"Nein" beim Referendum
Anti-EU-Forum Athen 26.-28. Juni 2015
Sinkende Lohnquote
Weder Draghi, noch Troika, noch Euro.
"Nein" beim Referendum
Anti-EU-Forum Athen 26.-28. Juni 2015
Sinkende Lohnquote
Weder Draghi, noch Troika, noch Euro.
Souverän und sozial. statt EURO liberal
 

Werkkreis Literatur der Arbeitswelt

 

Veranstaltung mit:

Univ.-Doz. Dr. Albert F. Reiterer, Gesellschaftswissenschafter Geboren: 1948, somit in Pension nach einem bunten Lebenslauf in der Wirtschaft, der amtlichen Statistik und im akademischen Ambiente. Aktiv und interessiert an Theorie und Praxis von Wirtschaft und Gesellschaft: Politische Ökonomie und Historischer Materialismus. Fungiert als einer der Sprecher des Proponentenkomitees von Euro Exit:

Spricht zur

Politischen Ökonomie des Imperiums

Zeit: Dienstag,17.5.2016, 18.30

Ort: Projektraum MAG 3, Schiffamtsgasse 17, 1020 Wien

Erreichbar über U2 Taborstrasse oder U4 Schottenring (Ausgang U2 Herminengasse)

Veranstalter: Volksakademie in Kooperation mit webbrain, werkkreis Literatur der Arbeitswelt und MRP (Menschenrechtspartei

Wir danken Gue Schmidt (MAG 3) für die freundliche Unterstützung

  1. Thesen

(1) Die EWG entstand als superimperialistischer Pol zur Abwehr des damals für viele noch attraktiven Sowjetkommunismus. Nebenzweck war die Zähmung des nationaldeutschen Imperialismus. Die Politiker waren vorerst stärker am außenpolitischen und militärischen Aspekt interessiert (WEU!). Die Zollunion war für sie ein Substitut – nicht unwichtig, aber nicht prioritär.

(2) Doch die EWG war von vorneherein be- und geladen mit den Ambitionen der Ideologen. Alexandre Kojève, der sich selbst den letzten (bürgerlichen) Theoretiker des Stalinismus nannte, sah sie als wesentlichen Schritt zum platonischen Imperium. Über Gesinnungs­genossen wie Robert Marjolin erhielten sie unmittelbar Einfluss auf die Zentralbürokratie. Sie bestimmten die Rhetorik, welche die Politiker nicht, sie selbst aber ganz und gar ernst nahmen.

(3) Sie entdeckten schnell die Währungsunion als Hauptvehikel ihrerAbsichten. Einige Politiker sahen die Möglichkeiten einer Fundamentalpolitik ohne Kontrolle und sprangen auf und zogen die anderen mit. Die ersten Versuche in den 1970ern und 1980ernwaren allerdings ein jämmerlicher Misserfolg.

(4) Mit dem politischen Paradigmenwechsel vom Keynesianismus zum Monetarismus wurde die Währungsunion Hauptziel der EG-Politik. Dieser wirtschafts- und sozialpolitische Paradigmenwechsel wurde durch die neue weltpolitische Situation ermöglicht. Der Zusammenbruch des „Realsozialismus“ bot die Gelegenheit, ein „Ende der Geschichte“ nach konservativ-bürgerlichem Geschmack anzustreben. Das Zerbröseln der Diktaturen im Olivengürtel war eine weitere Gelegenheit. Nun hatte man die Möglichkeit, diese neue Politik der akzentuierten Ungleichheit und des übernational-bürokratischen Staats zu verwirklichen. Die Beuteareale waren einzusammeln.

(5) Insbesondere die Sozialdemokraten (Mitterrand / Delors, Brand / Schmidt; im Rahmen ihrer Möglichkeiten Soares, Gonzales, Vranitzky und Persson) wurden zu Janitscharen neoliberalen Imperiums-Bildung.

(6) Was man in Südeuropa erfolgreich und noch mit einer gewissen Schonung durch­exerziert hatte, wurde in den 1990ern mit aller denkbaren Brutalität in Osteuropa wiederholt: Die ganze Region wurde nun auf eine ganz neue Weise zur „Zweiten Welt“.

(7) Gleichzeitig ging es um den Aufbau des politischen Apparats, des nachnationalen bürokratischen Staats. Er sollte einen Verwaltungsföderalismus darstellen, in dem aber im wichtigsten Bereich, im wirtschaftspolitischen, das bürokratische Zentrum die Politik vorgab. Dazu war die Währungsunion unerlässlich. Dass sie eine Wachstums- und Wohlfahrts­bremse sein würde, war zumindestens Einigen der Protagonisten voll bewusst. Das aber nahm man in Kauf, zumal die Frage ja schließlich ist: Wohlstand für wen?

(8) Die Einheitswährung brachte zuerst und eher unerwartet einen Schub für die Peripherie – es war eine Blase, wie wir mittlerweile wissen. Die Finanzkrise ließ sie platzen. Mittlerweile ist der Euro Kern und Symbol des Ausbaus, noch mehr der Verteidigung des Imperiums EU. Gerade weil der Euro keine optimale Währungszone konstituiert, muss er erhalten werden. Daneben geht es natürlich um das von den Gläubiger-Banken eingeforderte Kleingeld.

(9) Die politische Klasse in Europa (Christlichsoziale, Sozialdemokraten, Grüne, Liberale), und zwar sowohl die Brüsseler Bürokratie als auch die nationalen Regierungen nützen die Gelegenheit in einer reaganistischen Strategie der Überrumpelung (so wie die Reagan-Regierung 1980) die Entdemokratisierung des Kontinents einen mächtigen Schritt weiter zu treiben. Das „europäische Semester“, die „Wirtschaftsregierung“ und der ESM (der so genannte „Euro-Rettungsschirm“) sollen gerade jene Politik unumkehrbar machen, welche zur derzeitigen Situation geführt hat.

(10) Diese Situation ergibt Chancen für die Linke, die sie seit Jahrzehnte nicht hatte. Allerdings wird dies keine klassische linke Politik sein, sondern ein unorthodoxer Kampf ungewohnter Bündnispartner.

MAG3

Schiffamtsgasse 17, 1020,Wien

Synonym Projektraum MAG3 Leitung 2006 – Fro, Fritz 2006 – Schmidt, Gue

Werden sie den Tsipras machen?

Interview mit Leonardo Mazzei, Exponent der „Patriotischen Linken“ und langjähriges Führungsmitglied von Rifondazione Comunista in der Toskana

von Wilhelm Langthaler

[Bild: Der Spiegel vom 27.1018, Kampfblatt des EU-Regimes]

Die EU-Kommission hat den italienischen Budgetentwurf als „präzedenzlose Abweichung “ vom „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ zurückgewiesen. Warum diese Härte?

Die “präzedenzlose Abweichung” ist eine offensichtliche Übertreibung. In den vergangenen vierzig Jahren gab es nur vier Jahre, in denen das Verhältnis Defizit/BIP unter 2,4% lag, so wie es die Regierung für 2019 vorgesehen hat. Die Ablehnung durch die EU-Kommission lässt sich nur politisch erklären. Man will gegen eine Regierung hart vorgehen, die zwar keinen entscheidenden Schwenk hin zu einer expansiven Politik verfolgt (wie es notwendig wäre), aber die zumindest die Richtung in Bezug auf die Austerität umdreht.

Die Regierung scheint auch ihrerseits hart zu bleiben. Ist eine Eskalation unvermeidlich?

Die Regierungsmehrheit kann sich keinen Rückzug erlauben. Das wäre ein politisches Desaster. Sie versucht konkrete Maßnahmen zu setzen – Verbesserung der Pensionen, Transfereinkommen für die ärmsten Schichten, Steuersenkungen – und dabei einen Frontalzusammenstoß mit der EU zu vermeiden. Aber diese Suche nach einem Kompromiss wurde in Brüssel nicht aufgenommen, im Gegenteil. Die Eskalation ist daher ein wahrscheinliches Szenario.

Bleibt nicht trotzdem noch Raum für einen Kompromiss? Premier Conte meinte, man könne einige kostspielige Ausgaben auf später verschieben. Ein paar Promille auf oder ab macht doch keinen großen Unterschied.

Theoretisch müsste ein Kompromiss immer möglich sein. Praktisch gesehen halte ich ihn für schwierig. Vor allem wenn das Haushaltsjahr einmal zu laufen beginnt, wird es gänzlich unrealistisch. Wenn das Budget so wie von der Regierung vorgeschlagen (der Text wurde noch nicht ans Parlament weitergeleitet) beschlossen wird, sehe ich nicht, wie die Regeln bezüglich Pensionen und Grundeinkommen nachträglich verändert werden könnten. Sicher, man kann an den Steuereinnahmen immer drehen, zum Beispiel die Mehrwertsteuer erhöhen, aber das ist sowohl für die Fünfsterne und noch mehr für die Lega ein unantastbares Tabu.

Könnte die italienische Position nicht auch ein Bluff sein um Zugeständnisse zu erwirken, so wie es damals Tsipras versuchte?

Es gibt in der Regierung sicher Kräfte, die in diese Richtung arbeiten. Und nicht nur die Leute von Präsident Mattarella, sondern auch Komponenten der zwei Regierungsparteien. Aber gegenwärtig handelt es sich um Minderheiten. Der wahre Einsatz sind nicht die Stellen hinter dem Komma der Defizitzahlen, sondern wer in Italien das Sagen hat: die Regierung, die die Mehrheit der Stimmen und Sitze hinter sich hat, oder die EU-Kommission mittels ihrer Diktate? Das wirkliche Thema ist die Souveränität. Deswegen erachte ich Ende à la Tsipras für wenig wahrscheinlich. Ein Kompromiss könnte in diesem Kontext nur sehr vorübergehend sein.

Gibt es Anzeichen, dass die Regierung mit der Kündigung des Fiskalvertrags droht?

Formal nicht, aber es ist offensichtlich, dass genau das am Spiel steht. Außerdem weiß jeder, dass der Fiskalpakt, so wie er ist, unanwendbar ist.

Viele meinen, dass das Kabinett Conte auf einen harten Konflikt nicht vorbereitet ist. Was denken Sie?

Natürlich hat diese Regierung unzählige Schwächen, objektive und subjektive. Die subjektiven sind Ausdruck der Natur der populistischen Kräfte und ihrer inneren Widersprüche. Die objektiven leiten sich vom Faktum ab, dass die systemischen Kräfte, die der EU dienen, die entscheidenden Schalthebeln der Macht noch in der Hand halten: das Präsidentenamt, die Nationalbank, das Wirtschaftsministerium, praktisch die Gesamtheit des technokratischen Apparates (die Ministerien und nicht nur die), die Presse und die Medien in der überwiegenden Mehrzahl. Ein Problem der gegenwärtigen Regierungsmannschaft ist, dass sie zu viele Illusionen hat, sei es zum möglichen Wirtschaftswachstum oder zum Ausgang der kommenden EU-Wahlen. Illusionen, die zu einer gewissen Unterschätzung der konkreten Effekte der Brüsseler Kriegserklärung verleiten. Es scheint in diesem Rahmen unmöglich den Zusammenstoß durchzustehen. Aber sie hätten eine Waffe, auf die sie bisher noch nicht zurückgegriffen haben, nämlich die Mobilisierung des Volkes. Wenn der Konflikt eskaliert, kann er sich nicht nur auf die Paläste der Macht beschränken – und wenn doch, wäre die Niederlage ausgemachte Sache.

