. Das haben die Zeitgenossen auch begriffen. Es ging das Wort um, und zwar sogar auch in konservativen Zirkeln: Seipel habe sich mit dem Völkerbund-Kommissar einen Vergewaltiger geholt (zit. bei Sandgruber 1995, 361). Für heute ist die Parallele unübersehbar – im Kleinen in Österreich und im Katastrophalen in Griechenland, Portugal, Spanien usw.: Das Programm wurde von Außen in neokolonialer Weise gegen die den Großteil der Bevölkerung durchgesetzt.

Hier gibt es noch ein Detail zu erwähnen. Der Assistent Zimmermanns war ein gewisser Meinoud Rost van Tonningen. Er wird auch wieder Völkerbund-Kommissar bei der Lausanner Anleihe 1932. Damals wurde die wirtschaftspolitische Kur von 1922 nochmals wiederholt. Dieser Rost van Tonningen wird in den österreichi­schen Geschichtsbüchern gewöhnlich schamhaft verschwiegen. Er war ein niederländischer Nazi, der dann in der Besatzungszeit den einheimischen Büttel für die Nazis stellte und die Niederlande an das Deutsche Reich anschließen wollte. 1945 sprang er aus dem Fenster, als ihn die Briten nach der Gefangennahme erkannten …

Erst 1929 hatte man wirtschaftlich das Vorkriegs-Niveau wieder erreicht (Butschek 1985; Kausel 1985) – und dann kam der Zusammenbruch der Creditanstalt und die Weltwirtschafts­krise. Im Jahr 1937 war man wieder bei 90 % des Niveaus von 1913 angelangt. Die Zwi­schenkriegszeit war für Österreich eine verlorene Epoche.

Die Austrofaschisten zerstörten auch formell die Parlamentarische Demokratie. Als 1938 sodann die Nazis einmarschierten, wurden sie von einem Teil der Bevölkerung, und vermut­lich war es die Mehrheit, tatsächlich als Erlöser aus dieser Misere begrüßt.

Das war die materielle Seite. Sie musste noch ideologisch abgedeckt werden, und das war seit Langem vorbereitet.

Großmacht und Nation

Die Idee der Nation war aus unterschiedlichen Wurzeln gewachsen. Herder sah sie noch als Ausdruck einer Selbstbestimmung der Bevölkerung. Doch schon bei Siéyès wurde daraus die politische Organisation des Bürgertums. Aus der Volkssouveränität wurde damit die nationale Souveränität einer aufstrebenden Klasse. Diese Klasse, im Konkreten das französische Bür­gertum, aber strebte bald die eigene Dominanz über Europa an. Ihre Konkurrenten lernten schnell. Und zu diesen Konkurrenten zählte nicht nur John Bull, die Verkörperung des briti­schen Bürgers. Auch die deutschen Juncker erkannten seine Potenz, selbst wenn sie, wie Bismarck, rabiat antinational waren. Sie nahmen dieses Konzept der Großmacht-Nation in ihren eigenen Dienst. Damit war die Nation, sobald sie aus dem Bereich der politischen Theorie heraus trat, die Herrschafts-Konzeption der Klassen und Cliquen an der Macht in den europäischen Großmächten.

Die „kleinen Nationen“

Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieß dieser chauvistische Expansionismus der Großmacht-Nationen zunehmend auf Widerstand. Beriefen sich die nationalistischen Pro­pagandisten des neuen deutschen Reichs auf J. G. Herder – nun, so konnten die Tschechen, Polen, Slowenen sich auf das sog. Slawen-Kapitel bei ihm berufen: Dort hatte der Geschichts-Philosoph freundliche Worte über die Emanzipations-Bestrebungen dieser damals völlig im Schatten stehenden Gruppierungen gesprochen. Er wird sowieso ganz zu Unrecht stets als völkischer Ideologe angeführt. Er war vielmehr eine Art deutscher Rousseau gewesen, der von Fichte zum Nationalisten umgedeutet worden war, und mit Fichte dann von den präfa­schistischen Historikern wie Heinrich Treitschke. Und seitdem gilt er für die vielen Auch-Theoretiker, die sich nicht die Mühe machen, ihn im Original zu lesen, als solcher. Aber das ist hier keineswegs das Problem.

Finnen, Norweger, Baltische Gruppen, auch die Tschechen oder Okzitanen, Bretonen und Korsen und südslawische Nationen in statu nascendi waren periphere Bevölkerungen, poli­tisch wie sozio-ökonomisch, im Europa der deutschen, russischen oder französischen Groß­mächte. In Italien hatte sich Piemont soeben Süditalien und Sizilien unter den Nagel gerissen. Diese Bevölkerungsteile wurden als willige oder auch unwillige Objekte der Ausbeutung betrachtet. Sie sollten sich ducken und an die zentralen Gruppen sprachlich assimilieren, d. h. unterwerfen. Studenten aus diesen Teilen lasen nun auch ihren Herder und ihren Rousseau.

Die Auseinandersetzung zwischen Großmacht und „kleinen Nationen“, zwischen dem chauvi­nistischen Nationaismus / Imperialismus und dem emanzipativen Nationen-Verständnis intern kolonialisierter Gruppen machte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das aus, was man die „nationale Frage“ nannte.

Ich wurde vor rund einem Jahrzehnt einmal nach Oslo eingeladen, um im Rahmen des Norwegischen National­projekts über den Fall Österreich zu referieren. Die Idee dahinter war: Auch Österreich ist oder war eine „kleine Nation“. Allerdings ist dies ein Missverständnis. Die österreichische politische Klasse hat sich nach 1918 keines­wegs als kleine Nation verstanden. Wenn man einen Vergleich sucht, dann bietet sich nicht etwa Norwegen an: Norwegen hat sich 1809 / 1905 in einem Unabhängigkeits-Konflikt auf eine ähnliche Weise gegen eine Groß­macht – oder das, was davon geblieben war – gewandt, wie die Tschechen vor 1918 gegen das „deutsche“ Zen­trum Wien. Wenn man einen Vergleich anstellt, müsste er mit Schweden getroffen werden. Und das könnte tatsächlich aufschlussreich sein, in den Parallelen wie in den Unterschieden.

Für die schwedische Politik war 1809 und nochmals 1903/05 etwa das gewesen, was 1918 für den deutschspra­chigen Teil des Habsburgerstaats wurde: der Abschied von der Großmacht. 1809 wurde zum Anstoß, sich auf die eigenen inneren Angelegenheiten zu konzentrieren. Man hat darauf verwiesen, dass dies den Erfolg Schwedens bis zur Gegenwart ausgemacht hat. Das ist geschönt. Der Konflikt mit Norwegen zeigt: Die politische Spitze und ihre Unterstützer waren keineswegs einfach gewillt, diesen Statusverlust, wie man es sah, hinzunehmen. Als Norwegen schließlich nicht mehr zu halten war, waren diese Kreise (unter ihnen Sven Hedin) durchaus gewillt, einen Krieg zu riskieren. Lediglich der Druck von Außen verhinderte dies. Dafür mussten die Norweger auf britischen Druck hin einen König akzeptieren, und dort wiederum kam dies den Eliten und konservativen Kreisen sehr zupass. Fritjof Nansen etwa war einer jener Personen, der diesen Druck von Außen bestellt hatte…

Es ist interessant, dass man bei der Recherche nach Studien zur schwedischen Nation nur recht vereinzelt fündig wird. Dagegen gibt es in Fülle Arbeiten zu Norwegen und Finnland. Diejenigen, welche sich ihrer Identität – und d. h. ihrer Macht – sicher sind, haben kein Bedürfnis nachzufragen. Dagegen müssen sich die Anderen, die Abhängigen und Peripheren, stets aufs Neue ihrer Existenz vergewissern.

Deutschösterreichs Eliten und politische Klasse weigerten sich, sich von der Großmacht-Illu­sion zu verabschieden. Sie waren großteils sogar bereit, auf die eigene lokal-regionale Macht­ausübung zu verzichten, wenn man sie nur Teil der deutschen Großmacht sein ließ. Das erinnert akut an die Gegenwart, und nicht nur in Österreich. Auch heute ist die große Mehr­heit der politischen Klasse bereit, sich einer supranationalen Bürokratie unterzuordnen – wenn es um um die Grundfrage „wer – wen“ geht. Allerdings traf dies damals nicht für alle zu. Die harten Konservativen, verkörpert von Seipel, bestanden auf ihre Klassen- und Ideen-Souverä­nität.

Volks-Souveränität – nationale Souveränität

Die Souveränität war ein Konzept gewesen, welches Theologen (Jean Bodin) aus der All­macht Gottes abgeleitet und auf den Irdischen Gott, den Leviathan, den Staat projeziert hatten. Doch die Ideologen der neu aufsteigenden Schicht, des Bürgertums, wanden ihnen dieses Instrument schnell aus den Händen. Die Gesellschaftsvertrags-Theoretiker nahmen es für ihre Klasse in Anspruch und gleich auch noch für sich selbst, die Intellektuellen als Ver­treter des Allgemein-Interesses. Aus dem personalisierten monarchischen Souverän war damit die Volkssouveränität geworden. Das „Volk“ allerdings, das waren die neuen Besitzenden, nicht etwa Alle. Um dies auch klar zu stellen, prägte man den Begriff der Nation und verstand darunter nur die politisch Ermächtigten. Am Beginn der Französischen Revolution stellte Siéyès klar: Der Dritte Stand, das Bürgertum, ist „die ganze Nation“. Sie hat die nationale Souveränität in den Händen.

Aber zu dieser Zeit stieg nicht nur hinter dem Bürgertum eine neue Klasse auf. Diese Klasse, die Plebeier und Proletarier, begannen auch den Kampf um Mitbestimmung und Demokratie. Die nationale Souveränität sollte – wieder – zur Volkssouveränität werden, und das Volk um­fasste nun auch den Vierten Stand. Nicht so klar war noch, ob dazu auch Frauen und nicht nur Männer gehörten; aber das ist ein anderes Thema.

Diese neue Klasse allerdings war in diesem Punkt unsicher. Ein Teil ihrer Sprecher orientierte sich darauf, Teil der Nation zu werden. Ein anderer Teil aber, die marxistische Strömung, ver­warf zumindest anfangs und in der Theorie die Nation als Rahmen. Sie definierte sich und das Proletariat eindeutig und ausschließlich international und internationalistisch. Die politische Praxis sah schnell anders aus. Es ist höchst kennzeichnend, dass die Erste Internationale schnell aufgelöst wurde. Die Zweite Internationale, die sich auch noch marxistisch definierte, wurde bereits von nationalen Sozialdemokratien gegründet.

Doch je nationaler die Sozialdemokratie wurde, umso internationalistischer gaben sich die Eliten, das Kapital und seine Intellektuellen. Die Sozialdemokratie wurde nicht nur national, sie wurde zeitweise chauvinistisch. National musste sie werden, wenn sie den Kampf um die Zustimmung nicht nur der Arbeiter, sondern auch der sonstigen Unterschichten mit Aussicht führen wollte. Chauvinistisch aber wurde sie, weil ihre Führer als traditionelle Intellektuelle in die Großmacht verliebt waren. Wir können dies schon an Engels beobachten. So vertraten die Sozialdemokraten nicht das Konzept der „kleinen“, der emanzipativen und demokrati­schen Nation. Sie rutschten sofort auf die Position der chauvinistischen Großmacht-Nation. Beim Beginn des Ersten Weltkriegs trat dies grell ins Licht. In der Zwischenkriegszeit kriegte sie sich rhetorisch wieder ein. Nun rechtfertigte die SPÖ ihren deutschen Nationalismus mit einer marxistischen Phraseologie vom großen Markt und der Lebensunfähigkeit des kleinen Landes.

Nach dem Zweiten Weltkrieg aber beschloss die Sozialdemokratie resolut, sich denen zur Verfügung zu stellen, die wirklich verfügten. In der BRD ist dafür Godesberg der Slogan schlechthin. Wir könnten aber genauso gut sagen: Maastricht. Ob da die Namen Wehner oder Brandt und Schmidt stehen, ist von geringer Bedeutung. In Österreich dauerte die Anpassung geringfügig länger. Hier ist Kreisky die beherrschende Figur. Er wurde zum Säulen-Heiligen der Mills-Liberalen. Aber aus heutiger Sicht müsste eigentlich ein zentraler Punkt störend wirken: Kreisky war von seiner ganzen Orientierung her Österreicher. Darüber allerdings schauen jene großzügig hinweg, die sich sonst nicht genug tun können in der „historisch exakten Bewältigung“ der Vergangenheit.

