"Nein" beim Referendum
Anti-EU-Forum Athen 26.-28. Juni 2015
Sinkende Lohnquote
Weder Draghi, noch Troika, noch Euro.
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Souverän und sozial. statt EURO liberal
 

DER EURO UND DIE KRISE DER EU: Krisen und „Krisen“.

Graz, 31. Oktober 2015, Seminar EUROEXIT

Die üblen Auswirkungen der Währungsunion auf die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht mehr zu übersehen. Der Schaden durch den Euro wurde allgemein sichtbar und ist nicht mehr wegzureden. Seit dies so klar ist, gibt es in der reformistischen Linken eine neue Mode: Aber der Euro ist doch nur ein Geld! Und an uns gerichtet, die wir Währungsunion und Euro als Kern der EU analysieren, dieser Politik der Austerität und des nach oben umverteilenden Neoliberalismus: Ihr seid auf den Euro fixiert! Ihr seid Fetischisten der Währung.

Ja, wir sind auf den Euro fixiert. Denn er verkörpert die Tiefenstruktur dieses Systems. Damit liegt er auch der europäischen Form der Finanzkrise zu Grunde. Über die wollen wir nun sprechen.

  1. „Krisen“

Krise ist ein Zentralbegriff der Neuen Sicherheitspolitik seit etwa zwei Jahrzehnten (Buzan u. a. 1998). Sie versuchte damals, von der banalen Analyse über die „Erbsenzählerei“ von Rake­ten und Mannschafts-Beständen weg zu kommen und einen neuen analytischen Ansatz für Konflikt-Verständnis zu finden. Den fand sie in der Krise. Krisen, so entdeckte sie, waren nicht einfach gegebene Sachverhalte. „Krisen“ müssen als solche definiert werden und sind ein Anbot der Kommunikatoren an die Bevölkerung. Dieses Anbot kann angenommen wer­den – oder auch nicht. Mitte der 1990er versuchte Wolfgang Schüssel, eine „Pensionskrise“ herbeizureden – und prompt verlor er damit die Wahlen von 1995.

Warum aber werden „Krisen“ definiert und angeboten? Krisen sind per definitionem, Ausnah­mezustände. Ausnahmezustände aber erfordern zu ihrer Bewältigung außerordentliche Mittel. Es braucht den Einsatz von Maßnahmen jenseits der legalen Routine. Krisen legitimieren also Notstandsmaßnahmen. Krisen sind Einladungen an „Männer der Tat“. Sie bieten die Gelegen­heit, Politiken durchzuziehen, die sonst weder in der Bevölkerung noch auch im politischen Instrumentarium eine Chance hätten. Carl Schmitt, Kronjurist der Nazis hat dies zugespitzt und gleich die entscheidende Frage gestellt: Wer wen? „Souverän ist, wer über den Ausnah­mezustand befindet“. Krisen sind also die Gelegenheit, sich der Souveränität, d. h. der Staats­macht zu bewältigen.

Der offene Staatsstreich ist aber heute nicht mehr die einzige Form, die Krise zu beenden. Heute sucht man nach Möglichkeit nach einer formal-legalen Lösung. Doch auch für sie bieten Krisen die Möglichkeit schlechthin. Dies gilt umso stärker, wenn die Krise nach allgemeinem Urteil echt und umfassend ist.

So war denn auch die Finanz- und Euro-Krise die Gelegenheit schlechthin für die Finanz-Eliten und die EU-Bürokratie. Sie und die ihnen devot untergeordneten nationalen Politiker haben diese Krise auch gründlichst genutzt. Heute hat und ist die EU eine andere Struktur als noch 2008. Und bei dieser Gelegenheit sollten wir auch an die scheinbar unlösbare „Flücht­lings“-Krise von heute denken.

Vor diesem Hintergrund müssen wir die Frage der Finanz- und Eurokrise sowie die Problematik der Währungsunion als Ganzes bedenken.

  1. Die „Optimale Währungsunion“ (OCA – Optimal Currency Area)

Oskar Lafontaine und einige seiner politischen Gesinnungs-Genossen wollen heute die WU auflösen, weil sie die sozial schonende Anpassungs-Politik im Rahmen eigener Währungen verhindert, insbesondere durch die Unmöglichkeit von Ab- und Aufwertungen.

1958 schrieb der britische Ökonom Robert Mundell einen kurzen Aufsatz: „Optimal Currency Area“. Auf ziemlich formalistische Weise versuchte er Kriterien festzulegen, welche den Umfang eines Währungsgebiets abgrenzen sollten, und konzentrierte sich dabei auf die Inflationsrate. Das ist ziemlich fetischistisch. Sind doch Inflationsraten und die Unterschiede zwischen ihnen nur Indikatoren für Differenzen in der Produktivitäts-Entwicklung. Aber dieser Ansatz traf den Nerv der orthodoxen Ökonomie und dominierte ihn für lange. Daran definierten Ökonomen einerseits, Politiker andererseits ihre Haltung zur WU.

Es waren vor allem orthodoxe Ökonomen in der BRD, die sich in der Phase der Planung und Vorbereitung auf die Währungsunion sagten: Die EU, bis 1995 auf 15 Mitglieder angewach­sen und absehbar in der weiterer Ausdehnung, enthält Volkswirtschaften ganz unterschiedli­chen Entwicklungsstands und unterschiedlicher Wachstumsgeschwindigkeit. Da gibt es Griechenland, Portugal und Spanien; aber da finden sich auch die BRD, Österreich und die BeNeLux-Länder. Sie ist also mit Sicherheit keine OCA. Eine Einheitswährung wäre unver­antwortlich. Sie würde alle schädigen.