Die entscheidende Waffe der EU ist die EZB und die Kontrolle über das Geld. Weiß die Regierung sich zu verteidigen?

Wir sind nicht an der Regierung und man kann dazu keine sichere Aussage machen. Es ist klar, wenn wir wirklich zu diesen Punkt kommen würden, wäre die erste Antwort die Ausgabe einer Parallelwährung für den internen Zahlungsverkehr – eine ihrer Natur nach vorübergehende, aber trotzdem unausweichliche Maßnahme. Es zirkulieren einige Vorschläge in diese Richtung, unter anderen die Mini-Bot, die den Volkswirten der Lega sehr wichtig sind. Nachdem sie bei der Regierungsbildung so ausschweifend darüber schwadroniert haben, herrscht nun irreale Stille: der Terror des Spreads hat die Münder zugenäht. Aber alle wissen, wie die Dinge stehen und in der Regierung gibt es diesbezüglich sicher gewisse Kompetenzen. Die Frage ist nur, ob sie den politischen Mut aufbringen werden, jene Phase einzuleiten, die das Ende des Euros einläuten wird, zumindest in Italien.

Wie unabhängig ist die Banca d‘Italia von der Regierung? Wer ernennt die Zentralbank-Führung?

Wie immer wieder erklärt, ist das Prinzip der sogenannten Unabhängigkeit der Nationalbank ein zentraler Bestandteil der Ideologie und Politik des Neoliberalismus. In Italien wird dieses Prinzip seit 1981 angewandt, als es zur Scheidung zwischen Banca d’Italia und Finanzministerium kam. Hier begann der Boom des Staatsdefizits, das so in die Hände der globalen Finanzmärkte gelegt wurde. Heute schreibt das Statut der EZB den nationalen Zentralbanken vor, dass sie keinen politischen Anweisungen von staatlichen Organen Folge leisten dürfen. Der Vorstand der Nationalbank aus 13 Mitgliedern wird von den Anteilseignern gewählt, also Banken und Versicherungen mit Sitz in Italien. Dieser Vorstand kann seine Meinung zur Nominierung des Gouverneurs ausdrücken, der vom Präsidenten des Ministerrats [Regierungschef] vorgeschlagen und vom Staatspräsidenten bestimmt wird.

Gefährdet der drohende “Terror des Spreads” die breite Unterstützung der Regierung im Volk?

Die Gewalt der Waffe des Spreads ist sehr groß, vor allem entfaltet sich seine Wirkung durch die exzessive Verwendung in den Medien. Das zu unterschätzen wäre ein schwerer Fehler. Tatsächlich handelt es sich um das einzige Werkzeug in der Hand der Eliten, das geeignet ist, die Unterstützung der Regierung durch das Volk zu untergraben. Dennoch, wenn man täglich die Katastrophe herbeischreibt und diese nicht eintritt – wie es beispielsweise 2011 der Fall war –, verbreitet sich die Wahrheit über die politische Nutzung des Spreads. Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Wenn in Brüssel und Frankfurt entschieden wird den Spread einzusetzen, dann bedarf es schneller und entschiedener Maßnahmen, um den sozialen Block, der die Regierung trägt, zusammenzuhalten.

Welche legal-technische Form könnte ein Euro-Austritt annehmen? Welche Schritte wären formal notwendig? Kann Mattarella das verhindern?

Dazu gebe es viel zu sagen, doch ist klar, dass, wenn die EZB die Liquiditätsversorgung zudreht, wenn die Banken durch die Entwertung der Staatspapiere und die Regularien der Bankenunion an den Rand des Abgrunds gedrängt werden, ein Ausnahmezustand eintritt. Theoretisch könnte der Austritt mit der Eurozone abgesprochen werden, doch praktisch ist das kaum möglich. In einer solchen Ausnahmesituation kann niemand Italien daran hindern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um seine Wirtschaft zu sichern, unter diesen die Einführung einer Parallelwährung und die Verstaatlichung des Bankensystems. Alles Dinge, die für die EU inakzeptabel sind. An diesem Punkt wird nichts anderes bleiben, als den Austritt aus dem Euro zu formalisieren. Und was Mattarella betrifft, so kann er tatsächlich die Unterschrift unter diese Rechtsakte verweigern. Doch das würde einen fast unlösbaren Machtkampf mit dem Parlament hervorrufen. Im entscheidenden Moment – wie man auch bei der Krise im Zuge der Regierungsbildung Ende Mai gesehen hat – muss eine Seite nachgeben, diesmal jedoch ohne die Möglichkeit eines Kompromisses.

Wie läuft in Italien die Auktion von Staatsanleihen ab?

Für die Auktionen gibt es diverse Modalitäten. Für die wichtigsten Titel, also Langläufer von mehr als einem Jahr (vor allem BTPs), gilt ein absurdes System, das die Käufer bevorzugt. Der Preis (d.h. der Zinssatz) wird durch das tiefste, also für den Staat ungünstigste Angebot bestimmt. Dieser Modus erlaubt den Banken Absprachen und unterscheidet sich von den anderen europäischen Ländern und auch von Deutschland. Es ist die Konsequenz der europäischen und nationalen Normen, die der Banca d’Italia verbieten, die Schulden zu monetisieren und als Käufer letzter Instanz zu fungieren.

Ist es denkbar, dass Italien aus dem Euro austritt aber in der EU bleibt?

Juristisch gesehen wäre das möglich, politisch hat das aber keinen Sinn. Das umso mehr, als ein solcher Bruch alle Sicherheiten über die Zukunft der Union zerstören würde. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten suchen muss. Aber alles zu seiner Zeit.

Sie haben immer von einer Drei-Parteien-Koalition gesprochen. Welche politische Form könnte ein Austritt annehmen, wenn man bedenkt, dass diese dritte Partei auch in den Koalitionsparteien selbst vertreten ist?

Hier stoßen wir ins Reich des Unbekannten vor. Allgemein gesprochen haben wir für einen solchen Bruch nicht die geeignetste Regierung. Es ist klar, dass die philo-europäische Mattarella-Gruppe nicht an ihrem Platz bleiben kann, wenn der Moment der Entscheidung da ist. Auf der anderen Seite sieht man am Brexit, wie historische Prozesse widersprüchlich verlaufen können, manchmal sogar den Fähigkeiten und Wünschen der Handelnden zum Trotz, die sogar die Rolle der Protagonisten spielen. Wir halten eine Art neues CLN (Komitee der Nationalen Befreiung), das die politische Führung des Widerstands gegen den Nazi-Faschismus innehatte, für notwendig. Ein Bündnis, sei es auch nur temporär, das alle demokratischen Kräfte, die von der Notwendigkeit der Befreiung unseres Landes vom Euro-Regime überzeugt sind, vereinigt.

Sie sind von der „Patriotischen Linken“. Welche Rolle könnte diese spielen?

Leider hat der Großteil der linken Kräfte die Frage der nationalen Souveränität aufgegeben. So wurde das Feld einem Rechtspopulismus (der Lega) sowie einem im Kern linken aber oft konfusen Populismus (Fünfsterne) überlassen. Glücklicherweise beginnt sich in gewissen linken Milieus endlich ein linker Patriotismus, der dem nationalistischen Chauvinismus entgegengesetzt ist, Bahn zu brechen. Aber das reicht noch nicht und die Zeit drängt. Die Stärkung der Patriotischen Linken und seine Positionierung auf Seiten der Populisten ist der einzige Weg, dass der Prozess des Bruchs mit der EU unter demokratischen Vorzeichen und zugunsten der Mehrheit und insbesondere der unteren Schichten der Bevölkerung verläuft. Das populistische Regierungsbündnis ist nicht ehern, sondern muss auf den Druck von unten reagieren. Der soziale Block, der es unterstützt, ist der Unsere: vereinfacht gesagt, jene, die von der Krise am meisten betroffen sind. Es gibt unzählige Schwierigkeiten aber es gibt keinen anderen Weg für eine Linke, die sich des historischen Einsatzes bewusst ist.

 

Das Interview erschien zuerst in leicht gekürzter Form auf makroskop.eu

Wer mit dem Neoliberalismus Schluss machen will, muss auch über den Lexit sprechen

von Cristina Assensi, KoordinatorInnen des Lexit-Netzwerks, aktiv bei Democracia Real Ya und in der Kommission für ökonomische Souveränität bei Attac Spanien

Quelle: mosaik-blog.at

Der Sommer begann für die Linke mit einem Erdbeben: Das Brexit-Ergebnis wurde mit Fassungslosigkeit aufgenommen. Doch die Zustimmung für den EU-Austritt konnte nur jene überraschen, die sich davor der Realität verweigert hatten. Leider kennzeichnet genau diese Realitätsverweigerung die Einschätzung eines Großteils der Linken zur europäischen Integration. Grob skizziert lässt sich der Mainstream-Diskurs in der Linken wie folgt zusammenfassen:

  1. Märkte sind völlig globalisiert und Staaten völlig machtlos.
  2. Wir brauchen internationale Institutionen, um die Macht der Märkte zu zähmen.
  3. Die EU (oder die Eurozone) ist eine solche Institution.
  4. Daher ist die EU (und die Eurozone) gut.

Punkt 1 beruht auf einer Fehlinterpretation des sogenannten Rodrik’schen Trilemmas. Dies wurde von unzähligen Artikeln überzeugend widerlegt (etwa hier und hier). Leider folgte daraus keine spürbare Veränderung der Argumentationslinie des Mainstreams linker Organisationen. Im Glauben, die EU könnte tatsächlich eine Zähmung der Märkte (oder gar eine soziale Angleichung Europas) erreichen, haben viele Linke ausgeblendet, was tatsächlich mit der EU durchgesetzt wurde. Sie waren blind für den Charakter der real existierenden Europäischen Union. Denn diese ist ein zutiefst autoritäres Gebilde, mit neoliberaler Wirtschaftspolitik als Kern. Nur die emotionale Bindung an die Geschichte von der „guten EU“ und dem „guten Euro“ kann erklären, warum weite Teile der Linken die negativen Folgen der EU-Integration nicht erkannt haben – und warum sie jetzt so überrascht reagieren.

Fakten-Check: Freiheit der Märkte

Wirkt die EU tatsächlich als Schutzschild gegen die neoliberale Globalisierung? Und wenn die Antwort auf diese Frage „Nein“ lautet: Kann die EU reformiert werden, um diese Funktion einzunehmen?