Schlussfolgerungen

Wir bezeichnen uns gelegentlich als Souveränisten. Da sollten wir vorsichtig sein. Nicht nur ist „Souveränität“ ein der Theologie entlehnter Fetisch-Begriff; er verdunkelt somit mehr als er erhellt. Er verleitet auch politisch dazu, uns völlig auf die nationale Ebene zu konzentrie­ren.

Wie gefährlich dies sein kann, demonstriert uns Domenico Losurdo. Dieser italienische Neostalinist verschleiert seinen Neoliberalismus mit nur mehr dünnen neomarxistischen Worthülsen. Die Linken im Westen seien pro-imperialis­tisch, weil sie einseitig die Kämpfe der chinesischen Arbeiter für höhere Löhne unterstützten… Die chinesi­schen Arbeiter sollten ihre Bedürfnisse denen der Exportnation unterordnen (vgl. Losurdo 2017, auch 2019). Solche Ungeheuerlichkeiten wagt heute ein Propagandist des deutschen Imperialismus noch nicht zu schreiben. Wir müssen über solche Stellungnahmen reden – allerdings nicht an dieser Stelle!

Die „nationale Frage“ – man achte auf die altmodische Phrasierung! – und die „nationale Technologie“ als absoluten Angelpunkt zu betrachten führt zu leicht in diese Richtung. Damit bereiten wir wieder den Globalisten den Weg, diesen Sprechern der Eliten (etwa Albrow 1998). Aber die sind politisch sowieso die Stärkeren.

Die Nation und die nationale Identität ist eine historisch begrenzte Struktur und Erscheinung. In diesem Punkt haben die Mills-Liberalen von heute zweifellos recht. Sozialisten wussten dies bereits vor 1 ½ Jahrhunderte. Aber darum geht der Streit um die Nation heute keines­wegs. Es geht um die Frage von Selbstbestimmung und von demokratischer Gestaltung. Diese beiden Fundamentalwerte kamen unter dem massiven Ansturm der neuen, der neolibe­ralen Ideologie recht plötzlich und unerwartet ins Wanken. 1918 und 1938 fand der Angriff noch im Namen einer mystischen deutschen Nation statt, zu der die Österreicher gehören sollten – „ob sie das wollen oder nicht“ (FAZ vom 28. September 1983). 2008 und 2018 hat sich der Ton geändert. Aber das Ziel blieb dasselbe.

Einige Literaturverweise

Albrow, Martin (1998), Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im Globalen Zeitalter. Frankfurt / M.: Suhrkampp.

Anholt, Simon (2007), Competitive Identity. The New Brand Management for Nations, Cities and Regions. Houndsmills, N.Y.: Palgrave Macmillan.

Ardelt, Rudolf G. (1986), „Drei Staaten –Zwei Nationen – Ein Volk“ oder die Frage: „Wie deutsch ist Österreich?“ In: Zeitgeschichte 13, 253 – 268.

Bauer, Otto (1976 [1923]), Die österreichische Revolution. In: Werke, Bd. 2. Hg. von Hugo Pepper. Wien: Europa Verlag.

Berger, Peter (2000), Im Schatten der Diktatur. Die Finanzdiplomatie des Vertreters des Völkerbun­des in Österreich, Meinoud Marinus Rost van Tonningen, 1931 – 1936. Wien: Böhlau.

Butschek, Felix (1985), Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Wien/Stuttgart: WIFO / G. Fischer.

Hanisch, Ernst (1994), Der lange Schatten des Staates. Wien: Ueberreuter.

Hautmann, Hans (1971), Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs. Wien: Europa Verlag.

Hautmann, Hans (1972), Rätedemokratie in Österreich 1918 – 1924. In: ÖZP 1, 73 – 88.

Heer, Friedrich (1981), Der Kampf um die österreichische Identität. Wien/Köln/Graz: Böhlau.

Hroch, Miroslav (2000 [1985]), Social Preconditions of National Revival in Europe. A Compara­tive Analysis of the Social Composition of Patriotic Groups among the Smaller European Nations. New York: Columbia University Press.

Hroch, Miroslav (2001a), Die kleinen Nationen und Europa. In: Acta Historica Tallinnensia 5, 7 – 15.

Hroch, Miroslav (2001b), Der Aufbruch des Nationalismus im postkommunistischen Europa. In: Timmermann, Heiner, Hg., Nationalismus in Europa nach 1945. Berlin: Duncker & Humblot, 93 – 99.

Kaufmann, Fritz (1978), Sozialdemokratie in Österreich. Idee und Geschichte einer Partei. Von 1889 bis zur Gegenwart. Wien: Amalthea.

Kausel, Anton (1985), 150 Jahre Wirtschaftswachstum in Österreich und der westlichen Welt im Spiegel der Statistik. Wien: Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei.

Kausel, Anton (1968), Österreichs Wirtschaft 1918 – 1968. Wien: Verlag für Geschichte und Politik.

Kausel, Anton / Nemeth, Nandor / Seidel, Hans (1965), Österreichs Volkseinkommen 1913 – 1963. Wien: WIFO.

Losurdo, Domenico (2017), China und das Ende der ‚kolumbianischen Epoche’. In: Marxistische Blätter, Heft 3, 52 – 61.

Losurdo, Domenico (2010), Eine aufschlussreiche Reise nach China: Bemerkungen eines Philosophen. In: Marxistische Blätter, Heft 6,

Sandgruber, Roman (1995), Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Wien: Ueberreuter.

Schausberger, Norbert (1978), Der Griff nach Österreich. Der Anschluß. Wien: Jugend und Volk.

Schuschnigg, Kurt (1937), Dreimal Österreich. Wien: Thomas Verlag Jakob Hegner.

Italien: EUro-Regime schwer geschlagen

Kurzthesen zum Wahlausgang vom 4. März 2018

von Wilhelm Langthaler

1) Kein Renzusconi

Die zwei zentralen Parteien des Systems, PD (Partito Democratico, ehemals die KP) und Forza Italia, die direkten Repräsentanten des Wirtschaftsliberalismus, wurden schwer geschlagen. Sie haben 14 Prozentpunkte verloren und kommen zusammen nur mehr auf weniger als ein Drittel der Stimmen. In den unteren Schichten sind sie noch schwächer. Damit ist die von den Eliten, den italienischen und den europäischen, bevorzugte Große Koalition, die de facto die letzten Jahre bestand, ohne dass sie gewählt worden wäre, unmöglich. In diesem Sinn sind die Wahlen eine Fortsetzung des historischen Neins beim Verfassungsreferendum 2016, bei der die autoritäre Absicherung des EU-Neoliberalismus mit großer Mehrheit abgelehnt wurde.

Hier die Resultate mit grafischer Aufbereitung durch das Innenministerium und durch La Repubblica.

2) Tiefe Spaltung in Nord und Süd

Doch der Protest dagegen hat sich je nach dem soziopolitischen Kontext grundlegend anders geäußert. Im exportindustriellen Norden hat sich die rechte Lega mit einer extrem chauvinistischen und polizeistaatlichen Kampagne gegen Immigranten festgesetzt, auch in den Unterklassen. Insgesamt kam sie auf 17% der Stimmen, im Norden zu relativen Mehrheiten.

Währenddessen wurde die M5S im dem Verfall preisgegebenen Süden zur mit Abstand stärksten Kraft, vielfach mit über 40%, in Neapel mit einer satten absoluten Mehrheit. Ihre Argumente sind oft mittelstandsdemokratisch (mit Internetblase) und sie nimmt jedenfalls den Platz der Linken ein. Sie ist klar für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und gegen den Ultraliberalismus.

Beide haben eine gewisse Rhetorik gegen den Euro und die EU geführt und gleichzeitig gegenüber den Eliten klargemacht, dass sie es nicht ernst meinen. Und sie treten für die Begrenzung der Immigration auf (wenn auch auf unterschiedliche Weise). Sie treffen damit die Stimmung in den unteren Klassen.

3) Protest: ernster Kern, mit systemischen Antworten

Die Lega war immer eine systemische Kraft und mit der Rechten um Berlusconi alliiert. Sie vertritt die klassischen Themen der Rechten und ist zudem noch weitgehend wirtschaftsliberal (flat tax, etc). Beim Ruf nach dem starken Staat ist jedoch durchaus auch ein Element des politischen Eingriffs in die Wirtschaft enthalten, wenn auch in der Tendenz für das Kleinunternehmertum. Die signifikante Änderung der Parteilinie unter Salvini besteht darin, dass sie den Nord-Chauvinismus gegen einen italienischen Nationalismus ausgetauscht haben – auch wenn man ihr das im Süden nicht abnimmt. Ein plebejisch-sozialer Flügel so wie bei der FN in Frankreich ist kaum vorhanden.

Bei den 5-Sternen stehen die Dinge anders. Peppe Grillo führte jahrelang Kampagne gegen die „Kaste“, schränkte das aber plakativ-simplifizierend auf die Politiker ein. Damit bleibt die Kritik an der Oberfläche und lässt das sozioökonomische System aus dem Schussfeld. Eine Zeit lang forderten sie sogar ein Referendum über den Euro, bekamen dann aber kalte Füße. Sie haben sich immer wieder gegen den ungezügelten Liberalismus und für staatliche Intervention ausgesprochen. Die Mobilisierung von unten lehnen sie ab. Sie passt nicht in ihr legalistisch-parlamentarisches Weltbild.

Der Spitzenkandidat De Maio gehört jedoch dem rechten, Eliten-nahen Flügel an. Er hat das Dogma Grillos aufgeweicht, nach dem die Cinque Stelle keine Koalition mit der Kaste eingehen würden. Zudem hat er im Wahlkampf signalisiert, dass er sich für die Herrschenden dienstbar machen würde. Dennoch, diese bleiben skeptisch, denn die Erwartungen der Wähler gehen in eine andere Richtung.

Es ist klar, dass die M5S nicht in der Lage sind auch nur das Geringste an der sozialen Katastrophe zu ändern, denn das würde einen heftigen Konflikt und schließlich Bruch mit dem neoliberalen EU-Regime erfordern. Dazu sind sie weder fähig noch bereit. Klar ist dieser Zusammenhang für uns, aber für die große Mehrheit der Wähler ist es das keineswegs.

Fassen wir die zentralen Punkte der Protestwahl von unten zusammen: a) Der Staat muss gegen das Chaos und den Niedergang, den die Globalisierung und der Ultraliberalismus verursacht haben, in die Wirtschaft intervenieren. b) Die von Euro und EU diktierten Regeln sind wesentliche Ursache der Krise. Man muss sich gegen sie schützen und die nationale Souveränität möglichst zurückgewinnen. c) Die Immigration muss begrenzt werden.

Klar reicht das als Programm nicht aus und ist die Wendung vom legitimen Schutz des Arbeitsmarktes zum antidemokratischen Chauvinismus leicht gemacht. Aber im Kern ist es ein Programm, an dem man ansetzen kann und muss. Es geht in die richtige Richtung und zeigt abermals an, dass der Liberalismus die Hegemonie verloren hat.

4) Moslems und Immigranten als Feindbild

Die Immigration ist ein Symbol der Globalisierung. Sie eignet sich hervorragend zur Ablenkung vor der Verantwortung der Eliten für die soziale Katastrophe. Der kulturell-identitären Konflikt zwischen den Armen – den autochthonen auf der einen und den eingewanderten auf der anderen – kann nur gedämpft und verhindert werden, wenn eine umfassende Antwort gegen die Globalisierung gegeben wird, nämlich die politische Kontrolle über die Wirtschaft im Rahmen der Nationalstaaten. Die Bewegung von Waren, Kapital und Arbeitskraft muss dem politischen Willen der Mehrheit unterworfen werden. Nur so kann die wachsende soziale Ungleichheit innerhalb und zwischen den Staaten gedämpft und damit auch die Ursache für die Migration und die Grundlage für die identitäre Mobilisierung bekämpft werden. Nur ein demokratischer Souveränismus, der einerseits den Zugang zum Arbeitsmarkt reguliert, andererseits die Einheit der Arbeitenden gegen die Eliten herstellt, kann die identitären Konflikt zwischen den Armen beenden.