Das war somit ein orthodoxes, ja ein konservatives Argument. Es baut auf der Norm von der absoluten Dominanz des Markts auf. Das heißt keineswegs, dass ihr Argument nicht richtig ist. Aber es hat Voraussetzungen und es hat eine bestimmte Vision, wie die Weltwirtschaft aussehen soll. Wir argumentieren also in einer Linie mit H.-W. Sinn, wenn wir uns allein auf die OCA abstützen. Das macht, wie schon gesagt, das Argument nicht falsch. Aber es macht nachdenklich.

Auf der anderen Seite standen fast alle Politiker. Im Grund bestritten auch sie die Feststellung nicht. Aber sie zogen andere Konsequenzen daraus. Sie sahen die Rigidität als ihre Chance. Wenn nationale Wirtschaften nicht mehr abwerten konnten, wenn sie bei der Produktivität ins Hintertreffen kommen, dann ist das ein mächtiger Hebel, sie auf den Weg der Tugend zu brin­gen. Denn dann sind ihre Löhne zu hoch und müssen gesenkt werden. Der Lebensstandard der Arbeitenden muss sinken. Sie nannten und nennen es „innere Abwertung“. Und das schrieben sie in die Entwürfe und Verträge und machten es somit verbindlich für die WU-Mitglieder. Denn erinnern wir uns: Die Währungsunion ist keine Option, sie ist für die Mitglieder der EU verbindlich, sobald diese bestimmte Bedingungen erfüllen, die berüchtigten Maastricht-Krite­rien nämlich.

Hier wird also ein praktischer Primat der Politik statuiert und verfolgt. Der steht dem mao­istischen Voluntarismus der 1960er in nichts nach. Aber noch gibt es den ausschließlich von oben nach unten strukturierten europäischen Staat nicht, der dafür Voraussetzung wäre. Ohne den aber funktionierte dies nicht. In dieser Weise verlief die Debatte bis 2007.

In den Jahren bis dahin hatten sich aber innerhalb der Währungszone die Widersprüche akku­muliert. Bis dahin hatten die schwächeren Wirtschaften des Olivengürtels ihre abnehmende Wettbewerbskraft mit billigen Privat- und Staatsschulden überpflastert (Niedrigzinsen auf Grund der bail-out-Erwartung seitens der Banken). Dann aber kam ein unerwarteter Schock: Die steigende Ungleichheit in den USA und der Versuch, sie mit Konsumkrediten zu ver­decken, führte dort zur Finanzkrise und zu Bank-Zusammenbrüchen. Sie wurden rundum als systembedrohlich empfunden. Die Kreditgeber gerieten in Panik und begannen, auch in Europa schärfer hinzusehen. Und damit gerieten vor allem die Südländer in Bedrängnis. Nun stellte sich heraus: In der OCA-These war mehr an Wahrheit enthalten, als die Politiker bisher zugestehen wollten. Das stimmte umso mehr, als die Voraussetzungen dieser These in der Zwischenzeit ausgebaut wurden: die Dominanz der Finanzmärkte in einer deregulierten Welt an erster Stelle.

Denn die EU verfolgte eine widersprüchliche Politik. Auf der einen Seite war eine radikale Deregulierung der Märkte, und vor allem des Finanzmarktes das deklarierte Ziel. Das ist die Grundpolitik zugunsten der Stärkeren. Auf der anderen Seite war die Bürokratie aber gewillt, mit allen ihr verfügbaren politischen Mitteln die Mitglieder auf eine bestimmte Wirtschafts- und Fiskalpolitik hin zu drängen. Überdies übersah das bürokratische Zentrum Brüssel in seiner Abgehobenheit, dass die nationalen politischen Klassen noch immer von der Zustim­mung ihrer jeweiligen Bevölkerung abhängig waren. Folge war eine drastische Verschuldung der Haushalte im Süden, und auch die Staatsschulden begannen dort zu steigen.

Denn die Politiker dort wollten in ihrer Verblendung aus Image-Gründen die Währungsunion, obwohl sie ihre Länder ruinierte. Aber gleichzeitig – und das ist wichtig für die künftige Be­urteilung – mussten sie noch Rücksicht auf ihre Bevölkerungen nehmen. Sie begriffen ganz gut, was ihnen passieren würde, wenn sie das nicht täten – und mittlerweile ist es ihnen pas­siert: Alle Regeierungen, die sich auf die Austerität einließen, sind davon gejagt worden, und einige dieser damals großen Parteien sind praktisch überhaupt von der Bildfläche verschwun­den. Die Regierungen wollten also beides tun: Währungsunion und Menschen zufrieden stellen.

Aber nun drehten die Kreditoren plötzlich den Geldhahn zu. Die Finanzkrise wurde zur Eurokrise, und diese wandelte sich mit der Politik des Abwürgens der peripheren Wirt­schaften zur Staatsschulden-Krise. Das bot die Gelegenheit. Anfangs hatte die Finanz- und Euro-Krise die Eliten besorgt gemacht, und es gelang ihr, diese Sorge an die Bevölkerung weiter zu geben. Nun zögerten sie nicht und griffen zu. Der Fiskalpakt, das europäische Semester, die Entmündigung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik ist heute eine Tatsache, herbei geführt von diesen Versammlungen der nationalen politischen Klassen, in ihren Vereinigungen in den Europäischen Räten.