Analysieren wir kurz die Fakten: Bereits im Vertrag von Rom 1957 lag der Schwerpunkt auf den sogenannten wirtschaftlichen Freiheiten, also Rechten und Freiheiten im Sinne des Funktionierens der Märkte. Mit der Zeit erhielt die Europäische Union immer weitere Kompetenzen, doch dieser konstituierende Kern wurde beibehalten und zur wichtigsten rechtlichen Grundlage erklärt. Die Rechte von Menschen als politischen AkteurInnen, das heißt als BürgerInnen, deren politische Teilhabe und informierte Zustimmung die Grundlage demokratischer Legitimität sein müsste (ein konstitutives Element der Verfassungen auf staatlicher Ebene), wurde durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Frage gestellt und geriet immer mehr in den Hintergrund.

Die rechtliche Festschreibung neoliberaler Prinzipien wurde mit dem Vertrag von Maastricht 1992 besiegelt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Systemalternativen zu Kapitalismus und Neoliberalismus eine historische Niederlage erfahren. Die neoliberalen Grundsätze wurden zum Kern der EU-Verträge, denen sich die nationalen Rechtssysteme unterordnen mussten. Gleichzeitig wurden die Verträge durch das Einstimmigkeitsprinzip immunisiert, um spätere Änderungen fast unmöglich zu machen. Für solche Änderungen bräuchte es die Zustimmung von allen mittlerweile 28 Mitgliedstaaten.

In anderen Worten: In EU und Eurozone wurde Wirtschaftspolitik völlig von politischer Teilhabe abgekoppelt. Es ist praktisch unmöglich, die zentralen Ziele der EU-Strukturen zu verändern, denen alle anderen Bereiche untergeordnet sind.

Ohne eigene Geldpolitik keine Alternative

Vor diesem Hintergrund sind die Strategien zur Demokratisierung der Europäischen Union und des Euro völlig abstrakt. Um zu bestimmen, ob eine Struktur demokratisiert werden kann, müssen wir zuerst ihren realen Zustand analysieren. Diese besteht aus den Verträgen, Verordnungen und Vereinbarungen des Binnenmarkts und der Eurozone – also der Achse, um die sich die Austeritätspolitik dreht.

Selbst jene Teile der Linken, die für eine Reform der EU eintreten, gestehen zumeist ein, dass diese Struktur nicht durch den normalen legislativen Prozess in der EU verändert werden kann. Dies könne jedoch, behauptet etwa der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, durch „vorsätzlichen Ungehorsam“ innerhalb von EU und Eurozone erreicht werden. Was dabei unbeantwortet bleibt: Wie soll ein Land gegen die politischen Vorgaben der EU handeln, wenn es keine eigene Geldpolitik machen kann und wenn seine Liquidität folglich von der Europäischen Zentralbank abhängt? Mit der Einführung des Euro wurden wirtschaftspolitische Entscheidungen an technokratische Institutionen übertragen. Innerhalb dieses Rahmens ist es nicht mehr möglich, eigene Liquidität zu schaffen oder die Währung anzupassen, um eine andere Wirtschaftspolitik zu ermöglichen.

Dies sind objektive Bedingungen, die nicht umgangen werden können. Die Erzählungen von der „guten EU“ bzw. vom „guten Euro“ klammern diese Fragen einfach aus. Sie haben daher auch keine Strategien, wie diese objektiven Bedingungen überwunden werden könnten. Stattdessen fordern sie, wie etwa Varoufakis‘ Bewegung DiEM25, die Gründung supranationaler Bewegungen, die dann die gleiche, in Griechenland gescheiterte Strategie des Widerstands innerhalb des Euro anwenden sollen. Doch nur die Ebene zu verschieben ändert nichts an den objektiven Bedingungen. Solange die EZB entscheiden kann, ob Geld in ein Land fließt oder nicht, kann Widerstand nicht aufrechterhalten, können die Verhältnisse nicht verändert werden.

Rechtsextremes Monopol auf EU-Kritik

Um DiEM25 nicht Unrecht zu tun: Sie sind nicht die einzigen, die unrealistische Vorschläge machen. Ein Großteil der Linken war in den letzten Jahren nicht in der Lage, eine glaubwürdige und umsetzbare Alternative zum Neoliberalismus zu entwickeln. So genießt die extreme Rechte zunehmend das Monopol auf Opposition und, noch wichtiger, das Monopol auf den Bruch mit einem System, das immer mehr Entscheidungsmacht an die Eliten überträgt.

Es geht also nicht darum, abstrakt zu entscheiden ob wir auf der lokalen oder auf einer gedachten supranationalen Ebene kämpfen sollen. Wir sollten immer dort kämpfen, wo die Chancen am größten sind, dass gesellschaftliche Mehrheiten sich politisch einbringen können. Es geht darum, demokratische Spielräume zurückzuerobern. Dafür müssen sich unsere Kämpfe gegen die neoliberale Integration richten, angefangen mit dem Regime des Euro.

Bedeutet das, dass ein linker Austritt aus dem Euro als Alternative zum Neoliberalismus ausreicht? Nein. Der Austritt ist nur eine notwendige Bedingung, um Entscheidungen im Sinne der gesellschaftlichen Mehrheiten überhaupt erst zu ermöglichen. Der Austritt ist somit die Bedingung für jeden Kampf gegen die herrschende Politik.

Die Zeit drängt

Diese Kämpfe können nicht warten, denn die bittere Wahrheit ist: Wenn wir die Ausstrahlungskraft der extremen Rechten brechen wollen, müssen wir schnellstmöglich die neoliberale Verarmungspolitik und die autoritäre neoliberale Globalisierung beenden und alternative Politik umsetzen.

Die fehlende Glaubwürdigkeit linker Politik lässt sich nicht durch Kampagnen herstellen, die weiterhin, wie manche vorschlagen, für eine soziale EU „im Jahr 2025“ eintreten, „auch wenn wir nicht daran glauben, dass die EU in ihrer jetzigen Form überleben kann, oder soll“. Vielmehr müssen wir die Realitätsverweigerung beenden und erkennen, dass die neoliberale EU unsere Loyalität nie verdient hatte. Wir müssen damit beginnen, die existierenden konkreten Alternativen zu diskutieren, wie dies international etwa auf den Plan B-Treffen oder im Lexit-Netzwerk getan wird.

Welche Alternative zum €uro und zur neoliberalen EU brauchen wir?

Tagung der Antikapitalistischen Linken NRW (AKL) am 28. Januar 2017 im Bürgerhaus im Stadtteilzentrum Bilk, Bachstr. 145, 40217 Düsseldorf

 

Aus dem Versprechen für Wohlstand und Frieden für alle ist Reichtum für wenige auf Kosten der Vielen geworden. Insbesondere der europäische Süden leidet unter den erdrückenden Spardiktaten aus Brüssel und Berlin. Die Exportoffensive des deutschen Kapitals auf Kosten seiner europäischen Konkurrenten setzt sich ungebrochen fort. Die Folge sind Deindustrialisierung, Privatisierung, Sozialabbau und Arbeitslosigkeit in bisher unbekanntem Ausmaß.

Die im Rahmen der Finanz- und Bankenkrise 2008/2009 erfolgte Übernahme in Staatsschulden hat in Kombination mit der von Merkel und Schäuble diktierten Austeritätspolitik zum Sparen bis zum Kollaps geführt. Stagnation und Entdemokratisierung sind die Folge.

Als in Griechenland nach dem Wahlsieg von Syriza versucht wurde, einen Ausweg aus Krise-Austerität-Stagnation zu finden, drehte Berlin sofort den Geldhahn zu, um jedem Versuch einer Krisenlösung zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung den Boden zu entziehen.

Neoliberale und Rechtspopulisten in West- und Nordeuropa versuchen nun, die Krise im Sinne ihrer Eliten auf Kosten des europäischen Südens zu lösen. Statt Wohlstand gibt es Austerität, statt Solidarität erleben wir Chauvinismus.

 

11.00 – 11.25 Uhr
Eröffnung

• Thies Gleiss, Bundesvorstand der Partei Die Linke, Bundessprecher*innenrat der AKL
• Inge Höger, MdB DIE LINKE, Bundessprecher*innenrat der AKL

11.30 – 14.00 Uhr
Wie treibt die deutsche Austeritätspolitik die EU–Staaten und die Eurozone weiter auseinander? Eine Bestandsaufnahme

• Janinne Wissler, stellvertr. Parteivorsitzende DIE LINKE
• Franziska Lindner, SDS
• Panagiotis Sotiris, LAE – Volkseinheit, Griechenland
• Sergio Cesaratto, Prof. für Ökonomie an der Universität Siena, Italien

14.30 – 16.30 Uhr
Kann der Zusammenbruch der Eurozone verhindert werden?
Ist eine geordnete Auflösung der Euro-Zone möglich?

• Martin Höpner, Politikwissenschaftler, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln
• Paul Steinhardt, Herausgeber Makroskop.eu (gemeinsam mit Heiner Flassbeck)

17.00 – 20.00 Uhr
Alternativen zum Eurosystem und zum Entwicklungspfad der EU
Linke EU- und Euro-Kritik vs. Neoliberalismus und Rechtspopulismus

• Costas Lapavistas, Prof. für Ökonomie an der Universität von London und ehem. Parlamentsabgeordneter von Syriza, Griechenland
• Hans van Heijningen, Generalsekretär der Sozialistischen Partei der Niederlande
• Inge Höger, MdB DIE LINKE, Bundessprecher*innenrat der AKL

Unterstützer: Initiative eurexit.de, Mediengesellschaft Makroskop.eu, Bildungsgemeinschaft Salz e.V., Zeitschrift lunapark21, Personenkomitee euroexit.org

www.antikapitalistische-linke.de

Was kommt nach der EU?

VertreterInnen der Solidarwerkstatt berichten vom internationalen „No Euro-Forum“ in Chianciano Terme, Italien.

„Was kommt nach der EU?“ war die Losung des 3. internationalen „No-Euroforums “ in Chianciano Terme, Italien. Die Losung mag zunächst die Wirklichkeit des überschaubaren Einflusses der teilnehmenden AkteurInnen auf ihre jeweilige nationale Politik überspielen, die sich vertiefende Krise der EU ist dennoch eine Tatsache, über die emanzipative Kräfte offen international reflektieren müssen. Die Bilanz des Meetings in Italien ist jedenfalls positiv.

EU-Oligarchie gegen antifaschistische Verfassung Italiens

Costas Lapavitsas (eh. griechischer Parlamentarier Syrizas) benennt mit dem griechischen Desaster 2015 und dem Brexit 2016 tatsächlich die wesentlichen Ereignisse seit dem letzten Meeting im Juni 2015 in Athen. In Italien wird das angekündigte, verschobene, aber nach wie vor bevorstehende Verfassungsreferendum zum Rubicon, an dem sich die Republik gegen die EU-Oligarchie verteidigt. Es geht nicht nur um eine Transformation des Wahlrechts, sondern eine Deformation aller solidarökonomischen und demokratischen Prinzipien der antifaschistischen Verfassung Italiens.
Cirka 250 TeilnehmerInnen konnten am 3. No-Euroforum begrüßt werden. Die stärksten Delegationen kamen aus Italien, Griechenland und Frankreich. Doch auch die spanische Vertretung unterstrich mit Julio Angutia, Gründer der Izquierda Unida, die Bedeutung des Forums. Am dynamischten ist derzeit die Entwicklung in Italien. Aus dieser Perspektive ist es ein Erfolg, dass der Dialog über einen Euroexit bei dieser Konferenz auch mit Mitgliedern der Cinque Stelle Bewegung geführt werden konnte.