Die Forderung nach offenen Grenzen ist voll im Sinne der liberalen Eliten und treibt die Spaltung der Armen weiter voran. Denn er forciert den Kampf um Arbeitsplätze und Sozialleistungen.

5) Totale Leere auf der Linken

Es ist ein gutes Zeichen, dass die Regimelinke am Sterben ist. Sie war für drei Jahrzehnte das Herz des neoliberalen Systems. Die Renzi-Medienblase hat nur ganz wenige Jahre angehalten.

Aber auch für die radikale Linke sind die Wahlen eine Katastrophe mit dem schlechtesten Ergebnis in ihrer Geschichte. Grund dafür ist, dass sie als Anhängsel der globalistischen Eliten erscheint (und es letztlich auch ist). Sie ist weder bereit noch fähig, am vom Volk geforderten Programm anzusetzen und es zu entwickeln. Der Einstieg wäre klar: Partei des Bruchs mit Euro und EU und für einen keynesianischen Linkssouveränismus, der den Zugang zum Arbeitsmarkt schützt und damit wirksam der identitären Spaltung entgegentreten kann. Und nicht zu vergessen, die radikale Linke spricht gerne phrasenhaft von Klassenkampf von unten. Doch derzeit ist das eine Illusion, was sich deutlich am Fall Alitalia zeigt. Es geht nur mittels Wiederverstaatlichung, was nach EU-Regeln streng verboten ist. Es bedarf daher einer politisch-staatlichen Lösung, der extremistische neoliberale Rahmen muss zerbrochen werden. Daher auch richtigerweise die überragende Bedeutung der staatlichen Intervention.

Leider ist es bisher nicht gelungen, die Systemsperre mit einem linkskeynesianischen und souveränistischen Projekt zu durchbrechen, das die Lehren aus dem griechischen Desaster ziehen würde. Platz dafür wäre. Haupthindernis dazu ist allerdings die radikale Linke selbst, ganz abgesehen von der Panzerung des Systems (Medien, materielle Mitteln, Kulturindustrie, etc.)

6) Regierungsbildung als Quadratur des Kreises

Die Elitenparteien sind in der klaren Minderheit. Und nicht nur das, sie sind untereinander tief zerstritten, auch wenn das teilweise auch Bestandteil der Politshow ist. Die Formierung einer Regierung im Dienste der Euro-Elite wird also äußerst schwierig werden.

Als Wahlsiegerin mit einem Drittel der Stimmen, ca. genauso viel wie PD und Forza Italia zusammen, kommt den Fünf Sternen natürlich die zentrale Rolle zu. Für die Herrschenden drängt sich eine Koalition M5S mit PD auf, wobei das Kommando bei der zertrümmerten PD liegen muss. Ob De Maio und Grillo ihnen wirklich die Dorftrottel spielen? Das bezweifeln viele, auch die Herrschenden selbst.

Doch was bleibt sonst? Die PD mit der Rechten unter Führung von Salvini und der Lega? Schwer vorstellbar und eine Steilvorlage für den weiteren Aufstieg der Cinque Stelle.

Wir wollen hier mit den Spekulationen nicht weitermachen. Die italienischen Eliten waren immer gut darin, irgendeine unerwartete Lösung aus dem Hut zu zaubern. Nämlich um den Preis, dass es keine wirkliche Lösung ist.

Eins ist jedenfalls unumgänglich: Das einfache Volk, das die Fünf Sterne gewählt hat, will und soll diese demnächst auf die Probe stellen. Spaltung und Zerfall sind vorprogrammiert. Darin liegt sowohl für die Eliten als auch für die bisher stimmlosen Linkssouveränisten eine Chance.

ANSCHLUSS 1918, 1938 UND EU 2018: Die Sehnsucht nach der Großmacht und das globale „Weltsystem“ seinerzeit und heute

Wenige Monate vor dem totalen Zusammenbruch der Mittelmächte schwadronierten in Wien Politiker und ihre intellektuellen Sprachrohre noch vom „Siegfrieden“. Doch 1918 war dies nicht von einer Terror-Propaganda des Regimes erzwungen wie 1945. Diese Redner und Schreiberlinge glaubten Ende Juli 1918 noch wirklich, was sie sagten. Als dann Ende Septem­ber tatsächlich alles zusammenbrach und selbst ein Blinder dies nicht mehr übersehen konnte, waren sie fassungslos.

Es war der unbedingte Glaube an die Großmacht, welcher sie bis zuletzt und darüber hinaus in ihrem Wahn gefangen hielt. Nun aber brachen ringsum alle Bestandteile des verrotteten Habsburgerstaats weg. Da versuchte die deutschsprachige politische Klasse, sich schleunigst an eine andere Großmacht anzuschließen. Die Abgeordneten des seinerzeitigen Reichsrats beschlossen einhellig: „Deutschösterreich ist ein Teil der Deutschen Republik“ (StGBl 5). Das war die eine, eigentliche Wurzel des Anschlusses zwei Jahrzehnte später.

Den neuerlichen deutschen Großmachtambitionen und in ihrem Schlepptau den österreichi­schen Politikern wurde mit dem Friedensvertrag von 1919 ein Riegel vorgeschoben. Ein Anschluss hätte eine Stärkung Deutschlands bedeutet. Dazu waren die Sieger mit gutem Grund nicht bereit. Die Mittelmächte hatten immerhin den Krieg vom Zaun gebrochen. Dieses Deutsche Reich wurde 1918, entgegen den Legenden danach, an denen auch Keynes kräftig mitwob, politisch eigentlich recht schonend behandelt.

Und noch eine Legende muss hier angesprochen werden: Die Österreicher seien 1918 ff. einmütig für den Anschluss gewesen. Es war die politische Klasse in Österreich, nicht die Österreicher. Otto Bauer, damals Außenminister, sagte dies sehr deutlich. Eine Volksab­stimmung über den Anschluss fürchtet er zu verlieren (vgl. Reiterer 1993).

1938 hatte sich die Situation geändert. Der Austrofaschismus hatte die österreichische Wirt­schaft durch eine deflationäre Politik ruiniert. Nach dem kurzen und von der Sozialdemo­kratischen Partei nicht ernsthaft unterstützten Aufstand der Arbeiter 1934 hatte er die Sozialdemokraten unbarmherzig verfolgt. Als nun die Nazis einmarschierten, hätten sie vermutlich auch eine „saubere“ Volksabstimmung gewonnen. Aber das widersprach ihrer Ideologie, sie wollten 100 %. Vor die Wahl zwischen Austrofaschisten und Nazis gestellt, hätte ein erheblicher Teil der Sozialdemokraten für Letztere gestimmt. Man braucht nur zu lesen, was Helmer und Olah über die Stimmung bei den Sozialdemokraten schrieb.

Die zweite Wurzel des Anschlusses war somit die ruinöse Wirtschaftspolitik von Dollfuss und Schuschnigg und deren Kumpanen. Ihre Folgen, u. a. die horrende Arbeitslosigkeit eines Viertels der Erwerbstätigen, wurden den Arbeitern aufgebürdet.

Aber dies Alles spielte sich auf einer bestimmten Folie ab. Die Sozialdemokraten waren seit ihrer Gründung deutschnational. Viktor Adler war Teil des deutschnationalen Kreises um Schönerer gewesen und daraus erst durch dessen immer rabiateren Antisemitismus vertrieben worden. Höchste Funktionäre der Sozialdemokraten kamen entweder direkt aus der deutsch­nationalen Bewegung (Engelbert Pernerstofer) oder aber wollten ihre jüdische Herkunft durch eine besonders (deutsch-) nationalistische Haltung überkompensieren, wie Otto Bauer selbst, oder Friedrich Austerlitz mit seinem skandalösen AZ-Artikel am Beginn des Kriegs. Diese Haltung aber war durch den Großmacht-Chauvinismus bedingt, wie wir ihn mustergültig z. B. bei Friedrich Engels finden, nicht aber in gleicher Weise bei Marx, und das ist wichtig. Der „deutsche“ Polit- und Kultur-Chauvinismus, der bei Bauer so ungustiös ausgeprägt ist, war da nur noch das Obershäubchen. Der alte Großmacht-Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der sich mit der gemeinsamen Sprache zu rechtfertigen glaubte, war also die ideologische Grundlage dieser Politik gegen ein selbständiges Österreich.

Aber da ist ein wesentlicher Punkt zu ergänzen. Die Christlich-Sozialen waren 1918 überrum­pelt worden. Sie waren ideologisch in der Tradition des Seipel’schen Katholizismus im Grund Anti-Nationalisten. Das hinderte die meisten unter ihnen nicht, sich auf die schmutzigsten Seiten des Deutschnationalismus einzulassen. Lueger und Vogelsang kultivierten den Anti­semitismus. Aber Seipel hatte begriffen: Nation beruft sich auf die Volkssouveränität und ist somit eine demokratische Struktur. Der Nationalismus der „kleinen“ Nationen (Hroch) mit dem Ruf nach Selbstbestimmung ist eine Demokratie-Bewegung. Beides ging diametral gegen das Christlichsoziale Konzept einer von Kirche und Dynastie autoritär zu gängelnden Bevöl­kerung. Und mit der Dynastie versuchten sie, den Begriff „Österreich“ auf diese reaktionären vornationalen Inhalte festzulegen. In diesem Sinn hat Otto Bauer 1924 in seiner „Österrei­chischen Revolution“ doch recht. In der Monarchie war „Österreich“ ein antinationales Projekt der Reaktion. Doch bei ihm war diese Einsicht vor allem eine Rationalisierung seines deutschen Nationalismus mit der Orientierung auf die Großmacht. Die Sozialdemokratie hatte dieses reaktionäre Projekt auch in der Monarchie nicht bekämpft. Karl Renner wollte es unbedingt retten, und Bauer stimmte da mit seiner Idee einer „Personalautonomie“ statt einer Selbstbestimmung zu. Es ist derselbe Gedanke, den heute Van der Bellen verfolgt, wenn er erklärt: „Österreich ist eine Minderheit in der EU.“

Die Christlich-Sozialen waren in der Ersten Republik überdies auf die Unterstützung der Großdeutschen angewiesen. Daher definierten sie die Österreicher entgegen einer besseren Einsicht einer kleinen Minderheit unter ihnen (E. K. Winter und sein Kreis) als Deutsche. Sie seien die „besseren Deutschen“ – diese Phrase griff der neue Kanzler der Industriellenvereini­gung, Kurz, in seiner Regierungserklärung vor Weihnachten wieder auf.

Damit war der Anschluss ideologisch und politisch von den herrschenden Kräften und von einem gewichtigen Teil der Opposition vorbereitet. Als die Kommunisten anfingen, dem entgegen zu arbeiten (Alfred Klahr), war es zu spät.

Der Anschluss von 1938 war durch die Bekämpfung der nationalen Eigenständigkeit Österreichs und den Verzicht auf einen selbstbewussten nationalen Aufbau dieses Staates vorbereitet und tatsächlich unabwendbar geworden.

Der Faschismus war eine gesamteuropäische Bewegung. Georgi Dimitroff allerdings fiel seinem eigenen Vulgär-Marxismus zum Opfer, als er ihn 1935 rein instrumentell definierte – als offene terroristische Diktatur des (Finanz-) Kapitals. Doch wäre er nur das, dann wäre es völlig unerklärlich, dass sich in Italien, im Deutschen Reich, aber auch in den peripheren Gesellschaften des restlichen Europas von den Baltischen Staaten über Griechenland bis zu Spanien die Faschisten doch auf einen erheblichen Teil ihrer jeweils nationalen Bevölkerun­gen hatten stützen können. Die griffen nämlich ein Anliegen der Bevölkerung auf.

Der konservative und dann in den „Revisionismus“ abgeglittene – das bedeutet in der Zeitge­schichte: faschistoide – Historiker Emil Nolte hat versucht, solche Strömungen wie den Austrofaschismus als Pseudofaschismus vom Nazismus abzuspalten. Damit wurde dieser auch verharmlost. Aber der Bauern- und Provinzfaschismus des Engelbert Dollfuß war ein genuiner Faschismus. Allerdings war er an die österreichischen Verhältnisse angepasst. Der Dualismus zwischen Wien und den Industriegebieten einerseits, dem (groß-) bäuerlichen Niederösterreich und den zurückgebliebenen Alpenländern andererseits zusammen mit der ideologischen Abstützung auf den Katholizismus brachte diese besonders schäbige Reaktion hervor. Der Konflikt mit der deutschen Variante des Faschismus war teils auf dessen Imperialismus zurück zu führen. Teils kam er aus einer Vernachlässigung bürgerlicher Interessen durch die christlichsoziale Politik. Mit einer eigenständigen nationalen Politik hatte dies nichts zu tun. Die Herrschaften wie G.-K. Kindermann, welche den Austrofaschisten solche Motive zuschreiben, sind späte und leicht durchschaubare Apologeten dieses Regimes. Schuschnigg schließlich versuchte erfolglos, beide Strömungen unter einen Hut zu bringen.