Darüber hinaus nützte Deutschland seine Chance als Hauptinteressent der „neuen“ Politik und Zwingherr des neu-alten Europas. Südeuropa sowie Irland wurden zu Protektoraten der EZB und, im Hintergrund, von Berlin. Sie bekamen ihre Politik im Detail vorgeschrieben. Als historisch Interessierter ist man ständig an das 19. Jahrhundert erinnert: an das britische Protektorat Ägypten; an das schein-selbständige Griechenland von 1895; an Südamerika.

Aber auch die Länder des Zentrums wurden einer Transformation unterzogen. Der sogenannte Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde auch für sie verpflichtend und in kürzester Zeit durch­gepeitscht. Die Länder verloren ihre Budget-Hoheit und damit das Kernstück bisheriger nationaler Demokratie.

  1. Imperialismus, Ultra-Imperialismus, Supra-Imperialismus, neues Imperium

Das politische Weltsystem besteht aus Staaten, nicht aus Märkten. Diese Staaten und ihre Regierungen sind die eigentliche Interessen-Bündelungen ihrer jeweils hegemonialen Klassen. Früher benutzte man den etwas altmodischen Ausdruck: Gesamtkapitalist. Das ist keine gewissermaßen beliebige Entwicklung. Die kapitalistische Arbeitsteilung, mit so viel Liebe von Adam Smith beschrieben, erfordert als Komplement die Arbeits-Vereinigung. Regulierung erfordert das System und Netzwerk einer abgegrenzten Wirtschaft. Das ist eine unumgängliche Notwendigkeit für die hochproduktive moderne Wirtschaft, und sie wäre es auch jenseits des Kapitalismus.

Im Kapitalismus allerdings stehen die so organisierten herrschenden Klassen einander als Konkurrenten gegenüber und führen den Kampf um den jeweiligen Anteil am Mehrwerts auf globaler Ebene. Das neu entstehende Weltsystem ist somit ein System der „feindlichen Brüder“. Der Einsatz des Staats-Apparats mit seinen politischen und auch militärischen Mitteln ist somit unvermeidbar, wenn dieser Apparat die herrschenden Klassen organisiert und verkörpert. Der Imperialismus wird zum höchsten Stadium des Kapitalismus.

Aber die Gesellschaft entwickelt sich weiter. Die Vernetzung geht weit über den nationalen Bereich hinaus. Es lag daher nahe, dass Beobachter sich fragten: Wird dieser teils irrationale Kampf bis aufs Messer ewig andauern? Liegt nicht ein Ausgleich, eine friedliche Vereinbarung nahe? Das war die Idee des Karl Kautsky (1914).

Kautsky sah einige Entwicklungen in seiner Zeit und suchte, sie auf seine oft fast peinlich plumpe Weise zu erklä­ren. In der marxistischen Tradition wird nicht selten das Vokabel Vulgärökonomie verwendet, um eine oberflächliche Theorie-Bildung etwa i. S. der Neoklassik zu kennzeichnen. Nun, Kautsky ist ein Musterbeispiel von Vulgärmarxismus in seltener Klarheit. In ähnlicher Weise ver­suchten dann die Leute des Cunow-Kreises einen proletarischen Imperialismus zu rechtfertigen.

Es ging vor allem um die Tendenzen möglicher kapitalistischer Zusammenarbeit seitens des Monopol­kapitals im globalen Maßstab. Doch für Kautsky war kennzeichnend, wie oft und prominent die Wen­dung auftaucht: „Rein ökonomisch betrachtet…“ Er hat ganz im Sinne der Zweiten Internationale, der dann von Stalin in die Dritte Internationale hinüber gezogen wurde, den Zusammenhang von Politik und Ökonomie und ihre gegenseitige fundamentale Bedingtheit in keiner Weise begriffen. Lenin (1916) hatte es leicht, in seiner kompromisslosen und auch groben Art diese Idee, die 1914 so eklatant widerlegt wurde, ins Lächerliche zu ziehen.

Eine ähnliche Geschichte ist auch der Versuch, den Imperialismus aus der Beziehung von Industrie und Landwirtschaft zu erklären. Hier argumentiert Kautsky schlicht und einfach physiokratisch. Den Doppelcharakter der Ware bzw. der menschlichen Produktion insgesamt in ihrer Abhängigkeit von der Stofflichkeit der Natur und von der gesellschaftlichen Organisation macht er zu einer Priorität der Landwirtschaft vor der Industrie. Usf. – Lenin allerdings übersah in seiner Polemik die Tendenzen, die tatsächlich vorhanden waren, die allerdings noch einige Jahrzehnte mit Ansätzen zu ihrer Verwirkli­chung auf sich warten ließen. Verantwortlich dafür war sein fast mystisches Staatsverständnis. Es hinderte ihn zu erkennen, dass politische Steuerung und Staats-Elemente zum Einen durchaus von einer eigenen Kategorie von Personen, der Bürokratie, bedient werden, und diese eigene Interessen entwickeln lassen. Zum Anderen können diese Steuerungs-Instrumente auf mehrere Ebenen verteilt werden. Und das ist für unser Thema entscheidend.