Euro-Regime als Ursache von Krieg und Nationalismus
Vasilj Volga, Gründer der linken Plattform Borotba, vertrat eine starke ukrainische Delegation beim No-Euroforum. Innerhalb des Forums gibt es einen breiten Konsens, dass eine der Ursachen der Macht rechtsnationalistischer Kräfte und der gewaltförmigen Eskalation in der Ukraine, in der Aggressivität des Euroregimes zu suchen und zu finden sei. Mehrmals wurde betont, dass der Frieden in der Ukraine und eine Wende in der Politik gegenüber Russland, nicht herauslösbarer Teil der Agenda des No Euro-Forums ist.

Nach dem Brexit der Irexit?
Besonders eindrucksvoll war auch der Beitrag Anthony Coughlans aus Irland. Coughlan führte aus, dass Irland möglicherweise, das nächste Land sein wird, dass die EU verlassen könnte, Irland hatte bereits den Vertrag von Nizza und dann den EU-Reformvertrag in Volkabstimmungen abgelehnt. Erst mit Text-änderungen zugunsten der irischen Souveränität ist es dem EU-Establishment gelungen, beide Verträge in trockene Tücher zu bekommen. Nach dem Ausscheiden Großbritanniens würde nur noch ein Drittel des Außenhandels Irlands mit der EU stattfinden, so Anthony Coughlan in seiner Argumentation.
Österreich war mit acht TeilnehmerInnen stark vertreten. Explizit und implizit wurde in den vielen Beiträgen immer wieder deutlich, dass die wirkliche Auseinandersetzung um die Macht zwischen den emanzipativen Kräften und der neoliberalen Oligarchie auf nationaler Ebene stattfindet. Die mit drei Delegierten vertretene Solidarwerkstatt unterstrich in ihrem Beitrag die Bedeutung der EU-Opposition Österreichs gerade im Zusammenhang mit der Hegemonie Deutschlands. Die internationale Debatte um einen Ausstieg aus dem reaktionären Euro-Regime ist bei GewerkschafterInnen, NGOs und politischen AktivististInnen in Österreich noch nicht angekommen. Vielleicht gelingt es bis zum 4. Forum noch manche aufzuwecken.

Was kann vom OXI gerettet werden?

Oder: Kosten von Tsipras’ Kehrtwende

von Wilhelm Langthaler

 

Das griechische Drama hört nicht auf, immer weitere Steigerungsstufen zu erklimmen. Hat sich Tsipras von der Mehrheit der Griechen und insbesondere der unteren Schichten ein kräftiges Nein zum Austeritätsdiktat geben lassen, nur um eine Woche später dieses doch zu unterschreiben? Steht eventuell nochmals ein jäher Kurswechsel bevor oder ist der Endpunkt nun wirklich erreicht?

 

Die sich abzeichnende Kapitulation von Syriza ist enttäuschend. Das mutige und überwältigende Nein hätte um einiges mehr hergegeben. Es hätte als Mandat nicht nur gegen die Austerität, sondern auch für den Bruch mit der Oligarchie interpretiert werden können. Nach einem halben Jahr der vergeblichen Versuche einen „würdigen Kompromiss“ zu erzielen, wäre das für die subalternen Klassen durchaus verständlich gewesen. Tatsächlich weckte es bei vielen Hoffnung und auch Kampfbereitschaft für eine echte Änderung weg vom Neoliberalismus, die nur mit einem heftigen Zusammenstoß mit den kapitalistischen Eliten des Zentrums denkbar ist.

 

Stattdessen verwendete Tsipras das Votum als Unterpfand für die Verhandlungen mit der Euro-Oligarchie – absehbar erfolglos. Letztlich hat er – wie schon mehrfach zuvor – Angst vor dem eigenen Mut. Sie wollen den Bruch unbedingt vermeiden und meinen sich damit auf die Mehrheit stützen zu können, die in „Europa“ bleiben wolle.

 

Syrizas Kurs erscheint als extremer Zickzack – und ist es auch. Aber es findet sich dennoch eine Logik dahinter, die Kontinuität hat. Es ist die unmögliche Formel der Wahl vom vergangenen Januar: Nein zur Austerität, ja zum Euro-(Regime). Diesen Widerspruch will die Syriza-Führung nicht auflösen und hält kontrafaktisch unbeirrbar daran fest. Daran werden sie letztlich auch scheitern. Denn wenn sie sich selbst zum Exekutor der Troika machen, dann sind sie innerhalb weniger Monate erledigt.

 

Noch gibt es zwei Hindernisse für eine Verlängerung der Oligarchie-Programme:

 

Einerseits die Syriza-Linke: 10 Abgeordnete von Syriza stimmten im Parlament mit nein oder enthielten sich der Stimme. Der hochrangigste unter ihnen ist Energieminister Lafazanis, der auch die Unterschrift unter den Vorschlag an die Troika verweigerte. Sein Rücktritt wird erwartet. Prominent sind auch die Parlamentspräsidentin Konstantopoulou, sowie der stellvertretende Arbeitsminister Stratoulis. Weitere sieben nahmen nicht teil. Angeblich soll der zurückgetretene Finanzminister Varoufakis unter ihnen sein.*

 

Damit war Tsipras auf die Stimmen des alten Regimes angewiesen, ein überdeutliches Symbol des Einknickens.

 

Doch wie konsequent wird die Syriza-Linke vorgehen? Die Frage ist, wie sehr sie sich trauen den notwendigen Bruch, der mitten durch Syriza führt, aktiv zu betreiben. Mit Wahrscheinlichkeit wird es zu Neuwahlen kommen, bei denen sich Tsipras ein neuerliches Mandat holen will und dabei die Linke ausschalten muss. Diese muss daher sofort zum Gegenangriff übergehen: Sie müsste nun eine breite Mobilisierung einleiten und mit Mut und Weitsicht eine offene und breite Kandidatur mit einem klaren Programm für und mit den Subalternen für einen Bruch mit der Oligarchie vorbereiten. (Den Plan B, den Tsipras verweigerte.) Dabei darf sie sich nicht davor scheuen, in die Minderheit zu gelangen.

 

Bei einem solchen Szenario kann nicht ausgeschlossen werden, dass die rechte Mehrheit um Tsipras nicht doch noch Brücken zu schlagen versuchen wird, um die Spaltung abzuwenden – wahrscheinlich erscheint das allerdings nicht.

 

Auf der anderen Seite muss befürchtet werden, dass die Syriza-Linke an den eroberten Positionen festhalten wird wollen. Man hatte bei der Teilnahme und beim Aufstieg von Syriza gerade in der Frage des Verbleibs unter dem Euro-Regime schon einiges an Opportunismus gesehen, was ja von der Extra-Syriza-Linken richtigerweise angekrittelt wurde. Dieser alte sozialdemokratische Geist des Verbleibens in den scheinbar mächtigen Formationen, könnte die Bildung einer kräftigen Opposition behindern.

 

Das andere mögliche Hindernis könnten die deutschen Hardliner sein. In der Berliner Regierungskoalition gibt es einen chauvinistisch-austeritären Flügel, der Griechenland ohne Rücksicht auf das komplizierte und auf gewisse Kompromisse beruhende Machtgefüge der EU hinausschmeißen will. In ihrem sozialen Block haben diese eine erhebliche Bedeutung. Schon vor dem Referendum hatte Schäuble & Co mit ihrer überharten Linie eine Einigung verhindert, die Tsiras mit dem Votum im Rücken nun erzwingen will. Allerdings muss man davon ausgehen, dass der Druck der politischen Eliten (einschließlich Washingtons) für eine Einigung übermächtig sein wird.

 

* Der Stimme enthielten sich Panagiotis Lafazanis, Dimitris Stratoulis, Aglaia Kyritsi, Zoe Konstantopoulou, Costas Lapavitsas, Stathis Leoutsakos, Giannis Stathas und Thanassis Skoumas. Joanna Gaitani und Eleni Psarea stimmten mit Nein. Außer Varoufakis blieben noch Vasilis Chatzilamprou, Dimitris Kodelas, Eleni Sotiriou, Vasilis Kyriakakis, Rachil Makri und Eleni Avlonitou der Abstimmung fern. Zudem teilten fünfzehn weitere Abgeordnete Tsipras schriftlich mit, dass sie zwar mit Ja gestimmt hätten, aber den im Paket enthaltenen Maßnahmen bei einer entscheidenden Abstimmung zur Ratifizierung des Pakets die Zustimmung verweigern würden.

WAS BRINGT DIE GLOBALISIERUNG FÜR ÖSTERREICH? Die Beschäftigungswirkung von Kapitalströmen nach Österreich und aus Österreich

Vorbemerkung: Das Folgende ist ein Detail-Ergebnis aus einer umfangreicheren Arbeit über Direkt-Investitionen aus und in Österreich

Anfang der 1970er schrieben zwei Referenten der Wiener Arbeiterkammer eine Studie über „Auslandskapital in Österreich“ (Grünwald / Lacina 1970). Die Arbeit erregte ein gewisses Aufsehen und machte die beiden bekannt. Für beide war sie der Beginn einer persönlich er­folgreichen Karriere. Grünwald wurde 1978 Vorstandsvorsitzender der ÖIAG, der Dachge­sellschaft der verstaatlichten Industrie; später Aufsichtsratsvorsitzender der ÖMV. Lacina wurde erst Kabinetts-Chef bei Kreisky, 1982 dann Staatssekretär, 1984 Verkehrsminister und schließlich ab 1986 langjähriger Finanzminister. Über ihn wäre noch Einiges zu sagen, was abeer nicht hierher gehört. Mit der Arbeit über Auslandskapital hatte er sich einen „linken“ Ruf erworben. Als Finanzminister führte er eine hart neokonservative Politik nach dem Muster eines seiner Vorgänger, des Stefan Koren, oder dem des Wolfgang Schäuble. Insbesondere schenkte er den Konzernen durch die Körperschaftssteuer-Senkung viele, viele Milliarden.

Auslands-Kapital, Direkt-Investitionen aus dem Ausland, hatte in Österreich seit je einen zweifelhaften Ruf. Hatten doch die Nazis in der Zwischenkriegszeit starke deutsche Unter­nehmungen in Österreich als Fünfte Kolonne eingesetzt. Die Austrofaschisten setzten 1934 sogar einen „Regierungskommissar zur Bekämpfung staatsfeindlicher Umtriebe in der Pri­vatwirtschaft“ ein, der ausnahmsweise nicht gegen Arbeiter gerichtet war. „Die Industriere­gion Leoben-Donawitz sowie Eisenerz zählten am 25. und 26. Juli 1934 .. zu den Haupt­gebieten der nationalsozialistischen Putschaktion. … Leitende Angestellte des größten Industriekonzerns Österreichs, der Österreichischen Alpine Montangesellschaft (ÖAMG), [spielten] eine führende Rolle. Die Ursachen dafür lagen vor allem in jenen Entwicklungen innerhalb der ÖMAG, die eng mit der Übernahme von 56 % ihrer Aktien durch die Düsseldorfer Vereinigten Stahlwerke im Jahr 1926 zusammenhingen“ (Staudinger 1984, 15; weiters Fischer 1983).