Die Nazis dagegen waren die Fortsetzung des Wilhelminismus und des Bismarckianismus und deren nationalliberalen Basis. Aber sie hatten ein populistisches Element, sie verschoben diesen Imperialismus hin zum Plebeischen. Dazu diente die Berufung auf das „deutsche Volk“. Den Widerspruch zwischen Restauration („National …“) und Appell an die Unter­schichten („…sozialistische Arbeiter…“) wollten sie mit dem Führerprinzip lösen. Gerade für die Kleinbürger, aber auch für manche Arbeiterschichten hatte dies einen gewissen Charme. Da mit dem Rüstungs-Keynesianismus auch die Arbeitslosigkeit in Österreich binnen weniger Monate schnell sank („ordentliche Beschäftigungspolitik“), war die Zustimmung anfangs hoch. – Und heute ist der Wilhelminismus in Deutschland nicht im geringsten aufgearbeitet: In Hunderten von deutschen Städten stehen Bismarck-Denkmäler, und die ach so aufgeklärten und von österreichischen Intellektuellen bewunderten Deutschen denken nicht im geringsten daran, sie abzureißen.

Aber Österreich war durchaus als peripheres Land im großen Reich, der europäischen Super­macht, gedacht. Das merkten die Österreicher bald, sogar fanatische Nazis unter ihnen. Als dann auch die Niederlage greifbar heranrückte, stand nicht nur bei den künftigen Siegern (Moskauer Deklaration), sondern auch bei vielen künftigen österreichischen Politikern fest: Das neue Österreich sollte wieder selbständig sein. Adolf Schärf, erster Vizekanzler nach 1945 und sodann Bundespräsident, beschreibt dies in seinen Erinnerungen (Schärf 1955, 20): Als ihn ein deutsche Sozialdemokrat, Wilhelm Leuschner, 1943 aufsuchte und Vorschläge für das künftige Vorgehen zu machen begann, habe er, Schärf ihm plötzlich spontan widerspro­chen: „Ich unterbrach meinen Besuch unvermittelt und sagte: ’Der Anschluß ist tot. Die Liebe zum Deutschen Reich ist den Österreichern ausgetrieben worden.’“ Das kann eine Konstruk­tion im Nachhinein sein. Aber das würde nichts daran ändern: Ein führender Politiker hatte das Bedürfnis, sich nun, 1955, zu einem aufrechten Österreicher zu stilisieren. Das galt frei­lich nicht für alle. Da waren die Sozialdemokraten wie Friedrich Adler, die nur Hass auf dieses Österreich empfanden. Und da war, wichtiger, der unvermeidliche schmutzige alte Karl Renner, nun Bundespräsident. Dieser Großmeister des politischen Opportunismus deklarierte sich zwar auch für die Unabhängigkeit. Er konnte sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: Aber bis zur nationalen Eigenständigkeit wird es wohl noch eine Zeitlang dauern … (Reiterer 1986 und 1996).

Zunächst schien es allerdings allen maßgeblichen Kräften klar: Dieses neue Österreich wird seine selbständige Existenz als Kleinstaat als Atout betrachten. Auf das ruinierte Deutschland war man nicht mehr neugierig. Man äußerte sogar Gebietsansprüche (im Kleinen Deutsche Eck) und übte sich ein wenig in Preußenbeschimpfung: Figl erinnerte daran, dass die Preußen ja kein „germanisches“, sondern ein „halbasiatisches“ Volk gewesen seien… Und links tat Ernst Fischer einen bedeutenden Schritt hinter Alfred Klahr zurück. Er stieg in seiner Begrün­dung der Nation Österreich ganz auf die konservative Ideologie und Otto Bauers „National-Charakter“ ein (Fischer 1948).

Dann aber wurde erst die EGKS und sodann 1957 / 1958 die EWG gegründet. Bereits da rührten sich auf ÖVP-Seite die ersten Begierden. Der steirische Landeshauptmann Krainer sprach davon, man wolle nicht „in der Neutralität verhungern“, und Raab übernahm dies. Diese Stimmen verstummten allerdings bald, jedenfalls in der Öffentlichkeit. Die Entwick­lung Österreichs war zu offensichtlich besser als im Westen, die Wachstumsraten höher als die deutschen.

Aber diese Kräfte verschwanden nicht. Sie warteten ab. Ihre Stunde sahen sie gekommen, als das Sowjetsystem zusammenbrach. In diesem Moment trat eine Allianz von neokonservativen bzw. wirtschaftspolitisch neoliberalen Kräften und globalistischen Intellektuellen hervor. Es gelang ihnen, die politische Agenda im Österreich seit den 1980ern zu bestimmen.

Das Ende der Aufbau-Periode samt deren hohen Wachstumsraten brachte auch das Ende des Nachkriegs-Arrangements der Rücksicht auf die arbeitenden Schichten. Es war den Eliten stets lästig gewesen und hatte ihnen zuviel gekostet. Aber man fürchtete „den Kommunis­mus“. Als nun die USA auf die Bedrohung ihrer globalen Dominanz – Wallerstein hatte sogar schon von einem Ende des US-Hegemonie-Zyklus gesprochen – mit einer aggressiven Wende reagierten, sahen diese politischen und ökonomischen Interessen in Westeuropa: Das führte nicht zum Aufstand der Massen. Das Vorbild wirkte, und die neoliberale Reaktion setzte in voller Wucht ein. In Österreich versuchten die Sozialdemokraten kurze Zeit, den keynesiani­schen Kurs zu halten („Austrokeynesianismus“). Doch die Umstrukturierung der Weltwir­tschaft („Ölschocks“ 1973 und 1979) kamen ihnen ebenso in die Quere wie ihre interne Uneinigkeit und Unschlüssigkeit.

Dann kam ein Angriff seitens der hegemonialen intellektuellen Kreise auf die politische Grundlage überhaupt. Die Mehrzahl der Intellektuellen dieses Landes war stets deutschnatio­nal gewesen. Die deutsche Katastrophe hatte sie eine Zeitlang zum Verstummen gebracht. Es wurde kurzfristig sogar Mode, sich „österreichisch“ zu geben. Aber täuschen wir uns nicht! Diese Österreich-orientierten Kräfte kamen eher aus dem liberal-katholischen Bereich. Als nun die alten nazistisch-deutschnationalen Akademiker langsam wegstarben, welche bisher die Universitäten beherrscht hatten – man muss sich nur einmal die Bücher aus dem Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ansehen – und gleichzeitig die langjährige Wissenschaftsministerin Firnberg einen gewissen Einstrom von Sozialdemokraten in die Hochschulen ermöglichte, kam eine alt-neue Tendenz wieder durch. In Otto Bauer’scher Tradition galt bald Alles, was österreichisch klang, als finster. Hilfreich dabei war, dass die Publikationslandschaft völlig von deutschen Verlagen beherrscht wurde.

Zu Hilfe kam diesen Kräften der politische Versuch, die fragwürdigen Momente in der öster­reichischen Geschichte unter den Teppich zu kehren. Musterbeispiel war Kreisky. Der hatte allerdings dabei den Wunsch eines Großteils der Bevölkerung nach einem Schlussstrich hinter sich. Mit der Affäre Waldheim kam dieser ganze Komplex hoch. Und diese Kräfte nutzten das. Österreich, seine Existenz und seine Selbständigkeit wurden madig gemacht.

Man spricht immer wieder von Linksliberalen. Das ist grundfalsch. Es sind globalistische Liberale in der Tra­dition des John St. Mill, der ebenso wenig links war, wie diese globalistischen Kräfte links sind. Gleichstellung der Geschlechter, Akzeptanz von persönlichen sexuellen Präferenzen – das ist gewiss gut liberal und gegen die Altkonservativen zu vertreten. Aber was ist daran links? Diejenigen, die sich hier engagieren, sind meist durch­aus sehr elitär eingestellt.

Nun hatte man zusätzlich einen unschätzbaren Vorteil gewonnen. Man musste nicht mehr „Deutschland“ rufen wenn man sich an eine Großmacht anbiedern wollte. Nun gab es die EG. Man sagte somit EUROPA. Aber die, welche dies politisch als erstes nutzten, waren gerade die, welche das Ziel dieser angeblichen „Aufarbeitung der Geschichte“ waren: Es waren die Konservativen und Neoliberalen. Mock, der alte verhüllte Antisemit, wurde zum Vorkämpfer „Europas“. Die neokonservative Wende der SPÖ brachte ihm Verstärkung mit Vranitzky. Man konnte den Kurs auf den neuen Anschluss zielstrebig einschlagen.

Im Lauf der Volksabstimmungs-Kampagne 1993 / 94 schließlich gelang es den Konservati­ven, die Großmacht-Nostalgie, die in einem sonderbaren Habsburg-Kult stets im Untergrund vorhanden geblieben war, zu aktualisieren und zu mobilisieren. Die neuen Sozialdemokraten trugen das ihre bei. In einem regelrechten Terror-Feldzug in den Betrieben brachten sie mit Drohungen und Versprechungen („Ederer-Tausender“) ihre Anhänger dazu, sich mehrheitlich auch für die EG (bald: EU) auszusprechen. Der Anschluss, der 1945 noch einmal rückgängig gemacht worden war, war nun vollzogen.

Endgültig?

Eine entscheidend wichtige Schlussfolgerung

Wir sprechen hier ständig von Österreich. Aber wer, was ist Österreich? Gehen wir nicht in die Falle der EU-Propagandisten, die uns weismachen wollen, „Österreich“ habe vom EU-Anschluss profitiert. Profitiert haben die Exporteure und die Finanzkapitalisten, vielleicht auch einige intellektuelle Sektoren. Aber gehen wir auch nicht in die alternative Falle der (Mills-) Liberalen. Die kennen kein Österreich, sie kennen nur eine globalisierte Welt. Auf der können sie allen den Kurs vorgeben – glauben sie. Wir müssen dialektisch sein.

Österreich ist der Staat der kapitalistischen Eliten und ihrer Handlanger in Politik und Kultur. Die denken, dass sie diesen Staat immer weniger brauchen. Sie möchten ihn daher am liebsten entsorgen – wenn sie ihn nicht immer wieder für ihren Vorteil doch brauchen würden. Er ist ja ihr hauptsächliches politisches Instrument, und auch die globalistische Politik können sie nur mittels seiner Institutionen durchführen.

Aber Österreich ist auch die Lebenswelt einer beachtlichen Mehrheit jener Menschen, die hier geboren sind und hier leben, die meisten von ihnen gern. Auf die österreichische Gesellschaft wollen sie sich verlassen können. Und sie brauchen diesen Staat, dringlicher als die Eliten und die Herrschenden. Doch es sollte ein selbstbestimmter Staat sein, der ihnen und ihrer politischen Identität auch einen Bezugsrahmen anbietet.

Zwischen diesen beiden Projekten gibt es einen zähen Kampf. Denn eine Nation ist ein politisches Projekt auf der Basis einer geteilten Identität.

Der Nazi-Faschismus war auf seine Art globalistisch und gegen Verzwergung. Wir wissen, wohin dies politisch geführt hat. Knapp vor dem Zweiten Weltkrieg meinte der damalige polnische Außenminister Beck fatalistisch: „Ich fürchte, dass Deutschland gemeinsame Grenzen mit Japan anstrebt.“ Der böse Witz traf den Sachverhalt nicht schlecht. Österreich war damals sein erstes Opfer: das Österreich der Austrofaschisten, aber noch viel mehr das Österreich der Arbeiter, Angestellten und Bauern.

Der Nazismus landete auf dem Müllhaufen der Geschichte. Aber vorher stürzte er die Welt in eine Katastrophe, wie man sie bis damals noch nicht gesehen hatte. Österreich wurde ein Teil dieser Katastrophe, und ein nicht geringer Teil der Bevölkerung hatte die ersten Schritte dazu freiwillig getan. Damals allerdings konnte sich das Land mit der Hilfe Anderer noch einmal daraus hervorarbeiten. Und heute?