Lenin überging in seiner Polemik die Tendenzen, die tatsächlich vorhanden waren, die allerdings noch einige Jahrzehnte mit Ansätzen zu ihrer Verwirklichung auf sich warten ließen. Verantwortlich dafür war sein fast mystisches Staatsverständnis. Es hinderte ihn zu erkennen, dass politische Steuerung und Staats-Elemente zum Einen durchaus von einer eigenen Kategorie von Personen, der Bürokratie, bedient werden, und diese eigene Interessen entwickeln lassen. Zum Anderen können diese Steuerungs-Instrumente auf mehrere Ebenen verteilt werden. Und das ist für unser Thema entscheidend.

Der Ultra-Imperialismus Kautsky’scher Prägung hat nicht begriffen: Es braucht eine autorita­tive Zwangs-Organisation, um diesen Ausgleich zwischen den nationalen Klassen zu verwir­klichen. Es braucht einen übernationalen Staat. Wird aber ein solcher aufgebaut, dann wandelt sich das Konzept des Ultra-Imperialismus zum Konzept des Supra-Imperialismus. Der hat einen äußeren und einen inneren Aspekt. Wir wollen uns hier hauptsächlich um den Inneren kümmern. Denn als übernationaler Staat wird nun eine neue Struktur aufgebaut: das trans- und übernationale Imperium.

Wir haben dieses Konzept schon einige Male diskutiert, und wir sind uns nicht völlig einig darüber. Ich will auch heute die Debatte nicht in Einzelnen aufnehmen. Wichtig erscheint mir, und hier stimmen wir überein: Auch im Supra-Imperialismus hört die Dominanz der mächtig­sten nationalen Kapitalgruppen nicht zu wirken auf. Unter dem Schein des Übernationalen setzen sich also die nationalen Interessen der wirtschaftlich und politisch Stärksten durch. An sich ist dies geradezu eine Banalität. Aber die globalistischen Intellektuellen sind so blind, dass sie dies nicht sehen bzw. nicht sehen wollen. Dabei ist das die maßgebliche Stellung der heutigen Rolle der BRD im Rahmen der EU. – Heute geht es mir um die spezielle Funktion, welche der Euro in diesem Zusammenhang einnimmt.

  1. Die Konsequenzen

Der Euro ist die Zwangs-Konstruktion, welcher die Verbindung zwischen Politik und Wirt­schaft i. S. der Kapital- und Finanz-Oligarchie durchsetzt. Die Logik dahinter ist die Idee eines Automatismus. Noch will man den Parlamentarismus erhalten, noch will man die „Demokratie“ als Schumpeter’sche Auswahl des Führungs-Personals – welches idealiter dieselbe Politik zu vertreten hat – nicht abschaffen. Es hat in den letzten 70 Jahren zu gut funktioniert und Stabilität hergestellt, als dass man auf dieses wunderbare Instrument ver­zichten möchte. Wie lange dies hält, ist freilich eine andere Frage. Gerade eben gibt es in Portugal eine Entwicklung, die man nur als Putsch kennzeichnen kann, und selbst bürgerliche Zeitungen nennen dies mittlerweise so (Telegraph vom 28. Oktober 2015). Neu ist es nicht. Der italienische Staatspräsident bis vor einem Jahr, Giorgio Napolitano, hat dies die ganze Zeit seines Amts so gespielt. Die Kunst ist es, den Schein der Legalität zu wahren, was allerdings dem Portugiesen Cavaco Silva nicht mehr so recht gelingt.

Aber durch Wahlen bestimmte Politiker sind nicht unabhängig genug, wie etwa Zentral-Banker oder Brüsseler Kommissare. Wir sahen es schon: Sie wollen ihre Posten behalten und kommen so immer wieder in Versuchung, den Bedürfnissen der Bevölkerung doch ein wenig nachzugeben. Es müssen also Strukturen geschaffen werden, welche die geforderte Politik weitgehend mechanisch garantieren. Das ist der Euro, der neue Gold-Standard.

Aber bitte keine Illusionen! Der € funktioniert nicht von selbst und allein. Daran hängt ein ganzes Institutionen-Gefüge. Es ist nicht die EZB allein, obwohl sie wie eine Spinne mitten im Netz sitzt. Der Umbau mittels des Fiskalpakts hat gezeigt, dass die Institutionen viel kapillarer sein, dass sie vom Zentrum aus kontrolliert werden müssen.

Damit sind wir aber beim Kern der Frage. Ein Rückbau des Euro zum EWS und seiner – revi­dierbaren – „Schlange“, dem Kursgitter, ist sicher ein wichtiger Schritt. Aber damit baut man den Rest der mittlerweile sehr engen Zwänge noch keineswegs ab. Die Argumentation von der OCA her ist also zwar notwendig und richtig. Aber sie reicht bei weitem nicht mehr aus. Das ist heute nicht mehr der Kern des Problems.

Wir müssen an die Stelle des neoliberalen Primats der Politik für die Finanz-Oligarchie einen ganz entgegen gesetzten Primat der Politik setzen. Der aber lässt sich nicht durchsetzen, wenn wir nicht den Internationalismus dieser Finanz-Oligarchie aufgeben, nein: brechen. Der Inter­nationalismus des Kapitals und seiner Handlanger kann nur durch eine Renationalisierung gebrochen werden.