In den 1950ern kontrollierte die österreichische Regierung die Investitionen sehr strikt. „Bis Anfang 1959 waren ausländische Direktinvestitionen bewilligungspflichtig. Die Nationalbank achtete darauf, daß die Beteiligungen nach Möglichkeit unter 50% lagen Sie wurden bewil­ligt, wenn sie zur Ausweitung der Produktion oder zur Schaffung neuer Produktionszweige beitrugen“ (WIFO 1960).

Es ist also von politischer Bedeutung, dass Lacina am Beginn seiner Karriere kritisch zum Auslandskapital stand, dann aber, nach der Vranitzky’schen Wende der Sozialdemokratie zum Neoliberalismus offenbar voll und ganz auf eine kritiklos-positive Betrachtung umge­schwenkt ist. Es hat Sinn, dies hier zu erwähnen. Das Problem besteht darin, dass auch manche Linke heute den Globalismus noch immer als Internationalismus sehen.

Und es war in der Vergangenheit immer von Auslandskapital in Österreich die Rede. Die ausgehenden Ströme bzw. die Bestände von Kapital österreichischer Eigner im Ausland waren unbedeutend. Die österreichische Wirtschaft und Gesellschaft damals hinkte der westeuropäischen Entwicklung so sehr nach, dass dies fast natürlich schien.

Ein Blick auf die heutige Situation ist höchst aufschlussreich.

Nicht erst die Propagandisten der EU, alle, welche sich stets um eine Rechtfertigung für Steu­er-Geschenke an Unternehmungen bemühten, haben stets auf die Beschäftigungswirkungen des Auslandskapital in Österreich hingewiesen. Man müsse die Körperschaftssteuer senken, so der Exminister Lacina immer wieder, die Einkommenssteuer der Unternehmen somit. Denn sonst würden die nach Bratislava abwandern.

Die Beschäftigung durch Kapital aus dem Ausland in Österreich und umgekehrt wird von der ÖNB so errechnet, dass die Beschäftigung der Unternehmen mit ausländischer Beteiligung mit dem Anteil der Beteiligung gewichtet wird. Die Zahl, sowohl beim einkommenden wie auch beim ausgehenden Kapital ist somit ein synthetischer Wert. Aber er ist von hohem Interesse.

1990 ergab diese Methode eine Beschäftigungswirkung von 226.100 Arbeitsplätzen vonseiten des einkommenden Kapitals. Nicht wenig, könnte man meinen. Doch die Verflechtung hat sich intensiviert: Seit 1990 haben die Bestände des Auslandskapitals sich ver-18facht auf der einkommenden Seite; auf der ausgehenden Seite ver-51facht. Dem 18fachen Kapital steht eine Steigerung der Beschäftigtenzahl auf 251.082, also um 11 % gegenüber. (folgenden link bitte anklicken!)

 

Auslandsivestitionen_Graphik3

 

Und die „Aktiv“-Seite, die ausgehenden Kapitalien?

Nach derselben Methode gerechnet, waren 1989 29.500 Arbeitsplätze von österreichischem Kapital im Ausland geschaffen. 2015 waren es 801.200. Das ist eine Steigerung von 2.617 %. Das also ist der Gewinn der Kapitalfreiheit für österreichische Beschäftigte. Anders ausge­drückt: Im Jahr 1989 schuf die Differenz von einkommenden Kapital zu ausgehenden 196.600 Arbeitsplätze in Österreich. Im Jahr 2014 ließ dieselbe Differenz, die sich im Vorzeichen des Saldo mittlerweile ja umgedreht hatte, 550.100 Arbeitsplätze in Österreich verloren gehen. Sie hätten mit Kapital aus Österreich hier geschaffen werden können. Dass dies unter bestehenden Verhältnissen nicht mechanisch geschehen wäre, ist schon klar. Doch wäre das nicht einer der Gründe, die bestehenden Verhältnisse zu ändern?

Gehen wir in einzelne Branchen. Der Anteil der „headquarters“ macht die Hälfte des Aus­landskapitals in Österreich aus. Doch davon werden nicht einmal 3000 Arbeitsplätze geschaffen! Eine wirklich nennenswerte Beschäftigungswirkung ergibt sich nur im Handel. Dort lautet die Angabe 73.58 Beschäftigte. Die aber wären so oder so vorhanden. Hier hat das ausländische Kapital nur die österreichischen Unternehmungen und ihre Profite übernommen. Billa war vor und nach dem Verkauf des Jahres 1996 an den deutschen Rewe-Konzern vorhanden. 1998 hatte Billa rund 25.000 Beschäftigte, im Jahre 2016 dagegen 18.400. In diesem Fall von einer Beschäftigungswirkung durch Auslands-Investitionen zu sprechen, wäre regelrecht verblendet. Selbst im Finanz- und Versicherungswesen, welches den zweitgrößten Anteil (s.o.) am Auslandskapital ausweist, zeigt die Beschäftigungstendenz seit fast drei Jahrzehnten eher nach unten (1989: 16.035; 2014: 15.725 Beschäftigte).

Die angeblich so wichtigen Direkt-Investitionen in und aus Österreich zeigen also für die Beschäftigten eine eindeutige, und enorme, negative Bilanz. Doch der Kapitalexport, vor allem in die Ostländer, findet nicht zufällig satt. Gewinnen schon die Arbeiter und Angestellten nichts, verlieren vielmehr, so gewinnen die Exporteure umso mehr an Profiten.

Albert F. Reiterer, März 2017

Was bleibt nach dem (Wahl)sieg von Berlin und Brüssel in Griechenland?

von Gernot Bodner

 

Der Wahlausgang in Griechenland stand nach dem neuen Memorandums-Abkommen vom 15. Juli im wesentlichen fest: Eine Regierung mit eingeschränkter Souveränität, die die im Memorandum vorgegebenen Gesetze (bis Jahresende 120) unter der Leitung des designierten Protektors aus Brüssel, dem Holländer Maarten Verwery, durchs Parlament bringt und ausführt. Einzig die Frage, ob dies unter der Schirmherrschaft von Syriza oder von Nea Dimokratia gesehen wird stand zur Entscheidung. Und einige Vertreter in Brüssel scheinen, vor allem seit dem Hinauswarf des Störenfrieds Varoufakis und dann der linken Rebellen im Parlament, durchaus Gefallen an der hörigen Truppe von Alexis Tsipras gefunden zu haben.

 

Vor diesem Hintergrund war zu erwarten, dass die wesentlichste Verschiebung in der Wählerschaft zu den enttäuschten Nichtwählern erfolgte, die mit 4.3 Millionen im Vergleich zu Januar 2015 einen Zuwachs um 7 Prozentpunkte verzeichneten (36,4 % zu 43,4 %). Von den bis zuletzt Unentschlossenen (die letzten Vorwahlprognosen lagen bei etwa 17 %) waren offenbar die Mehrheit enttäuschte Syriza-Anhänger, die sich am Wahltag teils doch wieder für Tsipras entschieden und teils nicht zur Wahl gingen. Die Prognosen von Nea Dimokratia (ND) dagegen bestätigten sich in der Wahl. Mit Ausnahme eines kleinen Zuwachses im neoliberalen Zentrum (Union der Zentristen und PASOK-DIMAR) verzeichneten alle im Parlament vertretenen Parteien in absoluten Zahlen Wählerverluste im Vergleich zu den Wahlen im Januar 2015. Bei den beiden Großparteien belief sich der Wählerverlust im Vergleich zu Januar auf 14 % (Syriza) bzw. 11 % (ND). Aber auch der rechte Radikalismus konnte keinen Profit aus dem Verrat von Syriza ziehen. Absolut verringerte sich die Wählerschaft der Goldenen Morgenröte sogar geringfügig (-2 %), wenngleich sie mit 6,99 % der abgegebenen Stimmen ihren dritten Platz halten und an Mandaten zulegen konnte. Genauso gelang es aber auch den radikal linken Gegnern des Memorandums – Kommunistische Partei (KKE), Volkseinheit (LAE, Syriza-Dissidenten) und Antarsya – in keiner Weise zu profitieren. Die KKE hat ein relativ stabiles Wählerpotential von etwa 5-6 %, das beinahe unabhängig von der politischen Konjunktur seine eher identitäre Stimme abgibt – ähnlich unbeweglich gegenüber den konkreten politischen Momenten wie die Parteiführung selbst. Die KKE verlor 36.000 Wähler, legte aber prozentuell zu, während Antarsya sowohl absolut als auch in Prozent leicht zulegte. Enttäuschend war das Abschneiden der LAE (dazu näher unten), die mit 2,86 % den Einzug ins Parlament nicht schaffte.

 

Die Wahl war im Gegensatz zu jener im Januar 2015 eine Wahl der Resignation. Im Januar artikulierten die 36 % der Syriza die Hoffnung auf eine Kursänderung im Land. Es waren Stimmen, die hofften den fünf Jahren der Troika-Herrschaft und der sozialen Katastrophe ein Ende zu setzen. Doch sie standen von Anfang an auf tönernen Füßen. Es war eine passive und ausschließlich institutionelle Hoffnung, die Austerität ohne einschneidenden Bruch mit der EU zu stoppen, kongruent mit dem illusionären Programm der Syriza.

 

Die folgenden Monate belegten auf ganzer Linie, das völlige Scheitern dieser Illusion. Das Ende der Austerität ist, wie in verschiedenen Kommentaren auf dieser Seite immer wieder dargelegt wurde, eben nicht kompatibel mit den Regeln der Eurozone, die in Berlin und Brüssel geschrieben werden. Die politische Dynamik nach den Wahlen im Januar war immer abhängig vom Verhalten der Syriza-Führung und nicht getrieben durch einen kämpferischen Druck der Straße. Die seit den kämpferischen Monaten im Juli 2012 am Syntagma-Platz, tendenziell rückläufige soziale Bewegung konnte sich nicht erholen und dem sich immer deutlicher abzeichnenden Scheitern der Syriza-Führung nichts entgegenhalten. Deutlich kam dies zum Ausdruck an der extremen Schwäche der Proteste gegen die Kehrtwende von Tsipras nach dem überwältigenden Nein beim Referendum. Nur wenige hunderte Demonstranten aus der organisierten radikalen Linken fanden sich vor dem Parlament und zeichneten damit bereits vor, was sich bei den Wahlen nun bestätigte. Das kurze Fenster der Möglichkeit eines Bruches, das Syriza mit dem Referendum geöffnet hatte, schloss sich mit der Kehrtwende der Führung genauso schnell wieder. Die Bevölkerung schien zwar in diesem Moment bereit, das Risiko des Grexit aus sich zu nehmen, um sich vom Diktat Brüssels und Berlins zu emanzipieren. Nicht jedoch gegen Syriza und ohne jegliche alternative Führung. Damit konnte Tsipras seine Operation des Neuwahl-Putsches gegen das „Oxi“ beim Referendum und gegen die eigene Partei erfolgreich durchziehen. Mit dem Wahlausgang ist die Chance des Bruches nun auf absehbare Zeit wieder geschlossen. Tsipras hat Syriza zu einer neuen Memorandumspartei transformiert und eine Regierungsmehrheit, die als Verwalter des dritten Memorandums dienen kann.