Albert F. Reiterer, 6. Feber 2018

 

Helmer, Oskar (1957), 50 Jahre erlebte Geschichte. Wien: Verlag der Volksbuchhandlung.

Jankowitsch, Peter (2008), Österreichs Europapolitik im Parteienstreit, In: Österr. Jb. für Politik 2008, 265 – 276.

Kindermann, Gottfried-Karl (2003), Österreich gegen Hitler. Europas erste Abwehrfront 1933 – 1938. Bonn: Langen Müller.

Nolte, Emil (1966), Die faschistischen Bewegungen. Die Krise des liberalen Systems und der Entwicklung der Faschismen München: dtv.

Olah, Franz (1995), Die Erinnerungen mit 110 Abbildungen und Dokumenten. Wien: Amalthea.

Reiterer, Albert F. (1986), Vom Scheitern eines politischen Entwurfs. Der ‚österreichische Mensch‘ – ein konservatives Nationalprojekt der Zwischenkriegszeit. In: ÖGL (Österreich in Geschichte und Literatur) 31, 19 – 36.

Reiterer, Albert F. (1996), Intellektuelle und politische Eliten in der Nationswerdung Österreichs. In: Max Haller, Hg., Identität und Nationalstolz der Österreicher. Gesellschaftliche Ursachen und Funktionen – Herausbildung und Vergleich seit 1945 – Internationaler Vergleich. Wien: Böhlau, 271 – 325.

Schärf, Adolf (1955), Österreichs Erneuerung 1945 – 1955. Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik. Wien: Verlag der Volksbuchhandlung.

Schulmeister, Paul (2008), Europapolitik als Spaltpilz. Der Lissabon-Vertrag, die Volksabstimmungs-Debatte und ein Leserbrief an die Krone. In: Österr. Jb. für Politik 2008, 277 – 293

Wallerstein, Immanuel (1984), The Politics of the World Economy. The States, the Movements and the Civilizations. London: Cambridge Univ. Press.

Buchbesprechung: von Empire zum Brexit

von Elisabeth Lindner-Riegler, pensionierte AHS-Lehrerin und jahrzehntelange Aktivistin für die Befreiung des südlichen Afrika von den Folgen des britischen Kolonialismus

England im Wandel

Rainer F. Brunath: VOM EMPIRE ZUM BREXIT
Okt./Nov. 2017, Region Verlag, 216 Seiten, 14,99 Euro, ISBN: 978 3981 874907

Nach der stetigen Erweiterung der Europäischen Union will nun zum ersten Mal ein Land, das Vereinigte Königreich, aus dieser Union austreten. Nach dem Referendum im Juni 2016 startete eine beispiellose Kampagne gegen die austrittswilligen Briten in den europäischen Medien und Eliten. Pauschal wurde das Volk als dumme, kurzsichtige Rassisten beschimpft, dem Land wurde und wird der Ruin vorhergesagt. Die Forderung nach einem neuerlichen Referendum steht im Raum.

Das Buch VOM EMPIRE ZUM BREXIT ist eine wichtige Stimme gegen die vereinfachte, einseitige Hetzkampagne und richtet sich an alle, die das britische Votum differenzierter sehen und besser verstehen wollen, die die Verachtung, mit der die britischen Wähler und Wählerinnen abgekanzelt werden, zum Nachdenken bringt.

Ausführlich und detailreich werden die Geschichte Englands auf dem Weg zum Empire und der damit verbundenen Länder sowie die Kontinuitäten und Wandlungen im 20. Jahrhundert bis zum Brexit beschrieben. In der geschichtlichen Abhandlung wird den einzelnen Ländern, ihren jeweiligen Eigenheiten und den Grausamkeiten des Kolonialismus Raum gegeben und gleichzeitig versucht, durch diese Geschichte die Herausbildung einer nationalen Identität der Engländer nachzuzeichnen und zu erklären. „Rund dreihundert Jahre kolonialer Erfahrung und Verbindungen besaß Britannien nach dem 2. Weltkrieg, als 1973 das Vereinigte Königreich in den europäischen gemeinsamen Markt (EWG) eintrat. Es waren Erfahrungen und Verbindungen aus der Zeit der Expansion, die zu Machtzuwachs und Größe führten, aus den Jahrhunderten der Angliederung von Kolonien an das wachsende Empire, dessen Menschen eine besondere nationale Identität entwickelt hatten und die auch nach der Zeit der Entkolonisierung nicht verloren gegangen war.“ (S.20)

Auf dem Weg zum Empire spielte der Freihandel die wesentliche Rolle, Privatinitiativen, die durch die Vergabe von Konzessionen durch die Krone plündernd in Länder rund um den Globus einfallen konnten. (vgl. S. 21) Die wirtschaftlichen Interessen sind bis heute das Bindeglied zwischen dem Vereinigten Königreich und dem aus dem Kolonialreich hervorgegangenen Commonwealth of Nations geblieben.

Was Großbritanniens Rolle in Europa und Europa selbst betrifft, hat Winston Churchill in seinen Visionen so argumentiert, dass Vereinigte Staaten von Europa eine Voraussetzung für zukünftigen Frieden und Sicherheit wären, dass jedoch sein Land einen Sonderstatus hätte. „Sie (GB) sollte nicht in die europäischen Strukturen eingebunden sein: ‚Wir haben unsere eigenen Träume.‘ Im Klartext: Wir sind bei Europa, aber nicht von ihm. Wir sind verbunden, aber nicht eingeschlossen.“ (S. 97)

Diese Haltung setzte sich fort, insbesondere mit Magret Thatcher, als sie Sonderkonditionen für ihr Land aushandelte, den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt nutzte, jedoch Übereinkommen in Richtung politischer Union ablehnte. (vgl. S. 208,209)

Laut Brunath hat die Leave-Kampagne an den historisch herausgebildeten nationalen Identitätsgefühlen der Massen angesetzt und klassenübergreifend bei vielen Menschen Erfolg gehabt. (vgl. S. 208) Er zeichnet ein differenziertes Bild des Brexit und sieht im Votum gegen die EU den Protest derjenigen, die die Verschlechterung der Lebensqualität zu spüren bekommen, die unter Wohnungsnot und Lohndumping leiden. „Diese Benachteiligten in England haben sich offensichtlich entschieden, jetzt, als sie endlich eine Möglichkeit hatten, ihren Zorn, ihren Frust, ihre Angst deutlich hörbar und messbar zu artikulieren. Sie wollten jetzt Bedingungen ablehnen, die sie zwangen, sich mit Minijobs abzufinden, in Trostlosigkeit und in grauen Städten zu leben,…Sie haben die Mitgliedschaft Britanniens in der EU dafür verantwortlich gemacht.“ (S. 160)

Sie haben die Zwangsjacke der EU gespürt, sie haben sich aus Enttäuschung über ihre eigene Elite und deren etablierte Parteien auch Rechtspopulisten zugewandt, einige haben in den Arbeitsmigranten Konkurrenten gesehen – auch das wird im Buch thematisiert. Aber sie haben einen emanzipatorischen Schritt gemacht, sie haben Risse im EU-Gefüge vergrößert, dieser EU eine Abfuhr erteilt.

Dieser Stimme in einem Meer von Verunglimpfung und Verachtung für die Verlierer im EU-Netzwerk Gehör zu verschaffen, macht neben der detailreichen Aufarbeitung der Geschichte und Gegenwart in Großbritannien VOM EMPIRE ZUM BREXIT zu einem lesenswerten und wichtigen Buch.

Deutschland und sein Verhältnis zur EU

von Rainer F. Brunath

Der Appetit des deutschen Imperialismus war und ist ungeheuer. So stellte sich der einflussreiche „Alldeutsche Verband“ nach einem Sieg im 1. Weltkrieg die Landkarte Mitteleuropas vor. Die Fantasien der Industrie-Eliten bezüglich eines deutsch beherrschten europäischen Großraums endeten nicht mit dem Jahr 1945.

Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei“, folgerte Angela Merkel am 28. Mai 2017 aus Donald Trumps Erklärungen auf dem G8-Gipfel „Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen“, schlug die Kanzlerin vor. Die EU, d.h. die Führungsmacht in der EU, Deutschland, müsse eine Macht aus eigener Kraft werden, gleichberechtigt mit den USA.

Sollen alte imperiale Träume deutscher Großmacht-Schwärmereien endlich befriedigt werden? Ist das zu weit gegriffen?

Blicken wir in die Geschichte deutscher Eurostrategien. Die Entfaltung und Expansion der deutschen Industrie, des deutschen Kapitals, stand noch am Anfang – zu Mitte des 19. Jahrhunderts. Es begann die Zeit des „Made in Germany“ als Markenzeichen gegen britische Weltmarktbeherrschung. Noch ohne ein Deutsches Reich als Träger einer ernst zu nehmenden Markterweiterung gründete sich der Deutsche Zollverein, in dem der Polit-Ökonom Friedrich List, schon 1841 die Schrift „Das nationale System der Politischen Ökonomie“ publizierte. List entwickelte bereits Gedanken über Europa und dessen „Centrum“ Deutschland, das leider schwach sei „durch Mangel an Nationaleinheit“. Nun, diesem Mangel hat Bismarck ein Ende bereitet. List versteifte sich darauf, wenn das „Deutsche Reich“ sich „als kräftige commercielle und politische Einheit constituiert habe, dann werde es „den Mittelpunkt einer dauernden Continentalallianz bilden“ können.

Wunschdenken von List? Er schloss messerscharf: „Zu einer Zeit, in der Großbritannien mit seinen Kolonien so mächtig ist, könnten die Staaten des europäischen Festlandes sich auf Dauer in der Welt nur durchsetzen, wenn sie sich zusammenschliessen. Und je mächtiger Englands Übergewicht anwächt, so dränge sich um so stärker der Gedanke eines Zusammenschlusses der Kontinentalmächte auf.

List prophezeite weiter, dass die USA in Zukunft wirtschaftlich anwüchsen und die Position Großbritanniens anfechten, ja in den Schatten stellen würden und er behauptete: „ dann werde die Naturnothwendigkeit, welche jetzt den Franzosen und Deutschen die Stiftung einer Continental-Allianz gegen die britische Suprematie gebietet, den Briten die Stiftung einer europäischen Coalition gegen die Suprematie von Amerika“ empfehlen. Und weiter: „Alsdann würde Großbritannien in der Hegemonie der vereinigten Mächte von Europa Schutz, Sicherheit und Geltung gegen die amerikanische Übermacht … suchen müssen und finden“, bekundete der Ökonom.

Den Gedanken Vereinigtes Europa 1841? List war durchaus kein Phantast – er war weitsichtig. Er konnte eins und eins zusammenzählen und er sprach damit eine sich entwickelnde Konstante deutscher Expansionsgelüste aus, die sich schon bald als Strategie reichsdeutscher Industrie manifestierte. Und schon 1903 forderte etwa der Nationalökonom Julius Wolf: „Die mannigfache industrielle Überlegenheit Nordamerikas über Europa“ sei insbesondere darauf zurückzuführen, dass „das große Wirtschaftsgebiet … dem kleinen unter sonst gleichen Umständen immer überlegen“ sei. In der Konsequenz gründete Wolf 1904 den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein.

Auch wenn dieses Vorgehen von Julius Wolf zunächst wegen Unrealisierbarkeit von Berlin zurückgepfiffen wurde, so hielt sich der Gedanke einer Europäischen Zollunion hartnäckig in den Köpfen reichsdeutscher Industriebarone, jener aus der Chemie-, der Elektroindustrie wie auch aus der Industriefraktion um Kohle und Stahl. „Die Güte des Planes stand kaum je in Zweifel“, titelten im Jahr 1904 die „Alldeutschen Blätter“, die sich als Sprachrohr der Schwerindustrie verstanden – und sie schrieben weiter: „Das Deutsche Reich müsste notwendigerweise in einem mitteleuropäischen Zollgebiet das Rückgrat, den stärksten Machtfaktor bilden –, sowohl wegen seiner geographischen Lage, wie wegen seiner Verbrauchskraft, seiner wirtschaftlichen Organisation, seines Reichtums usw.