Das Wort Renationalisierung und überhaupt Nation ist für liberale Intellektuelle insbesondere im deutschsprachigen Raum gewöhnlich ein Schock. Leider trotten die Nachtrapp-Politiker der Linken und die meisten ihrer Intellektuellen in kulturellem Schafsgehorsam hinterher. Wir müssen es also erklären. Das Problem ist nicht zuletzt eine Frage der Begrifflichkeit, ja sogar der Worte. Wir vertreten keineswegs einen integralen Nationalismus. Worum es geht, das sind überschaubare Grenzziehungen, und die muss man theoretisch nicht nach nationalen Kriterien vornehmen. Etwas abstrakt formuliert:

Nationale Zugehörigkeiten sind zwar für sehr viele Menschen, für einen Großteil der Bevöl­kerung, eine wichtige Motivation. Aber sie sind doch in ihrer sozialen und ökonomischen Funktion eine Oberflächen-Erscheinung. Die Tiefenstruktur erfasst dies nur unzulänglich. Grenzziehungen zwischen Gesellschaften, um soziale Systeme und politische Einheiten mitt­lerer Rechweite herzustellen, sind wesentlich für Partizipation und bewusste, demokratische Selbstbestimmung. Zwischen dem Lokalen und Regionalen auf der einen Seite, den Le­benswelten des Alltags, und dem Mondialen und Globalen auf der anderen Seite, den inzwi­schen in Vielem bestimmenden Über-Einheiten, braucht es verstehbare und beeinflussbare Größen. Erst das wird eine Politik möglich machen, welche wieder der Bevölkerung Einfluss gewährt. Diesen Aspekt müssen wir in den Vordergrund schieben. Dafür sind allerdings Grenzen zwischen den Gesellschaften nötig. Grenzen aber können keineswegs undurchlässig sein. An sie knüpfen sich auch Identitäten. Sie müssten aber nicht ethnisch oder national sein. Faktisch sind solche Zugehörigkeiten gegenwärtig in aller Regel national. Der Nationalstaat ist also keine chauvinistische Lärmorganisation. Er ist eine politische Einheit, eine abstrakte Gemeinschaft mittlerer Größenordnung, welche den Menschen u. a. die Zumutbarkeit des Teilens miteinander näher bringt.

Die nationalen Grenzen haben zudem einen Charakter, welcher die Erfahrung der Bevölke­rung mit gegenseitigen Unterstützungen aufnimmt. Ich spreche vom europäischen Sozialstaat. Andere Erfahrungen hat sie in dieser Hinsicht nicht. Hier könnte eine neue Solidarisierung ansetzen, welche sich mit Aussicht auf Erfolg gegen die „europäische Solidarität“, dieses Zusammenstehen der Mächtigen in ihrer verbrecherischen Politik, stellen kann.

Und damit kommen wir von einem Schritt zum anderen.

Wir müssen endlich aus der hegemonialen Zwangsjacke des Europa-Mythos heraus. Noch immer glauben auch Politiker der Linken, sie müssten sich als „begeisterte und überzeugte Europäer“ präsentieren. „Unsere Europäische Union“ schreibt Varoufakis in seiner letzten auch deutsch verfügbaren Broschüre. So unterschiedlich klingt es auch bei Lafontaine nicht. Das ist nicht „unsere“ EU: Haben diese Leutre denn nicht begriffen, was „Europa“ heute bedeutet? Dass es das Deckblatt genau dieser Politik ist, welche sie – und wir – beseitigen wollen?

Der Euro ist der Kern der EU, jenes Paradigmas neoliberaler Politik für die Spitzen der Gesellschaft, für das Finanz- und Großkapital. Wenn wir uns vom Euro befreien wollen, so wollen wir uns damit von der EU, von diesem Europa des Supra-Imperialismus befreien. Mit dem Euro stellen wir also nicht „nur eine Währung“, „nur ein Geld“ in Frage. Mit dem Euro wollen wir uns der Zwangsjacke entledigen, die uns an einer neuen, einer alternativen Politik, einer Politik für die große Mehrheit der Bevölkerung hindert.

Albert F. Reiterer

Literatur

Buzan, Barry / Waever, Ole / de Wilde, Jaap (1998), Security. A New Framework for Analysis. Boulder, CO.: Lynne Rienner.

Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.

Lenin, W. I. (1975 [1916]), Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Werke 22, 189 – 309.

Mundell, Robert A. (1961), A Theory of Optimum Currency Area. In: AER 51, 657 – 665.

Mundell, Robert A. (1973), Uncommon Arguments for Common Currencies. In: Johnson, Harry G. / Swoboda, Alexander K., eds. The Economics of Common Currencies: Proceedings. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Mundell, Robert A. (1997), Optimum Currency Areas. Extended version of a luncheon speech presen­ted at the Conference on Optimum Currency Areas, Tel-Aviv University, December 5, 1997. http://www.columbia.edu/~ram15/eOCATAviv4.html (download: 27. Oktober 2013)

Schumpeter, Joseph A. (1976 [1942]), Capitalism, Socialism and Democracy. With a new introduction by Tom Bottomore. New York: Harper & Row.

Sozialstaat statt Euro-Diktat – Referenten

Im Rahmen der Konferenz Sozialstaat statt Euro-Diktat in Graz sind Referenten sowohl aus Österreich als auch aus dem Ausland (Deutschland, Griechenland) zu Gast. Damit ist eine spannende und inhaltsreiche Diskussion zur Krise der Europäischen Union, den Widersprüchen der Währungsunion und dem Widerstand der Menschen garantiert. Im folgenden werden die wichtigsten Referenten zu den drei thematischen Blöcken der Konferenz kurz vorgestellt.