 

Was sind nun die Perspektiven der kommenden Periode und was bleibt für die Linke, die eine radikale Option des Bruchs anstrebt? Allen Seiten ist klar, dass Griechenland mit dem neuerlichen Austeritätsprogramm nicht aus der Krise herauskommen wird. Die lächerliche Beruhigungsparole einer Schuldenerleichterung von Tsipras ändert an der strukturellen Sackgasse Griechenlands im Euro-Regime gar nichts. Und auch seine Rederei, die interne Oligarchie zur Kasse zu bitten zwecks sozialer Abfederung des Memorandums ist populistische Augenauswischerei. Keiner rechnet mehr mit der Fähigkeit Griechenlands, die Schulden je zurückzuzahlen. Brüssel und Berlin geht es vielmehr um ein langfristiges Gängelband, welches das Land in der Austeritätsfalle hält, ohne dass die Stimmung zu rasch kippt und ihre neuen Verwalter destabilisiert. Und es geht darum, die politischen Folgen eines Präzedenzfalls des Schuldenschnitts gegenüber den anderen Peripherieländern zu verhindert. Die Schwäche der außerparlamentarischen Kämpfe seit 2012 und der Erfolg von Tsipras Manöver zeigen jedoch, dass das Elendsregime durchaus noch weitere Jahre bestand haben kann, solange sich kein neuerliche politischer Hebel für die soziale Krise findet, wie es Syrizas Anti-Austeritäts-Wahlprogramm von Saloniki im Januar 2015 war. Und der Aufbau einer neuen Wahlalternative als Katalysator des Unmuts der Bevölkerung ist schwierig. Das zeigt die Niederlage der Volkseinheit.

 

Die Voraussetzungen der Volkseinheit waren zweifellos schwierig: zu kurz war die Zeit sich organisatorisch aufzustellen, zu sektiererisch viele potentielle Bündnispartner der außerparlamentarischen Linken. Dennoch, das schlechte Abschneiden erklärt sich daraus nicht. Die Volkseinheit war nach all den Ereignissen ein sichtbarer Faktor mit ausreichend prominenten Figuren – sogar Varoufakis optierte letztlich für eine Wahl der LAE. Doch im Moment fehlt die politische Voraussetzung: die Resignation war nicht in eine Proteststimme umzumünzen. Die LAE war für die Öffentlichkeit die „Partei der Drachme“ – so wurde sie von der Presse hingestellt, obgleich ihr Programm wesentlich breiter ist. Aber gerade in dieser Frage – Drachmen vs. Euro – kondensierte sich über die letzten fünf Monate die Frage des Bruchs mit dem System. Das war allen klar und diese Option war nicht mehrheitsfähig.

 

Trotz des Scheiterns der LAE ist sie die politische und programmatische Quintessenz der Lehren der letzten fünf Monate. Sie vereinigt ein intellektuelles Substrat, das in der Lage war ein konkretes Programm zu entwerfen, in dem die Bedeutung der Euro-Frage erfasst und eine konkrete radikale Alternative der Souveränität aufgezeigt ist. Auch hat sie zweifellos einige wichtige Segmente aus der sozialen Basis von Syriza mitgenommen. Doch die Gefahr für diese neue Kraft sich nach dem Scheitern bei den Wahlen als weitere radikale Kleinpartei zu zerreiben besteht leider. Die Unfähigkeit der anderen linken Kräfte, insbesondere von KKE, Antarsya aber auch EPAM, sich auf ein Wahlbündnis aller „Oxi-Kräfte“ einzulassen, zeigt, in welch schwierigem Milieu die LAE als außerparlamentarische Kraft bestehen muss.

Ein Pfeiler für ihr Überleben kann im Transfer der griechischen Erfahrung auf die europäische Ebene liegen, wo das grandiose Scheitern von Syrizas „sozialer Europa-Strategie“ die Euro-Debatte innerhalb der Linken angeheizt hat und wo sich zumindest Ansätze für fruchtbare Bündnisse eröffnen. Im Inneren wird die LAE vorerst in mühsamer Kleinarbeit weiter arbeiten müssen, um einen organisatorischen Apparat um ihre programmatischen Ansätze zu bilden, der im Falle einer nächsten politischen Krise bestehen kann. Denn diese wird fraglos wiederum um dieselben Konstellationen ausbrechen wie in den vergangenen Monaten: Austerität im Euro oder Sprung ins kalte Wasser eines Grexit.

 

Wir hatten zweimal auf eine Beschleunigung der Entwicklungen in Europa durch die griechischen Ereignisse gehofft – zuerst mit dem überwältigenden Sieg des Nein im Referendum und dann mit der Bildung und dem Wahlantritt der LAE. Beide Chancen konnten nicht wahrgenommen werden. Beide zeigten die Bedeutung, eine politische Kraft der Linken gegen den Euro strategisch und rechtzeitig aufzustellen. Denn die Krise in Europa bleibt ungelöst und sie wird fraglos neue Möglichkeiten eröffnen.

Warum sich die Conte-Regierung halten konnte

Über die tragenden Regime-Narrative, die Rückkehr des Bipolarismus und Italexit als dritter Pol

[Bild: Aufhebung des Ausnahmezustands, die Menschen Leiden Hunger]

Auszüge aus einem Artikel von Leonardo Mazzei, über die Ergebnisse der Regionalwahlen in Italien am 20. Und 21. September 2020

Zwei wichtige Gründe dafür, dass die Koalitionsregierung von Fünfsternen und Partito Democratico zwar Verluste hinnehmen musste, sich aber dennoch halten konnte, sind die Narrative zur EU und zur Epidemie. Diese ziehen ihre Kraft auch aus der Tatsache, dass sie von niemanden bestritten werden, die Zugang zu den Medien haben.

Zu Europa

Die EU sei auch dank der italienischen Regierung nun besser geworden. Sie stünde nun nicht mehr für die Kürzungen und die Austerität, sondern für Zuschüsse. Wir wissen sehr gut, dass dies nicht der Fall ist und der Recovery Fund eine Art Super-EMS sein wird, der Italien unter Kuratel stellt. Die versprochenen Mittel bestehen zum guten Teilen aus zurückzuzahlenden Krediten, zu Bedingungen mittels deren und die EU-Eliten dank ihrer Großzügigkeit die Schlinge um den Hals legen können.

Ja, wir wissen das. Und mit uns Millionen von Bürgern. Aber es handelt sich dennoch um eine Minderheit. Denn diejenigen, die das mit ganz anderen Mitteln die offiziellen Fabeln in den Medien in Frage stellen könnten, tun das nicht. Doch weder die Lega noch die Fratelli d’Italia haben das in der Wahlkampagne versucht. Von ihnen kam kein einziges sinnvolles Argument gegen die PD. Und die großartigen Gouverneure der Lega nord wollen nicht nur die Gelder aus dem Recovery Fund, sondern sogar aus dem ESM. Damit wird klar, warum die PD nicht verloren hat.

Die Epidemie

Die Regierung Conte hat den Ausnahmezustand dazu verwendet sich im Sattel zu halten. Die Angst erweist sich als hervorragendes Instrument der Regierungsführung. Wir haben rund 1,5 Millionen arbeitslose mehr. Doch was ist das schon angesichts des furchtbaren Virus!

Il governo Conte – certo non unico al mondo, questo va riconosciuto – ha fatto dell’emergenzialismo la carta vincente per restare in sella. Come strumento di governo la paura funziona alla perfezione. Andiamo verso un milione e mezzo di disoccupati in più? Che volete che sia rispetto al terribile virus!

Laut offiziellen Angaben haben wir täglich 10-15 Covid-Todesopfer zu beklagen. Aber nach den Daten von ISS sterben täglich 140 Personen zur Krankenhausinfekte. Doch obwohl diese zehn Mal mehr sind, kommen sie nicht zur Sprache. Auch dienen sie nicht dazu, den Ausnahmezustand zu verlängern.

Vor kurzem kam in den Fernsehnachrichten (TG1) eine unerwartete Frage auf: und wenn die Schweden damit rechtgehabt hätten, keinen Lockdown zu machen? Die Kurven würden jedenfalls Stockholm recht geben, doch sei es noch zu früh Schlüsse zu ziehen.

Zu früh? Waren es nicht die Mainstreammedien, die im vergangenen Frühling noch die Schweden als Verbrechervolk gekreuzigt hatten, weil die ihre Alten und Kranken dem Tode preisgeben würden? Umso eigenartiger erscheint der Vorwurf aus der PD-Blase, weil in Stockholm nicht kriminelle Populisten, sondern wie in Italien eine linksliberale Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen regiert.

Ich habe den schwedischen Fall herangezogen, wie er zeigt, dass der harte italienische Lockdown keineswegs obligatorisch gewesen ist. Genauso wenig wie die ewige Sperre der Schulen, der Büros und viele andere antisoziale Maßnahmen. Doch auch hier hat die offizielle Opposition der Linie der Regierung, laut der die italienischen Maßnahmen die besten der Welt waren, nichts entgegenzusetzen – haben sie sich doch daran tatkräftig beteiligt.

Schlussfolgerungen

Die Schlussfolgerungen liegen auf der Hand. Wenn man den Grund versteht, warum die PD nicht verloren hat, dann ergeben sich auch die Hebel mittels deren man gegen die Regierung der Unterordnung unter Brüssel und Berlin vorgehen kann.

Die beiden alten und überwunden geglaubten Pole, Centrosinistra (Mitte Links) und Centrodestra (Mitte Rechts), haben sich neu gebildet und sind in der Substanz austauschbar. Insbesondere die Fünfsterne, die angetreten waren um das politische System aufzumischen, sind in die Arme der PD zurückgekehrt und sind in ihrem Pol aufgegangen. Darum ist der Aufbau des dritten Pols von absoluter Dringlichkeit – und dieser kann nur in Form des Italexits passieren.

WALDHEIM / VRANITZKY UND DIE LINKSLIBERALEN: EINE ALLIANZ GEGEN ÖSTERREICH

Mitte der 1980er hatte in Europa bereits die neoliberale Wende eingesetzt. Auch in Österreich war den hier bislang schwachen Wirtschafts-Eliten die Politik des Beveridge’schen Wohl­stands-Staats im Rahmen eines keynesianischen Steuerstaats lästig geworden. Denn dies hatte zwar in ungeahnter Weise die Bevölkerung ins System integriert. Aber es kostete.