Noch Skepsis? Die deutschen Industriekreise hatten es nicht und schlussfolgerten, dass Widerstände wohl überwunden werden müssten: „Für die Erreichung eines mitteleuropäischen Zollvereins wird entscheidend sein, ob das Deutsche Reich eine weitschauende, zielbewusste Wirtschaftspolitik zu treiben gewillt ist, die, ohne stets auf den nächstliegenden Vorteil zu sehen, die Peitsche, wenn es nötig ist, ebenso entschlossen anwendet wie das Zuckerbrot.

Wen würde es erstaunen, dass diese Pläne nicht auch zum Kriegsziel erhoben wurden. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg schrieb am 9. September 1914. „Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und evtl. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, […sollte …] unter äußerer Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.“

Und für Frankreich – nach dessen militärischer Niederlage – sah Bethmann Hollweg einen „Handelsvertrag“ vor, der das Land in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland brächte, es zu einem Importland machte und Reichsdeutschland ermöglichte, den englischen Handel in Frankreich auszuschalten.

Das waren reichsdeutsche Absichten aus dem Jahr 1914 und diese „Pläne“ haben die Kriegsnieder-lage im November 1918 recht problemlos überstanden. Ja, die Gründung der Sowjetunion führte sogar dazu, dass von Berlin ein schneller Zusammenschluss sämtlicher Staaten des Kontinents angepeilt wurde. Die Weimarer Republik begann schon 1930 mit sogenannten Clearingverträgen mit mehreren Staaten Südosteuropas. Diese Verträge ermöglichten deutsche Rohstoffimporte ohne dass sie bezahlt werden mussten. Sie wurden über eine Clearingstelle verrechnet. So konnte in der Krise auf harte Devisen verzichtet werden und es zwang die südosteuropäischen Länder zum Einkauf in Deutschland. Damit wurden sie an das mitteleuropäische Zentrum angebunden.

Der IG-Farben-Chef Carl Duisberg stellte 1931 fest: „In Europa scheint das Ziel des regionalen Wirtschaftsraumes allmählich festere Formen anzunehmen. Und […] das sei erfreulich, denn die USA, der große Rivale, bauten längst zum Vorteil für ihre Industrie ihre panamerikanische Einflusszone gezielt aus. […] Die Verständigung mit Frankreich stehe aber noch aus, denn erst ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Sofia wird Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zur Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf.

Die Nazis wollten es noch besser machen. Der NS-Ökonom Werner Daitz schrieb 1940 in einer ausführlichen Denkschrift: „Eine [zu etablierende ]das ganze europäische Festland umfassende Grossraumwirtschaft ist unbedingt erforderlich, um den gewaltigen Wirtschaftsblöcken Nord- und Südamerikas, dem Yen-Block und dem vielleicht verbleibenden restlichen Pfundblock erfolgreich die Stirn zu bieten. […] Und zur Errichtung jener „Grossraumwirtschaft“ stehe im nächsten Schritt die feste wirtschaftliche Eingliederung der von Grossdeutschland in erster Linie abhängigen Länder West-, Nord- und Südeuropas bevor. […] Aber wir müssen grundsätzlich immer nur von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geografischen Lage.“

Dazu kam es nicht, dank der Niederlage Nazideutschlands. Die deutschen Industriebosse aber, die ohne Verlust ihrer Eigentums- und Machtbefugnisse die Kriegsniederlage überstanden, gingen schon bald wieder an die Restaurierung alter Europapläne. Washington kam ihnen dabei entgegen, denn es hatte großes Interesse daran, seinen traditionellen deutschen Absatzmarkt wieder instand zu setzen und sich einen einflussreichen Juniorpartner auf dem Kontinent zu halten. Zu diesem Zweck wurde u.a. der Marshall-Plan, den man nach dem Muster der Clearindverträge erarbeitete, für die Bundesrepublik Deutschland angewendet. Bald danach nahm die wirtschaftliche Entwicklung in der BRD wieder Fahrt auf und die Bonner Republik unter dem Kanzler Konrad Adenauer reaktivierte mit gesteigertem Selbstvertrauen alte Europa-Pläne. Es kam zur Auflage der Römischen Verträge am 25. März 1957, die den damaligen Bundesfinanzminister Franz Josef Strauss 1966 in seinem Buch „Entwurf für Europa“ veranlassten, festzustellen: „ein geeintes Westeuropa soll die Vorstufe zu den Vereinigten Staaten von Europa sein, [… ] Auf diese Weise erhielte die westliche Welt zwei strategisch wirksame Systeme, die einander ergänzen und doch unabhängig voneinander funktionieren könnten.“

Und heute? Außenminister Sigmar Gabriel ergänzte seine Chefin Angela Merkel nach ihrer Forderung, „Europa müsse sein Schicksal in die eigene Hand nehmen“, dass eine stärkere Kooperation der europäischen Staaten auf allen Ebenen die Antwort an Donald Trump sein müsste. Und in der FAZ konnte man lesen: „dass Berlin auf dem direkten Weg zu seinem alten Ziel ist, über ein integriertes Europa die Augenhöhe mit Washington zu erreichen. Trump könnte sich dabei noch als Glücksfall für die deutschen Eliten erweisen: Er ermöglicht es ihnen, ihren weltpolitischen Durchbruch als selbstlosen Kampf um die Rettung der zivilisierten Welt zu verkleiden.“

Gibt es noch Fragen zu den Absichten des deutschen Imperialisnus, der im Schafspelz als geläuterter EU-Wolf seine seit 200 Jahren nicht aufgegebenen zentralen Konzepte verfolgt? Oder haben deutsche Politiker die Wirtschaftseliten inzwischen zähmen können, wie es die Herren Schulz oder Gabriel unisono mit dem SPD-Parteivorstand vorgeben zu tun. Man behauptet: „Es ist Aufgabe der SPD, die zentrale Rolle Deutschlands bei der Gestaltung Europas anzumahnen und den fortschrittlichen Kräften in Europa die Hand zu reichen.“ Bis 2025 wolle man die EU in die Vereinigten Staaten von Europa umwandeln.

Was bezweckt Martin Schulz damit wider besserem Wissen ob der Realisierbarkeit? Oder ist es für den SPD-Parteivorstand nur ein Ablenkungsmanöver für eine unpopuläre Regierungsbeteiligung? Die Beliebtheit eines einigen Europa in Deutschland, das Frieden garantiere, scheint dort als Rechtfertigung für das Einknicken des Parteivorstandes herzuhalten. Das Vorbild Helmut Kohl der mit Frankreichs François Mitterand Händchen haltend in Verdun Europa den Frieden geschenkt habe, scheint immer noch zugkräftig.

Dabei war Helmut Kohl ein kalter Krieger par Excellance, der nicht unbeteiligt war, Deutschland in die EU und die NATO einzubinden. Es ist wohl richtig, 1945 bis 1998 gab es in Europa keinen Krieg. Aber nicht, weil zwischen den Westmächten die Einigkeit herrschte: Nie wieder Krieg. Man kooperierte im Westen nur aus dem Grund, den Sozialismus einzudämmen, eine Niederlage zu bereiten. Das gelang, wie wir wissen. Für viele Menschen in Ost und West eine willkommene, für manche auch eine berechtigte Entwicklung

Können die Völker Europas hoffen, dass das Wunder des Friedens zwischen imperialen Mächten fortdauert? Sind die Kriege an der Perepherie, zuletzt in Syrien, nur ein Ausklang einer tragischen historischen Entwicklung? Oder gibt es den Machtblock, der nach Ende des Weltkriegs II, der unter der Führung der USA entstand, immer noch?

Die EU, mit ihr in erster Linie Deutschland, wurde zum ökonomisch schärfsten Konkurrent der USA, die sogar noch, jetzt unter Trump, zähneknirschend die führende Rolle, des deutschen Imperialismus in der EU tolerieren. Im Gegenzug stellt Deutschland die militärisch führende Rolle der USA innerhalb des „Westens“ nicht in Frage. Die Aufregung über ein von Trump herbeigeführtes Ende des transatlantischen Neoliberalismus entpuppte sich als ein Sturm im Wasserglas. Dafür arbeitet man militärisch zusammen. Ziel ist es Russland „in die Schranken zu weisen“, Stellvertreterkriege zu planen und arbeitsteilig zu führen, wenn auch nicht immer zu gewinnen.

Jahrzehnte vor Beginn des Weltkriegs I plante deutscher Imperialismus ein von ihm beherrschtes einiges Europa. Diese Absicht, die u.a. zum Krieg führte, wurde nach der Niederlage nicht aufgegeben, wie auch nicht nach Ende des Weltkriegs II. Beide Male ging es um Vorherrschaft, um Weltherrschaft. Und auch heute geht es um die Weltherrschaft. Für die europäischen Imperialisten, mit ihnen Deutschland, ist die USA das Vehikel, die Dominanz von Russland, vor allem aber jener des ökonomisch immer stärker werdenden China in Frage zu stellen. Daraus ergibt sich nur die eine Folgerung: Dauerhafter Frieden in Europa muss von den Völkern erstritten werden.

 

Literatur:

Von Gibraltar bis zum Ural, vom Nordkap bis Zypern. Die Expansionsstrategien des deutschen Kapitals, Jörg Kronauer

Zum deutschen Mythos von Europa, Lucas Zeise, UZ/12. Januar 2018

 

 

Spanische Tragödie

von Rainer F. Brunath

Europa redet über Spanien, Katalonien, das Referendum und die tragische Entwicklung danach. Und man fragt sich, was geschieht dort, zumindest fragt sich das der einfache Medienkonsument. Die Macher in der EU und den USA wissen es sicher, zumindest wissen sie, was sie nicht wollen.

Ist die Situation in Spanien vergleichbar mit jener in Britannien, wo das Brexit-Votum wie ein Donnerschlag die Hühner im EU-Stall aufgescheucht hatte?

Einen sichtbaren Unterschied zwischen den beiden europäischen Staaten gibt es: in Britannien haben die Eliten das Referendum herbeigeführt, in Spanien dagegen haben sie es verboten, ja, sie haben sogar versucht, es zu annullieren. Und das ist nicht möglich. Das Votum des Volkes von Katalonien für Unabhängigkeit steht. Und dabei ist es gleichgültig, wie die politische Zusammensetzung der Stimmen für die Annahme des Referendums aussieht. Auch wenn Madrid noch so viele Jubler und „wir wollen das nicht-Schreier“ umsonst nach Barcelona karrt.

Gibt es dennoch Gemeinsamkeiten zwischen Britannien und Spanien? Ja, die Ursachen für Verstimmung in Spanien und Katalonien wie in Britannien waren und sind die gleichen: Jugendarbeitslosigkeit so hoch wie nirgendwo in Europa, Austeritätspolitik von Brüssel diktiert, Perspektivlosigkeit, sinkende Lebensqualität, wachsender und sichtbarer Reichtum Weniger kontrastiert mit Menschen in Armut, denen es nicht einmal gelingt mit zwei Arbeitseinkommen ein menschenwürdiges Leben zu führen. Damit erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten, obwohl diese die Wichtigsten sind. Aber die Zentrale in der EU, die spanischen Machteliten und die USA wollen das nicht anerkennen. Und das hat seine Geschichte, die 300 Jahre weit zurückreicht.

Spanien hatte sich aus dem Mittelalter als Vielvölkerstaat entwickelt. Es waren Kastilier, Katalanen, Andalusier, Basken, Valencianer, Galicier – die sich im 15. Jahrhundert und später aus autonomen Königreichen vereinigten. Speziell Kastilien im Süden hatte großes Interesse, gegen die Konkurrenz mit Portugal als Seemacht bestehen zu können. Das waren außenpolitische Anlässe. Innenpolitisch bewahrten die Königreiche ihre Autonomie. Auch, als die Habsburger 1516 mit Karl dem V. den Thron bestiegen blieb das so. Er schuf das Weltreich, in dem die Sonne niemals unterging, gestützt auf die Loyalität seiner Fürsten – der Fürsten der spanischen Völker. Es war ein föderales Machtgebilde, das den lokalen Herrschern in gewissem Umfang politische Freiheiten gewährte und die die lokalen Fürsten nutzten um ihre ureigenen Herrschaftsgebiete wirtschaftlich zu entwickeln.

Das änderte sich 1700, als die Thronfolge nach dem Aussterben der Habsburger im Spanischen Erbfolgekrieg ausgefochten wurde und in dem die führenden europäischen Monarchien verwickelt waren. Die Bourbonen aus dem Zentralstaat Frankreich obsiegten, eroberten den Thron Spaniens, dessen Spross Philipp V nach Madrid ging. Jetzt begann das Elend der lokalen Fürsten Spaniens, denn Philipp V konnte in Spanien die gewachsenen politischen Strukturen auflösen und einen Zentralstaat nach französischem Vorbild errichten.