 

Bruchlinien durch Europa – Der Euro und die strukturelle Krise der EU.

Albert Reiterer, EuroExit
Albert Reiterer habilitierte in Politikwissenschaften an der Universität Innsbruck. Er war Lehrbeauftragter an den Instituten für Soziologie sowie Volkskunde der Universität Wien, am Institut für Soziologie der Universität Graz und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Seine universitären Forschungsschwerpunkte waren die Themen Ethnizität, Nationen-Bildung, Nationalismus und Minderheiten. Seit seiner Pensionierung bearbeitet er systematisch die Prozesse der Entdemokratisierung und Peripherisierung im Zuge der europäischen Einigung und insbesondere die Rolle des Euro. Dazu veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze und Broschüren. Albert Reiterer war federführend an der Ausarbeitung der Grundthesen des Personenkomitees EuroExit beteiligt (Manifest).

 

Runder Tisch der Opposition – Österreichische Ansätze für eine demokratische und soziale Alternative jenseits des Euro-Regimes

Werner Murgg, KPÖ Steiermark
Werner Murgg promovierte in Philosophie und Geschichte an der Universität Graz. Er ist seit 1988 Mitglied der KPÖ Steiermark und wurde 1995 in den Gemeinderat von Leoben gewählt, 2005 wurde er Stadtrat. Seit 2005 ist Werner Murgg auch als Abgeordneter der KPÖ Steiermark im steierischen Landtag. Werner Murgg hat federführend an zahlreiche programmatische Dokumente der steirischen KPÖ mitgearbeitet. Er arbeitete systematisch die Verbindung des Kampfes auf Gemeinde- und Betriebsebene gegen die Sozialabbaupolitik der steirischen SPÖ-ÖVP Koalition („Reformpartnerschaft“) und des Kampfes gegen die EU sowie für die Rückgewinnung demokratischer Souveränitätsrechte heraus.

Boris Lechthaler, Solidarwerkstatt
Boris Lechthaler arbeitet als Versicherungsangestellter in Oberösterreich und ist bei der Solidarwerkstatt Österreich engagiert. Er ist 1999 aus Protest gegen die grüne Kriegspolitik gegen Jugoslawien aus der Grünen Partei ausgetreten und hat 2008 die Bewegung für eine Volksabstimmung über den EU-Lissabon-Vertrag mitinitiiert. Die Solidarwerkstatt arbeitet für ein freies, solidarisches, neutrales und weltoffenes Österreich und fordert den Austritt Österreichs aus der EU. Boris Lechthaler fungiert auch als einer der Sprecher des Proponenten des Personenkomitees EuroExit.

David Stockinger, Sozialdemokrat/innen gegen ein Berufsheer
David Stockinger ist langjähriger Aktivist der Sozialdemokratie, wo er als Vorsitzender der SPÖ Schwechat fungiert, und in zahlreichen politischen Bewegungen. Er engagiert sich insbesondere für den Kampf zum Erhalt der österreichischen Neutralität und gegen die NATO. Stockinger bezeichnet sich selbst als linken Patrioten, der für ein unabhängiges und sozialistisches Österreich eintritt. Darüber hinaus ist er seit vielen Jahren in internationalen Solidaritätsbewegungen, insbesondere der Kubasolidarität, aktiv.

 

Unterordnung oder Bruch: Griechenland und die Polarisierung Europas

Inge Höger, Die Linke (BRD)
Inge Höger war Mitglied der Gewerkschaft ÖTV und ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Sie war Gründungsmitglied der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG). Im Juni 2005 wurde sie auch Mitglied der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Nach der Verschmelzung von PDS und WASG im Jahr 2007 wurde Höger Mitglied der Partei Die Linke und als Sprecherin des Kreisverbandes Herford gewählt. Seit 2005 ist Inge Höger über die Landesliste Nordrhein-Westfalen der Linkspartei Mitglied des Deutschen Bundestages, wo sie von November 2005 bis September 2006 stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke war.

Nikos Galanis, Volkseinheit (Griechenland)
Nikos Galanis (geb. 1960) ist gelernter Mechaniker. Seit 1977 ist er in der griechischen Linken aktiv und war in verschiedenen marxistisch-leninistischen Bewegungen engagiert. Er war Gründungsmitglied der Kommunistischen Organisation Griechenlands (KOE) und bis 2011 Mitglied im deren Politischem Sekretariat. 1994 und 1998 trat er als Bürgermeisterkandidat im der Stadt Nikea (Attika) und 2007 als Kandidat auf der Parlamentsliste der Syriza an. Galanis war zwischen 2007, sei Eintritt der KOE in Syriza, und 2011 Mitglied des Politischen Sekretariats von Syriza. 2011 gründete er mit Dissidenten der KOE, die einer zunehmenden Auflösung in Syriza skeptisch gegenüberstanden, die politischen Organisation PAREMVASI. 2015 beteiligten sich Galanis und seine Organisation an der Gründung der Volkseinheit (LAE) wo er derzeit als Mitglied des vorläufigen Sekretariats der Organisation fungiert.