Österreich hatte sein politisch-kulturelles-ideologisches System nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst als Antithese zur deutschen Entwicklung aufgebaut. Das Land und seine Bevölke­rung konstituierten sich seit 1955 als Sonderfall in einer bipolaren Welt. Symbol dafür war die Neutralität. Sie wurde mit der Idee einer selbstbestimmten österreichischen Nation verbunden und aufgeladen. Um die neoliberale Wende durchziehen zu können, musste man die Idee und die Wirklichkeit dieses Sonderwegs auf Basis der österreichischen Nation entsorgen. Das hieß auf Perspektive: die österreichische Nation zerstören.

Die passende Ideologie mit ihrer historischen Nostalgie war vorhanden. Die sozialdemokrati­sierten Intellektuellen waren seit je heimliche Deutschnationale und Großmacht-Fanatiker. Die Mehrzahl der sonstigen österreichischen Intellektuellen war auf eine gar nicht so seltsame Weise stumm. Zwar: Es gab da die prononcierten Katholiken, Typus Friedrich Heer, die in der Tradition des Ernst Karl Winter standen. Und es gab die Linken, für die der in Frankreich verbliebene Felix Kreissler sprach. Die KPÖ bemühte sich, auf ihre Copyright-Ansprüche an der Österreichischen Nation – Ö groß geschrieben – hinzuweisen (KPÖ 1978). Sie wurde aber von den anderen Kräften nicht einmal ignoriert.

War es im Austrofaschismus das Ziel auch der Regierung, die „besseren Deutschen“ zu sein, so war nach dem Nazi-Zusammenbruch die nationale Eigenständigkeit auch im Bereich der Identität die Grundlage. Selten wurde der Projekt-Charakter der nationalen Identität so klar, wie im Falle Österreich nach 1945. So war es nur logisch, dass sich die antiösterreichischen Kräfte mit ihren Wurzeln im Nazi-Faschismus deutschnational festlegten. Sie nahmen dabei u. a. eine strikte Orientierung auf die E(W)G vor, nachdem diese 1950/57 gegründet worden war. Es war die FPÖ, welche deutschnational und pro-europäisch war. Dies Alles ist auch in den stenographischen Protokollen des Nationalrats nachzulesen. Dabei traf sie sich mit den alten Legitimisten. Otto Habsburg war lange Jahre CSU-Abgeordneter im EP.

Dem stand die Österreich-Orientierung gegenüber. Zu ihr hatte schließlich auch die SPÖ nach langem Zögern gefunden. In der Kreisky-Zeit wurde sie zur Österreich-Partei. Die ÖVP tat sich mit diesem sozialdemokratischen Österreich immer schwerer. Die Ironien im Ablauf des Geschehens wirbelten schließlich die Positionen völlig durcheinander. Die letzten Kreisky­aner verschwanden. Erwin Lanc z. B. wurde in einer innerparteilichen Intrige von Fred Sino­watz weggeräumt, bevor dieser selbst im Orkus des Bezirksgerichts verschwand.

Den wesentlichen Bruch stellten aber der Präsidentschafts-Wahlkampf 1985 / 86 und sodann die Präsidentschaft Kurt Waldheims dar. Waldheim repräsentierte die alte Politik mit ihren vorgeblichen Sicherheiten. Er war schon einmal Kandidat der ÖVP gewesen, hatte sich aber nicht überaus ruhmvoll geschlagen. Die neu-alten Kräfte waren auf ÖVP-Seite durchaus mit schmutzigen Elementen des alten christlich-demokratischen Antisemitismus gemischt. Alois Mock stand kennzeichnend dafür. Aber auch Sinowatz repräsentierte diese Politik. Er glaubte, er könne die Konservativen auf diese Tour ausmanövrieren. Mit dem Hinweis auf Waldheims Kriegs-Vergangenheit dachte er die Präsidentschafts-Wahl zu gewinnen – und schätzte dabei die Stimmung der Bevölkerung völlig falsch ein. Die Jetzt-erst-recht-Kampagne der ÖVP traf den Nerv, nicht zuletzt, weil sie – wie dann bei den EU-Sanktionen des Jahres 2000 – den berechtigten Ärger über diesen Versuch einer Außenbestimmung aufgriff. Der Burgenländer wurde in diesem Spiel gründlich geschlagen und verließ die Politik. Sein Amt übergab er an Franz Vranitzky, vormals Minister-Sekretär beim Korruptionisten Androsch, dann Bank-Direktor, schließlich wegen seines schönen Gesichts Kurzzeit-Finanzminister und jetzt Erlö­ser aus dem Sinowatz’schen Provinzialismus.

Doch diese Waldheim-Debatte oder -Affäre war nur der Ausfluss eines anderen Haltungs-Komplexes. Er gehört inzwischen grotesker Weise schon zur Dogmatik der österreichischen Regierungs-, Staats- und Intellektuellen-Ideologie. Holen wir ein wenig aus.

 

Presse, 20. / 21. Mai 1995

Menasses Rede in Frankfurt

Roben Menasse hat mit seinem Vorschlag, Österreich müßte sich wieder Deutsch-land anschließen, ein bemerkenswertes Beispiel für postmoderne Mischungen im Kopf progressiver staatsgetragener österreichischer Intellektueller geliefert.

Diese ‚Öffnung‘ nach draußen, zum großen Markt, paßt zu seiner Rolle als Festredner Osterreichs bei der Frankfurter Buchmesse, zur Wiedervereinigung und zur Annäherung an den großen Bruder in der EU, und vor allem paßt sie zu der Rolle, in der Osterreich eine wichtige Entlastungsfunktion für Deutschland zukommt (Textbeispiel: „… die sind ja noch viel schlimmer“ und „laßt uns endlich ‚einen Schlußstrich ziehen“).

Ich wüßte noch gerne, auf welchen Studien die Einschätzung beruht, paß deutsche – im Unterschied zu österreichischen – Institutionen eindeutig antifaschistisch sind.

Deutsche unterschiedliebster politischerCouleur und Staatsangehörigkeit werden sich über den intellektuell-kritischen Anschluß freuen und wenn schon nicht Österreich, so vielleicht Roben Menasse für diese Morgengabe danken.

Dr. Hazlel Rosenstrauch, Wien 1.

 

1965 hatte Simon Wiesenthal ein Memorandum an die Regierung Klaus gerichtet. Er kritisier­te die schleppende juristische Verfolgung von Nazi-Verbrechen nach dem abrupten Ende der Entnazifizierung von 1948 / 49. Damals hatte die Sozialdemokratie ihre antifaschistische Linie einer taktischen Finte geopfert. Mit der Förderung der „Ehemaligen“, der alten Nazis, brach sie die absolute Mehrheit der ÖVP, verlor selbst allerdings noch mehr an Stimmen an den VdU.

Als eines der Argumente zur Unterstützung seines Anliegens stellte Wiesenthal die Behaup­tung auf, dass Österreicher in deutlich überproportionalem Maß an Nazi-Verbrechen beteiligt gewesen wären, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung des Deutschen Reiches entsprochen hätte. Diese Behauptung blieb vorerst im Raum, ohne dass es irgendwelche Auswirkungen gehabt hätte. Wiesenthal selbst relativierte sie sogar und nahm sie halb und halb zurück. Aber sie wirkte im Untergrund weiter und wurde in gewissen Zirkeln ungeprüft weiter benutzt. Wichtig ist hier festzuhalten: Diese Behauptung war eindeutig politisch determiniert und sollte eine Forderung unterstützen. Wiesenthal selbst hat übrigens in Interviews zur selben Zeit ihre beschränkte Aussagekraft unterstrichen (die Darstellung folgt: Perz 2006).

Nun, im Kontext der Waldheim-Geschichte, kochte dies wieder hoch. Nun wurden diese Zah­len von einem zum anderen Aufsatz und Buch ungeprüft abgeschrieben und übernommen. Bleiben wir einem Augenblick bei diesem Aspekt. 2005 erscheinen solche Zahlen in einem offiziösen Ausstellungs-Katalog, wiederholt von einer ORF-Journalistin, Helene Maimann. Sie stießen nun allerdings auf ziemlich harschen Widerspruch. Aufgrund dessen prüfte ein Wiener Historiker (Perz) die Belege nach und kam zu folgendem Ergebnis: Maimann schrieb ungeprüft von Hanisch (Historiker in Salzburg) ab; Hanisch schrieb ungeprüft von Burkey (US-Historiker) ab; Burkey schrieb ungeprüft und verzerrend von Weiss (ebenfalls US-Histo­riker) ab; und Weiss hat zum Einen etwas Anderes geschrieben; zum Anderen aber seien seine Zahlen laut Perz „nicht nachvollziehbar“. Es gibt kaum etwas Kennzeichnenderes als den „Stammbaum“ solcher Historiker-Thesen.


Intellektuelle weisen unterschiedliche Parteilichkeiten auf. Der Großteil unter ihnen ist konservativ bis reaktio­när. Gramsci (1971) hat mit seiner Kategorisierung in traditionelle und organische Intellektuelle darauf auf­merksam gemacht. Dies prägt auch die unterschiedlichen akademischen Fachkulturen. In den 1970ern und 1980ern lief in Kärnten ein Spruch der Deutschnationalen um: „Polito- und Soziologen / haben viele schon betrogen…“ Sie wollten damit die für sie positive Rolle hervorheben, welche Historiker als traditionelle Intellek­tuelle spielten. Sie waren die Ideologen des Bestehenden und der Macht. Letzteres hat sich nicht geändert. Allerdings hat sich die Macht inzwischen globalistisch orientiert, und die meisten der Historiker haben diesen Schwenk mitgemacht.

Das soll nicht heißen, dass die stärker „organischen Intellektuellen“, die analytischen Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaftler, sich nicht bemühten, diesen „Vorsprung“ der Historiker aufzuholen und sich auch möglichst nahe an die Macht heranzuwerfen…


Waldheim wurde seinerzeit angreifbar, nicht sosehr, weil er in der Nazi-Zeit Teil der Vernich­tungs-Maschine Wehrmacht war. Das waren im angeschlossenen Österreich so viele andere auch, dass sie es ihm nicht zum Vorwurf machten. Er hat dies auch noch als „Pflichterfül­lung“ gerechtfertigt – Pflichterfüllung nicht gegenüber Österreich, sondern Nazi-Deutschland. Auf diesen Punkt wurde in der damaligen Debatte nur ganz am Rand verwiesen. Der Grund für die ersten Angriffe war dies nicht. Es war seine Rolle als UN-Generalsekretär, welche dem Staat Israel und seinen Hilfstruppen, vor allem in den USA, ein Dorn im Auge war. Kennzeichnend dafür war die erste wütende Reaktion Kreiskys auf die Angriffe von Außen. Laut Presse vom 25. März 1986 sprach er von einer „üblen Einmischung“ und einer „unge­heuren Niedertracht“ des Jüdischen Weltkongresses. Das klingt gar nicht so anders wie die Wortwahl des ÖVP-Graf damals:

Der bauernschlaue, doch intellektuell beschränkte Parteifunktionär Graf ging in die Gegen-Offensive und gebrauchte dabei Ausdrücke, welche Erinnerungen an den alten Antisemitis­mus der Christlich-Sozialen wach rief. Diese Bemerkung ist nicht unfair. War doch Graf Sekretär bei Klaus gewesen, zusammen mit Mock. Der hatte diskret etwas Antisemitismus in den Wahlkampf von 1970 gegen Kreisky eingebracht. Und jetzt war er bei Mock General­sekretär. Der bald neue Kanzler Vranitzky war da entschieden geschickter. Er wollte zusam­men mit seinem Vizekanzler und Außenminister Mock Österreich in die EG führen. Dazu eignete sich seine Reaktion auf die Waldheim-Affaire hervorragend. Damit konnte er belegen, dass er und die österreichische Regierung sich den hegemonialen Vorgaben auch im rein ideologischen Bereich beugen würden.