Es war ein militärischer Sieg der Bourbonen gewesen, und mit militärischen Mitteln setzte Philipp V seine „Reformen“ durch, ersetzte die „republikanische Selbstverwaltung“ durch „bürokratischen Zentralismus“. Die unterlegenen Fürsten der Völker Spaniens hatten keine Möglichkeiten der Opposition mehr und sie fügten sich in das Unvermeidliche, mit der Folge, dass sie nichts mehr für die strukturelle und wirtschaftliche Entwicklung ihrer lokalen Heimat taten – ja nichts mehr tun konnten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Spanien größtenteils ein rückständiges Agrarland geworden, geprägt von feudalen Eigentumsverhältnissen, die sich bis heute auf militärische Macht stützen.

Nur in Katalonien, mit seinem Zentrum Barcelona, kam es zu einer gewissen industriellen Entwicklung und damit verbundener Arbeiterbewegung. Aber auch das hatte seine Geschichte. Es war das katalanische Landproletariat, das schon Mitte das 15. Jahrhunderts die Abschaffung der Leibeigenschaft erkämpfte, was wiederum eine entscheidende Rolle bei der Vereinigung Spaniens spielte, unter Beibehaltung der tradierten Selbstverwaltung Kataloniens und des Baskenlandes. Erst im Verlauf des 18./19. Jahrhunderts gelang der Bourbonenmonarchie so nach und nach die Zerstückelung dieser Rechte. Aber Ruhe gab es nicht. Von 1808 bis 1931 gab es sechs spanische Revolutionen, an denen Katalonien aktiven Anteil hatte. 1936 war Katalonien der Motor für die Verteidigung der „zweiten Republik“, die der Region die Selbstverwaltung zurückgegeben hatte. Und der Fall Barcelonas, erobert von Francos Faschisten vorentschied, wie schon oft in der Geschichte Spaniens, den Ausgang vom Kampf der Völker Spaniens gegen die militärisch gefärbte Diktatur der Zentrale.

Was folgte waren 36 Jahre Franco-Faschismus, der sich zunächst auf die Nazis Deutschlands stützte und nach dem Krieg auf die NATO.

Franco bekam die Zeit, seine Nachfolge „zu ordnen“. Er bereitete die Rückkehr der Bourbonenmonarchie vor. 1978, nach dem Tod des „Caudillo“ (Führers) kam unter Druck des fancistischen militärischen Oberkommandos der Pakt für ein „einheitliches, unteilbares Spaniens“ zustande, was in der Verfassung Eingang fand und jede Form einer nationalen Selbstverwaltung der Völker Spaniens ausschloss. Erlaubt wurde lediglich eine begrenze territoriale Autonomie und Katalonien wurde in drei Bezirke aufgeteilt: Balearen, Valencia und Katalonien selbst.

Mit diesem Verfassungskorsett blieb und bleibt Madrid – bei fehlendem politischen Willen – kein Handlungsspielraum. Vier Jahrzehnte ging das so, vier Jahrzehnte wurden die Verbrechen des Franco-Regimes nicht aufgearbeitet. Die Pakt-Parteien (die Franco-Nachfolgepartei PP und die rechtsreformistische Spanische Sozialistische Partei) teilten sich abwechselnd die Macht. Gelegentlich traten noch die Nationalisten Kataloniens diesem Pakt bei. Aber auch sie konnten oder wollten die rigide Politik Madrids und dessen übles Blutvergießen gegen Arbeiterorganisationen des Baskenlandes nicht unterbinden. Auch weil sie von der EU und den USA keine politische Hilfe diesbezüglich bekamen.

Die industrielle Entwicklung des Post-Franco-EU-Spanien glich jener in Britannien: Vernichtung von Industriezweigen und landwirtschaftlicher Produktion, was zu unerträglicher Perspektivlosigkeit und Rekordarbeitslosigkeit für die Jugend führte. Die Außenverschuldung wuchs durch die Exportkraft Deutschlands in Höhen, die unbezahlbar wurde. Die „Pakt-Parteien“, alle staatlichen Strukturen und nicht zuletzt das Königshaus diskreditierten sich in Korruptionsskandalen.

Als in Lateinamerika, beginnend in Venezuela, bis hinunter nach Chile sich sozialreformistische Regimes etablieren konnten, begannen auch in Spanien, speziell in Katalonien von der Jugend initiierte Protestaktionen, die sich schlussendlich in der Bewegung PODEMOS bündelten. Das Zweiparteienmodell zerbrach, als diese Bewegung eine Reihe von Machtorganen, darunter in Barcelona, erkämpfte. Die Zentrale allerdings blieb, wenn auch als Minderheiten-Regime in den Händen der Post-Francoisten, des M. Rajoy, der sich mit Hilfe anderer rechter Parteien halten konnte. Das hinderte diesen Herrn nicht daran, neoliberale Maßnahmen gegen Katalonien zu richten, die die dortige wirtschaftliche Entwicklung bedrohten. In Barcelona zog die ebenfalls rechte Regierung die Notbremse und lenkte die unvermeidlich entstandene Unzufriedenheit in nationalistische Bahnen. Wie war das möglich?

Das relativ wohlhabende mit bescheidener Industrie ausgestattete Katalonien beherbergt eine spanisch-multiethnische Bevölkerung mit relativ stabiler wirtschaftlicher Entwicklung. Niemand dort hätte an Loslösung von Spanien gedacht. Die Nationalisten Kataloniens waren nur an der Verfügung und Verwaltung der Finanzströme interessiert, die von den Filialen der internationalen und transnationalen Konzerne nach Katalonien gelockt worden waren. Und das konnte Madrid nicht zulassen. Verschuldet an EU und andere Gläubiger hätte eine Billigung von Kataloniens Anspruch quasi Staatsbankrott bedeutet. Deshalb blockierte Madrid den Autonomiestatus von Katalonien auf judikativem Weg.

 

Es dauerte doch noch gut zehn Jahre, bis endlich in Katalonien ein Mitte-Links-Regime gewählt wurde. Sie nannten sich „Eurodemokraten“ und Carles Puigdemont führte die Regierung an. Nun war eine Situation in Katalonien entstanden, in der Protestpotentiale vergrößerte Hoffnungen entwickelten: Selbstbestimmung wurde zum Thema und einige soziale Bewegungen hofften auf Unterstützung von der EU. Als Vorbild sah man den Euromaidan in der Ukraine und man hoffte auf analoge Hilfestellung. Es gab auf der linksrepublikanischen Seite Kataloniens sogar Akteure, die hofften, dass in ganz Spanien ein Aufbruch entstünde, der endlich die Post-Francoistischen Krusten zerbrechen könnte.

Die Hoffnungen jener waren aber vergeblich. Die Protestbewegungen ebbten ab, noch wollte die EU Beistand leisten. Aber in Barcelona konnte man nicht mehr zurück ohne Einfluss in der Autonomiefrage aufzugeben.

Wenn auf der anderen Seite Madrid nicht diesen verbissenen Widerstand gegen das Referendum aufgebaut und Katalonien stillschweigend hätte abstimmen lassen, so wie es die britischen Konservativen 2014 beim Schottland-Referendum getan hatten, dann hätte die multiethnische Bevölkerungsmehrheit Kataloniens sicher anders votiert. Sie hätte sich entweder der Stimme enthalten oder mehrheitlich dagegen gestimmt.

Doch Kompromisse kannte und kennt man nicht in Madrid. Mit Polizeigewalt wurde Unversöhnlichkeit demonstriert, womit Madrid fast alle jene unentschlossenen oder moderat gestimmten Wähler ins katalanisch-nationalistische Lager trieb. Dennoch traten zehntausende Menschen nicht für Abtrennung ein, sondern für das Recht der Völker Spaniens, sein regionales Schicksal selbstbestimmt zu verwalten, bei Beibehaltung außenpolitischer Einheit Spaniens.

 

Literatur: Über den Konflikt in Katalonien und die Krise des Postfrancismus, Alexander Charlamenko, Marxistische Blätter, 1/2018

DIE „SCHULDENBREMSE“: IHRE ANTIDEMOKRATISCHEN WURZELN IN DEN 40ERN UND IHRE REICHEN FÖRDERER

Jahoda-Bauer-Institut, Linz, 14. Dezember 2017

Die sogenannte “Schuldenbremse” ist eine eigenartige Idee aus den 40er Jahren, die auf eine kleine Gruppe reicher Männer in den Schweizer Bergen zurückgeht und von einem noch eigenartigeren Mann mit einer Vorliebe für autoritäre Regimes erfunden wurde. Lange hat es gedauert, bis sie wirtschaftspolitisch relevant wurde, doch ein neoliberales Netzwerke aus JournalistInnen, PolitikerInnen und Denkfabriken hat ihr mit viel Macht und Geld im Hintergrund zur Beachtung verholfen. Zum großen Schaden der Allgemeinheit.

Es war 1947 auf einem Schweizer Berg als zehn Männer beschlossen, die Regelwerke des weltwei­ten Zusammenlebens grundlegend zu ändern: Die „Mont Pèlerin Society“ war geboren. Seit damals hat sich ein von Industriellen, Erben und Superreichen finanziertes Netzwerk an Denkfabriken, JournalistInnen und PolitikerInnen zusammengeschlossen, um die wirtschaftspolitische Ideologie des Neoliberalismus durchzusetzen – im Staat, in der Wirtschaft und in den Köpfen der Menschen. „Der Liberalismus als dominantes, wenn nicht absolutes Prinzip sozialer Organisation“, hat in vielen Bereichen zu einem Denken geführt, das den Menschen als „Homo oeconomicus“, also als völlig profitorientierten Menschen sieht, der nichts will als den größtmöglichen wirtschaftlichen Eigennutz. Freundschaft, Liebe, füreinander sorgen oder einstehen, all das gibt es nicht mehr. Ein Menschenbild, das viel über seine AnhängerInnen verrät.

In den 1940er Jahren war der Neoliberalismus noch unbedeutend, kaum jemand nahm ihn Ernst. Doch die systematische Arbeit von Denkfabriken, PolitikerInnen und JournalistInnen hat es über die Jahre und Jahrzehnte geschafft, ihn zum Mainstream zu machen.

Der Erfinder der Schuldenbremse – kein Freund der Demokratie

Aus dieser Ecke kommt auch die Idee der sogenannten Schuldenbremse. Ihr Erfinder ist der bereits verstorbene Ökonom und ehemalige Präsident der „Mont Pèlerin Society“, James McGill Bucha­nan. Als die Historikerin Nancy MacLean nach Buchanans Tod dessen Nachlass durchforstet hat, fand sie heraus, dass Buchanan über Jahre hinweg vom US-Industriellen Charles G. Koch, dem 9. reichsten Mann der Welt, finanziert wurde. Zwischen Koch und Buchanan floss nicht nur Geld, es flossen auch Ideen. Regelmäßig trafen sie sich zum Austausch, da wurde etwa besprochen, wie man demokratische Institutionen zurückdrängen könnte.

Buchanan war kein großer Freund der Demokratie, für ihn war der Despotismus eine mögliche, vielleicht bessere Alternative. In diesem Sinne war Buchanan überzeugt, dass man demokratisch gewählte PolitikerInnen in ihrem Handeln stark einschränken muss. Etwa durch eine “Schulden­bremse”, die vorschreibt wieviel Geld ein Staat ausgeben darf, unabhängig davon was gesellschaft­lich gebraucht wird oder wie sich die Wirtschaft gerade entwickelt.

Buchanan ging in seiner Abneigung der Demokratie aber noch weiter und unterstützte die blutige Diktatur in Chile unter Augusto Pinochet aktiv. Er half mit, die neue Verfassung des autoritären Staates zu schreiben und beriet Pinochet in wirtschaftspolitischen Fragen. Radikale Kürzungen, katastrophale Privatisierungen und der Abbau von Rechten für ArbeitnehmerInnen waren die Folge.

Falsche Gleichsetzung von öffentlichen und privaten Haushalten

Lange Jahre galten Staatsschulden als Folge von Wirtschaftskrisen, nicht als ihr Auslöser. Die neoli­beralen Netzwerke waren aber bemüht, das umzudrehen und sie setzten sich in den Jahren nach 2008/2009 durch. Und das schafften sie unter anderem mit der falschen Gleichsetzung von privaten und öffentlichen Haushalten. Ein radikaler Sparkurs war die Folge, der die Volkswirtschaften nur immer tiefer in die Krise schlittern ließ.