Konferenz 31.10.: Sozialstaat statt Euro-Diktat

Österreichweite Konferenz des Personenkomitees EuroExit gegen Sozialabbau

 

„Die Krönung des europäischen Einheitswerks“ sollte der Euro werden. Das Pathos der Eliten wurde zu einer Wirklichkeit, die sich die Bevölkerung anders vorgestellt hat. Aber die Bevölkerung zögert, aus ganz unterschiedlichen Gründen in den verschiedenen Gesellschaften. Sie fürchtet, dass ein Austritt aus der monetären Zwangsjacke die Lebensumstände noch verschlimmern könnte. Es ist Zeit, aus dieser Sackgasse heraus zu kommen. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Das Personenkomitee EUROEXIT orientiert klar und eindeutig auf den Austritt aus der Eurozone. Die Währungsunion ist die Konstruktion, die die schmutzigen Ziele der Eliten durchsetzen soll. Der Neoliberalismus und die Gesellschaftsspaltung ist das Programm der EU. Der Euro soll die Entwicklung unumkehrbar machen. Es geht um einen Ausbruch aus der neoliberalen Bevormundung und der Wiedergewinnung von Souveränität. Nur ist sozialer und demokratischer Fortschritt wieder möglich.

Das Personenkomitee EUROEXIT richtet sich an alle, die die Politik des Zwangs und der sozialen Zerstörung ablehnen. Der erste Schritt ist eine Vernetzung.

 

31. Oktober 2015

PROGRAMM

13.00 – 15.00 Uhr: Bruchlinien durch Europa – Der Euro und die strukturelle Krise der EU. (Albert Reiterer, Universitätsdozent i.R. Soziologie, Personenkomitee EuroExit)

15.30. – 17.30 Uhr: Runder Tisch der Opposition – Österreichische Ansätze für eine demokratische und soziale Alternative jenseits des Euro-Regimes u.a. mit Werner Murgg (KPÖ Steiermark), Boris Lechthaler (Solidarwerkstatt), David Stockinger (Sozialdemokrat/innen gegen ein Berufsheer) und lokalen sozialen Initiativen.

Ab 18.00 Uhr: Podiumsdiskussion: Unterordnung oder Bruch: Griechenland und die Polarisierung Europas – mit Nikos Galanis (Volkseinheit Griechenland) und Inge Höger (Bundestagsabgeordnete Die Linke Deutschland) und anderen.

 

Veranstaltungsort: LAGERGASSE 98A • 8020 GRAZ

MIGRATION III – „HUMANITÄRE HILFE“: KULTURKAMPF ALS NEUER KLASSENKAMPF

Die Eliten und ihre Intellektuellen nutzen die Migration

Ein neuer Kulturkampf ist ausgebrochen. Da macht sich also eine Profil-Journalistin namens Edith Meinhart (28. September 2015) auf die Suche nach „dem Stammtisch-Wähler“. Und im Kurier vom 25. Oktober 2015 sind andere (Walter Friedl / Ingrid Steiner Gashi) sehr beunruhigt über die geringe Bereitschaft zur Weltoffenheit bei den „sozial Schwachen“.

Endlich können die mainstream-Medien und ihre Auftraggeber guten Gewissens auf die intoleranten und ausländerfeindlichen Unterschichten losgehen. Ist nur ein Pech, dass mittler­weile auch, wie sie es formulieren, „die Mitte“ nicht mehr von der Entwicklung ausgespart ist, dass selbst Lehrer und Bankangestellte, also typische Figuren der unteren Mittelschicht, ja sogar bis in die mittlere Mittelschicht, also deutlich über den Median der 50 % hinweg, dort angekommen sind, dass sie – mangels ihnen erkenntlicher Alternative und dank jahrzehnte­langer Hetze – nur mehr die Möglichkeit sehen, bei der Strache-Partei ein Kreuzerl zu machen.

Gegen „die Furcht der sozial Schwachen, die ohnehin knappen Mittel“ – wer sagt eigentlich, dass die Mittel knapp sind? Die Gewinne sind hoch wie nie! – „jetzt mit den Zuzüglern teilen zu müssen“, schlägt ein deutscher Zyniker, angeblich Politologe, vor, „die Meinungsführer­schaft wieder zu erlangen“ (?), und „die Bevölkerung durch eine Politik der Symbole zu beruhigen“ (im Kurier). Kann man es noch offener sagen, worum es den Herrschenden geht?

Die Geschehnisse der letzten zwei Monate, die „Flüchtlings-Krise“, ist wirklich eine Krise. Aber man muss sie richtig verstehen. Es ist eine offene Krise des Weltsystems. Die Merkel-Chuzpe wird ihr wenig bringen, trotz Sukkurs solcher Kaliber wie Faymann. Zuerst löste sie den massiven Zustrom aus; dann weigert sie sich, wie gewöhnlich, ihren Fehler zuzugeben. Sie will die Anderen dafür in die Pflicht nehmen. Machen wir uns jedoch nichts vor: Die Menschen wären so oder so gekommen, wenn auch nicht in dieser geballten Menge. Wir müssen uns also mit dem Problem seriös auseinander setzen.

Hier aber geht es vorerst um einen spezifischen Aspekt. Die Eliten und ihre Hilfskräfte fühlen sich für einmal wirklich im Recht und glauben, auf ihr sonst manchmal bei der massiven Umverteilung nach oben doch erkenntliches schlechtes Gewissen verzichten zu können. Vertreten sie nicht das Prinzip des Humanitären? Leben sie nicht für Einmal wirklich dem Universalismus nach, der sonst so durchsichtig nur der Eigennutz ist?