Trotzdem hat sich dies noch keineswegs zu allen dieser professionellen Historiker herumge­sprochen. Vor allem, wenn sie sich im herrschenden akademischen und Kulturbetrieb noch etablieren wollen, müssen sie diese Thesen lautstark wiederholen. So gab es im November 2017 eine typische Auseinandersetzung im Standard. Ein Historiker (Bauer 2017) hatte ein Buch veröffentlicht, welches eine leichte Kritik an der dominanten These von „Österreich“ als mitschuldig wagte. Das sahen zwei Assistenten am historischen Institut der Univ. Wien als Herausforderung an. Mit einer, sagen wir es vorsichtig, etwas einfältigen Kritik versuchen sie ihre These, die „Täter-These“ zu retten.

Und mit diesem Begriff, „Täter-These“, kommen wir endlich zum eigentlichen Punkt.

In den 1990ern traten die alt-neuen politischen und intellektuellen Kräfte unter dem Sigel EG und EU auf. Die ÖVP ging voran. In diesem Punkt waren die Altkonservativen wie Mock mit den ÖVP-Liberalen wie Neißer und Busek geeint. Die neokonservative Politik der Sozialde­mokratie konnte sich ihrer bedienen. Nach den Sinowatz-Jahren und der Waldheim-Nieder­lage kam endgültig die Wende. Die vorherigen intellektuellen Auseinandersetzungen zeigten sich nun als dünner Schleier einer politischen Agenda. Umso willkommener waren sie den Eliten.

Es ist mittlerweile unter Linksliberalen absolut kanonisch, „Österreich“ als in besonderem Maß mitschuldig am Nazismus zu sprechen. Bauer führt dies in seiner Auseinandersetzung mit den zwei Assistenten auf einen Generationen-Konflikt zurück: „Eine zornige Generation von jungen linksgerichteten Zeithistorikern – frustriert von der Verlogenheit der Nachkriegs- und Aufbaujahre, in denen sie aufgewachsen waren – griff Wiesenthals Behauptungen dank­bar auf. Motto: ‚Wenn ihr in eurer Verlogenheit euch zu Opfern des Nationalsozialismus macht, dann sagen wir euch, dass ihr nicht Opfer, sondern vielmehr die schlimmsten Täter von allen wart!’“ (kurt-bauer-geschichte.at – derstandard.at/2000068369207/Taeter-Opfer-Thesen-Mythen, 23. Nov. 2017). Da ist Einiges dran. Aber es geht an der politischen Einord­nung vorbei und verfehlt auch die theoretische Dimension. Der Globalismus stößt sich an „Sonderfällen“. Für die meisten Intellektuellen, heimlich deutschnational und offen pro-EU, bedarf es dazu aber der historischen Weihen.

Das lässt sich besser noch am erwähnten Aufsatz von Perz demonstrieren. Nachdem er näm­lich die seltsamen Zahlenangaben zur „österreichischen“ Beteiligung zurecht gerückt hat, kommt er auf die politische Bedeutung dessen zu sprechen. Und dort verfehlt er sein Thema vollkommen. Er wischt, mit einem gewissen Recht, den Streit um die Zahlen vom Tisch und fragt nach dem Sinn des Ganzen (Perz 2006, 228). Und dabei steigt er in unreflektierter Weise auf nationalistisches Gedankengut ein, spezifischer: auf deutschnationales. Denn er akzeptiert implizit die Vorrangigkeit, ja die Primordealität der nationalen Identität. Denn er sagt: Öster­reich könne man im Deutschen Reich „nicht mit anderen besetzten Gebieten Europas verglei­chen“. Warum? Österreich sei nur „eine unter vielen Regionen des Deutschen Reiches gewe­sen, … aber viel mehr auch nicht“. Also offenbar Teil der deutschen Nation. Und dabei beruft er sich auf die Anschlussbewegung der politischen Klasse nach 1918. Das liegt ganz nahe an der deutschnationalen Ideologie, wie sie offen und camoufliert von 1918 bis in die Gegenwart immer wieder verbreitet wird.

Und damit belässt er es und hört auf. Dabei müsste hier der politisch-theoretische Diskurs erst einsetzen. Warum soll die nationale Zugehörigkeit unter der Reihe von Möglichkeiten sozia­ler Identität so vorrangig sein? Das Pathos der Nation, der nationalen Zugehörigkeit (um mit Max Weber 1976 zu sprechen) erhält seinen Unterschied zur Region – die ansonsten völlig mit der Nation vergleichbar ist – im 19. und 20. Jahrhundert durch seinen Einsatz zur politi­schen Legitimierung eines abgegrenzten Herrschafts-Systems. Es entwickelte durch die ver­stärkte Identifizierung mit dem Staat, folgend einer wachsenden Partizipation, und sodann der Staatsbevölkerung eine moralische Kraft, der sich infolge der Indoktrination und ihres ständi­gen Einsatzes viele Menschen nicht mehr entziehen konnten. Über die politische Bedeutung heute und ihre Potenzen werden wir noch sprechen. Doch ist es schon auffällig: Selbst heute in der hegemonialen intellektuellen Atmosphäre des zugespitzten Anti-Nationalismus können sich gerade viele Historiker diesem politisch-moralischen Impetus nicht entziehen. Sie sind nicht in der Lage, diesen Ideen- und Emotionen-Komplex zu dekonstruieren.

Selbstbestimmung heißt Demokratie. Die nationale Ebene gewinnt dafür neue Relevanz. Das aktuellste Beispiel bieten gegenwärtig (2018) Spanien und Katalonien.

Österreich hat zu wählen zwischen Großmannsucht und selbstbewusster Selbstbestimmung. Bestes Beispiel ist doch unser neuer Grußaugust Van der Bellen. Er versucht, sich immer wieder den imperialen Kräfte anzubiedern. Sein Geschimpfe auf die „Verzwergung“ schon im Wahlkampf und dann wieder bei der zeremoniellen Unterwerfung vor dem EP stellt die unbe­darfte Formulierung des Globalismus heraus, wie er eben bei den Eliten und ihren Sprechern gang und gäbe ist.

Der reaktionäre Provinzialismus des Herrn Strache ist nur eine Schein-Alternative. Es ist die Reaktion im plebeischen Gewande. Wenn die Nagelprobe der praktischen Politik kommt, dann ist alles Andere außer den Regierungs-Posten drittrangig. Wie formulierte die NZZ vom 27. Dezember ironisch und so treffend schon in der Überschrift: „Österreichs Freiheitliche setzen sich dort durch, wo sie sich mit dem Koalitionspartner sowieso einig sind“.

Kurz aber spricht heute in der Diktion des Austrofaschismus wieder davon, dass wir Österrei­cher „die besseren Deutschen wären“ – nicht im small talk, wohlgemerkt, sondern in seiner Regierungserklärung im Parlament.

Wir Internationalisten sind wieder, und vielleicht zu ersten Mal, vital an der Nation interes­siert. Nun könnte man mit Hegel darüber spotten: Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst in der Abenddämmerung. Ist also die Nation eine untergehende politische Formation?

Wir von der konsequenten Linken haben inzwischen begriffen: Emanzipative Kräfte und Be­wegungen brauchen eine politische Arena mittlerer Reichweite. Wir sind dem Finanzkapita­lismus auf globaler Ebene mit seiner geballten Macht hoffnungslos unterlegen. Dazu kommt aber ein weiterer Aspekt, der bisher von der Linken ganz und gar vernachlässigt wurde. Zwar kam bei einigen wenigen linken Kommunitaristen vor wenigen Jahrzehnten zum ersten Mal eine Ahnung auf: Der Rationalismus des Interesses allein genügt nicht für den Aufbau einer politischen Körperschaft, welche zum Emanzipations-Instrument der subalternen Schichten werden kann. Identität ist eine conditio sine qua non einer Bevölkerung, die „Volk“ i. S. des alten Mao werden soll.

Selbstbestimmung, Demokratie spielen sich kaum auf globaler Ebene ab. Selbstbestimmung läuft auf niedrigerer Ebene. Der Weltstaat und sein realistischer Ersatz, das Super-Imperium, ob es USA, China oder EU heißt, ist die Organisation der Despotie. Wir sollten Hegels Welt­geist endlich in den Mistkübel der Geschichte entsorgen und uns eher einer Kantianischen Perspektive alternativer Politik zuwenden: Die Suche nach einer neuen Befreiung bleibt Ver­such und Irrtum. Der aber muss sich dort abspielen, wo einerseits noch eine Möglichkeit der Massen-Partizipation existiert, gleichzeitig aber noch genug Steuerungs-Kapazität vorhanden ist, die Finanz-Oligarchie und die Eliten ganz allgemein zu kontrollieren.

Der neue Nationalstaat ist ein politisches Projekt, der diese beiden offenbar konträren, oder sagen wir lieber: dialektischen Anforderungen am ehesten noch erfüllen kann. Der „Sonderfall“ Österreich hat eine Zeitlang Ansätze in eine solche Richtung gezeigt, eher zufällig und zögernd. Wir schlagen dies als neues, als linkes, als demokratisches Projekt vor.

Literatur

Bauer, Kurt (2017), Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938 bis 1945. Frankfurt / M.: Fischer.

Gramsci, Antonio (1971), Quaderni del carcere. Introduzione di L. Gruppi. (Vol.: Gli intellettuali e l’organizzazione della cultura). Roma: Riuniti.

KPÖ 1978: Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit, Demokratie und sozialistische Perspektive. Sammelband. Wien: Globus Verlag

Perz, Bertrand (2006), Der österreichische Anteil an den NS-Verbrechen. Anmerkungen zur Debatte. In: Kramer, Helmut / Liebhart, Karin / Stadler, Friedrich, Hg., Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand In memoriam Felix Kreissler. Wien-Berlin: LIT Verlag, 223 – 234.

Reiterer, Albert F. (1987), Die konservative Chance. Österreichbewußtsein im bürgerlichen Lager nach 1945. In: Zeitgeschichte, 14. Jahr, 379 – 397.

Weber, Max (1976), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr (5. Aufl.).

Winter, Ernst Karl (1969), Bahnbrecher des Dialogs. Ausgewählt und eingeleitet von Ernst Missong. Wien-Zürich: Europa Verlag.