Der Idee der „Schuldenbremse“ wohnt der Glaube inne, private und öffentliche Haushalte funktio­nieren gleich. Also der finanzielle Rahmen für mehrere Millionen Menschen sei genau so zu organi­sieren wie ein Haushalt von drei, vier Personen. Dass das ein Trugschluss ist, liegt auf der Hand: Die öffentliche Hand investiert in die Infrastruktur, baut und betreibt Krankenhäuser, Schulen und Universitäten und finanziert die Feuerwehr, Rettung und Polizei. All das trägt wiederum durch bessere Bildung, hochwertige Infrastruktur und mehr Sicherheit zu höheren Einnahmen bei. Eine Kürzung der Ausgaben hat daher oft auch einen Rückgang der Einnahmen zur Folge. Für einen privaten Haushalt gilt diese Dynamik von Einnahmen und Ausgaben nicht.

Armut stark gestiegen

Noch heute zahlen wir für die neoliberale Wende: War 2008 noch jede fünfte Person in Europa von Armut bedroht, ist es 2013 schon jede vierte gewesen. Vor allem alte Menschen, AlleinerzieherIn­nen und junge Erwachsene sind am stärksten betroffen. Wachsende Armut auf der einen und rasant gestiegener Reichtum auf der anderen Seite sind die Folgen. Denn neben den radikalen Kürzungs­programmen und höheren Massensteuern, hat man die Steuern auf Vermögen und Gewinne laufend gesenkt. Noch nie waren Steuern für Vermögende und Unternehmenssteuern so niedrig wie jetzt. Seit 1995 ist die Körperschaftssteuer im OECD-Durchschnitt um 35 Prozent gesunken. Zugleich wurde noch nie so wenig investiert – obwohl die Steuern mit der Begründung gesenkt wurden, dass dadurch die Investitionen steigen würden.

Diese Agenda hat direkt in die wirtschaftliche Stagnation geführt und die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben. In Spanien, Portugal und Irland hat sich die Arbeitslosenrate verdoppelt, in Griechenland sogar verdreifacht. Ein weiteres Einbrechen der Wirtschaftsleistung war die Folge. Das Krisenland Portugal konnte sich erst erholen als es aus dem Sparkurs ausbrach: Seither wächst die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit sinkt und die Schulden können zurückgezahlt werden.

Schuldenbremsen sind Investitionsbremsen

Volkswirtschaftlich gesehen ist die Schuldenbremse also eine Investitionsbremse: Politische Handlungsspielräume werden stark eingeschränkt, bei denen, die von Arbeit leben, wird gekürzt, während die Besitzer großer Vermögen großzügig steuerlich beschenkt werden. Investitionsbremsen sind das Gegenteil von gerecht – weder innerhalb einer Gesellschaft, noch zwischen den Generationen. Denn es wird von denen, die arbeiten zu jenen umverteilt, die von Vermögen und Besitz leben. Und der wirtschaftliche Motor gerät ins Stocken, neoliberale Gesellschaften leben von ihrer Substanz. Weit wichtiger ist es, in die Realwirtschaft zu investieren und Zukunftsbranchen zu stärken anstatt den eigennützigen Plan einer kleinen verschrobenen Gruppe zu befolgen.

Brot und Spiele?

von Murat Gürol, Aktivist des Netzwerk Muslimische Zivilgesellschaft

Der Mechanismus, den Plebs durch Brot und Spiele zufrieden zu stellen, um soziale Unruhen schon im Vorfeld zu unterbinden, wirkt heute genauso wie im alten Rom. Bei diesem geht es aber vorrangig nicht um die Befriedigung des Hungers und die Belustigung des Volkes, sondern um die Ablenkung, die diesem Mechanismus zugrunde liegt. Folgerichtig wendet sich die neoliberale Politik der neuen Regierung durch die Einschränkung des Arbeiterkammerabschlags von 0,5 auf 0,4% in eine Richtung, die den Anteil der Zufriedenstellung der Unterschicht gefährlich reduziert, aber durch den fremdenfeindlichen Diskurs den Anteil der Ablenkung massiv erhöht.

Die diskriminierende und rassistische Politik von schwarz-blau versteht es ebenso, durch die Einteilung der arbeitenden Bevölkerung in heimische und fremde Proletarier „kulturelle“ Sicherheitsschotts dort einzubauen, von wo aus dem liberalen Projekt die größte Gefahr droht, nämlich der Arbeiterklasse. Druck auf die Musliminnen durch Kindergarten-, Schul- oder Korandiskurse und Zuckerl für österreichische Familien mit zwei Kindern in Form von Steuererleichterungen dienen der Verstärkung dieser ohnehin schon vorhandenen Sicherheitswälle. Dass Teile der Linken dieses moderne „divide et impera“ mitspielen, indem sie den antimuslimischen Diskurs mittragen, erleichtert ihnen nur die Umsetzung ihres Projekts. Und der Gros der blauen Wählerschaft profitiert ohnehin genauso wenig von der speziell auf Besserverdienende zugeschnittenen Umverteilung, die nur scheinbar von vermeintlichen asylantischen „Großfamilien“ auf österreichische Familien gelenkt wird.

Unterm Strich verlieren die notorisch an österreichischer Politik desinteressierten Migranten ebenso wie ihre nicht viel besser bemittelten, von Rassismus verblendeten einheimischen Mitbürger. Vor der Schaumschlägerei immer neuer Auftragsstudien über die Inkompatibilität der Musliminnen mit der österreichischen Gesellschaft werden dann populistische Wahlversprechen ohne Aufsehen zu erregen noch in den ersten Regierungswochen gebrochen, wie die koalitionäre Willensbekundung zur Unterzeichnung der transatlantischen Freihandelsverträge CETA und TTIP zeigt.

Eine Überbrückung der plebejischen Gräben setzt voraus, dass zunächst der antimuslimische Diskurs verdrängt wird durch das Hinzeigen auf den neoliberalen Balken im Auge des Betrachters, der den Splitter im Auge des Migranten fokussiert. Nur dadurch erlangen Zuwanderer überhaupt die notwendige Luft, sich in ihrer neuen Wahlheimat überhaupt einbringen zu wollen und sich nicht durch die trügerische Hoffnung einer Rückkehr in ihre Heimatländer verblenden zu lassen, um sich ihren Problemen, die größtenteils auch die Probleme ihrer autochthonen Mitmenschen sind, zu stellen. Für beide Teile der Benachteiligten bedeutet dies eine Hinwendung zu Österreich im Sinne eines gemeinsam mit Gerechtigkeit zu füllenden Rahmens.

NATIONALISMUS UND SELBSTBESTIMMUNG

Die schottische Chefministerin, gleichzeitig Chefin der SNP, der Schottischen Nationalpartei, hat Schwierigkeiten mit ihrer Partei oder vielmehr mit deren Namen. Nicola Sturgeon seufzte im Fernsehen vor ein paar Monaten (The Telegraph, 18 August 2017): Der Name ihrer Partei sei „hugely, hugely problematic“, und sie würde sich wünschen, die Partei hätte bei ihrer Gründung 1934 einen anderen Namen gewählt.

Wie das? Ist Sturgeon plötzlich zu einer überzeugten Britin geworden? Hat sie ihre schmutzige Unterwerfung unter die EU überdacht?

Das gerade nicht. Sie denkt nach wie vor daran, sich vom Vereinigten Königreich abzuspalten, um sich in die Arme der Brüsseler Bürokratie zu werfen. Und deswegen will sie die Orientierung auf die Selbstbestimmung, die eine Zeitlang von ihrer Partei als Kern ihrer Existenz-Berechtigung mit aller Kraft verfolgt wurde, nicht mehr „national“ nennen.

Wenn es nicht geradezu an Lächerlichkeit grenzen würde, könnte man darüber aufrichtig lachen. Was ist der Kern der Nation? Es ist die Selbstbestimmung; es ist die Formulierung eines eigenen politischen Projekts; es ist, mit einem Wort, die Demokratie.

Diese demokratische Selbstbestimmung ist aber historisch an einige strukturelle Gegeben­heiten gebunden. Es war stets eine nationale Identität, welche als „kommunitaristischer“ Nukleus des politischen Projekts der Selbstbestimmung gedient hat. Denn es muss die Idee vorhanden sein, auf irgendeine Weise „zusammen zu gehören“, damit sich das Projekt der Selbstbestimmung seine Grenzen ziehen kann. Denn Grenzen sind notwendig, um die Einzel-Projekte, aus denen ein solches umfassendes nationales Gesamt-Projekt besteht, praktisch verwirklichen zu können. Die globale Ebene und die globalistische Idee haben sich bisher stets als Schleier für Eliten und Oligarchien erwiesen. Das Imperium funktioniert nur von oben herab, gesteuert von einer kleinen Gruppe von Bürokraten und deren Auftraggebern. Auch dort, wo die Idee des Internationalismus sich auf die Gleichheit aller Menschen berief, wurde sie mit der Missachtung nationaler Grenzen sofort zu einem Globalismus einer neuen herrschenden Gruppe. Der angebliche „proletarische“ Internationalismus der Zeit des Sowjet­systems war faktisch die Macht von zentralen Eliten, die ihren Sitz in Moskau hatten.

Nun will also Sturgeon es beiden Seiten recht tun: ihren nationalen Partei-Unterstützern, und den hegemonialen globalen Eliten, die antinational, weil antidemokratisch sind. Sie steht da nicht ganz allein. Ich finde in der neuesten Ausgabe einer Zeitschrift, „Nations and Nationa­lism“, gewidmet dem akademischen Spezialgebiet, welches ihr Name anzeigt, eine Ankündi­gung (Mûelenaere): Ein umfangreiches Projekt, situiert in Antwerpen – National Movements and Intermediary Structures in Europe (NISE) – will sich löblicherweise dieser hoch aktuel­len Thematik widmen. Aber: Im ganzen Text kommt das Vokabel Demokratie nicht vor. Da­für ist mehrmals von diversity die Rede. Es sollte sich auch nach Belgien herum gesprochen haben, dass „diversity“ eigentlich nur genutzt wird, um eher belanglose Unterschiedlichkeiten für Luxus-Bürger festzumachen. Wo es um Lebens-Chance geht, um Unterschiede im Ein­kommen, in den Lebenswelten, usw., wird immer von „difference“ gesprochen. Auf die kommt es an, wenn man die wesentlichen Fragen ansprechen will. Das gilt auch für ethnische und nationale Fragen. Aber auch hier gilt: Die Akademiker wollen vermutlich Geld von der EU, und daher müssen sie sich an die Sprachregelungen der hegemonialen Eliten halten.

Worum es in nationalen Belangen geht, ist Demokratie und eine Auflehnung gegen Außenbe­stimmung. Sturgeon hat dies offenbar nicht begriffen. Was die Schotten aber von ihrer Politik halten, haben sie bei den letzten Wahlen deutlich gemacht: Die SNP hat mehr als ein Drittel ihrer Mandate verloren. Und das war ausnahmsweise nicht das undemokratische und anti­quierte Wahlrecht, welches sonst im UK alle Wahlen so verfälscht. Die SNP hat auch 13,1 Punkte an Stimmen verloren und hat nun mehr nur mehr 35 % anstelle bisher 50 %.

Die SNP wird ihren Namen schon nicht ändern. Soviel weiß auch Sturgeon, dass dies ein Rezept wäre, die Partei zu spalten. Aber was offenbar wirklich über ihr Begriffsvermögen geht ist: Die SNP hat durch die Sturgeon-Politik jene an die Konservativen verloren, welche eine britische Einheit wollen – und damit die Konservativen in Schottland gerettet. Und sie hat an Labour, wenn auch deutlich weniger, Menschen verloren welche nun sehen, dass die SNP ihre vorübergehende Rolle nicht mehr wahrhaben will, die Labour-Rechte mit einer antiblairistischen sozialdemokratischen Politik unter Druck zu setzen.

Eine nationale Partei, die sich plötzlich schämt, national und damit demokratisch und sozial zu sein, das ist in Wirklichkeit eine neoliberale Partei. Davon aber gibt es schon genug, auch in Großbritannien.

AFR, 14. Jänner 2018