Es ist ein Himmelsgeschenk für sie, denn da ist was dran: Sie sind plötzlich gute Menschen auf Kosten von Anderen, und langfristig wird ihnen dies auch noch in der Umverteilung etwas bringen. Denn Massen-Zuwanderung senkt die Löhne der Unterschichten, hebt aber tendenziell die Einkommen oben.

Es ist ein wirklicher Kulturkampf, und wie jeder Kulturkampf, ist er beladen mit materiellen Interessen. Denn wer kann widersprechen, dass Menschen aus Syrien – Kriegsflüchtlinge, wenn auch vielleicht nur die Hälfte der Ankommenden – dringlich Hilfe brauchen? Aber nochmals: Auf wessen Kosten? Schon macht die Idee von einer neuen Massensteuer die Runde. Und vor allem: Man braucht bloß die Beiträge in diesen Medien lesen, im Profil, im Standard, im Kurier! Nun kann man endlich in aller Deutlichkeit sagen, wie letztklassig diese „sozial Schwachen“ sind, wie unmenschlich und wie selbstsüchtig. Gewöhnlich müssen politisch Korrekte ja höchst sorgsam mit ihren Worten umgehen und dürfen nicht wirklich sagen, was sie denken. Hier haben sie nun endlich die Möglichkeit, ihren Gefühlen und ihren Ressentiments gegen die unten freien Lauf zu lassen.

Nur zu Klarstellung: Wir gehören nicht zu jenen, die glauben, sie müssten ins Gänsehäufl gehen, um dort prächtige Proletarier-Körper zu bewundern. Die meisten von uns sind auch nicht bereit, ihren eigenen Lebensstil zu verleugnen, um plebeische Sitten und Gebräuche in den Himmel zu heben. Wir wollen die Bedingungen ändern, welche die Menschen so zurichten. Wir fragen nach, wie diese Menschen zu dem wurden, wie sie eben sind. Wir wollen keine Unterschicht-Menschen und keine subalterne Klassen mehr.

Einen „Kulturkampf“, einen Klassenkampf gegen die Unterschichten zu führen, weil sie nicht die Haltungen und den Stil der Mittel- und Oberschichten aufweisen, weil sie um ihren bescheidenen Lebensstandard fürchten, den ihnen die herrschende Politik immer mehr schmälert, das ist wahrhaft dieser oberen Mittelschichten und ihrer Heuchelei wert.

Vielleicht sollten wir uns auch erinnern: Die Erste Internationale, die Internationale, die noch von Marx und Engels mitbegründete wurde, entstand auch aus einer vergleichbaren Situation. Die Weltausstellung in London 1862 zog eine Menge fremder Arbeitskräfte an. Nicht zuletzt aus dem deutschen Sprachraum kamen jene, die in London zumindest für kurze Zeit Arbeit und Einkommen erwarteten. Die Folge war, dass sich die britischen Arbeiter gegen die Lohn­drücker vom Kontinent wandten. Dagegen versuchten nicht zuletzt die Sozialisten im Londo­ner Exil, eine sinnvolle Politik zu entwerfen. Eine Folge u. a. war die Internationale Arbeiter-Assoziation.

Doch das hilft uns heute nicht weiter. Es zeigt nur, dass Immigration von den Eliten und vom Kapital stets für ihre eigenen Interessen missbraucht wurde. Es ist damit die blauäugigste Naivität, in die Slogans der liberalen Zeitungen einzustimmen: „Welcome Refugees“ ist ein purer Hohn für alle jene, die es bereits absehen können, wie nach den Kosten der sogenannten Steuerreform nun auch die Kosten der Flüchtlingsversorgung und der Immigration, welche diese Stimmung nutzen will, wieder von ihnen getragen werden müssen: durch reale Senkung der Pensionen; durch Manipulieren an den „Zumutbarkeits-Bestimmungen“; durch Nicht-Valorisieren des Pflegegelds; durch Erhöhung der Mehrwertsteuer; Verlängerung der Arbeitszeiten („Flexibilisierung“); usw.

Internationalismus heißt weder, auf nationale Zugehörigkeiten verzichten, noch auch, der Schmutz-Konkurrenz niedriger Löhne durch die sosehr geförderte Immigration den eigenen Standard opfern. Es ist geradezu unverantwortlich, auf die Slogans der Eliten und ihrer Helfer einzusteigen, und zu deren Bedingungen ihren Dreck aufzuarbeiten.

Für uns ist dies Alles ein Problem. Wir geben auch nicht vor, schon valide Antworten darauf zu haben. Wir müssen dies neu durchdenken. Aber wir werden sicher nicht in den Chor derer einstimmen, die nur zu gut wissen, was sie tun – und die dies nun endlich mit bestem Gewissen tun wollen, da sie doch den armen Menschen an der österreichischen Grenze helfen, bevor sie die Regierung durchwinkt.

  1. Oktober 2015

Ein Hinweis

Ein nützliches Buch ist

Collier, Paul (2014), Exodus. Warum wir die Einwanderung neu regeln müssen. München: Siedler.

ÖSTERREICHISCHE NEUTRALITÄT ZWISCHEN HABSBURG-NOSTALGIE UND GROßMACHT-AMBITIONEN

KP Graz / Steiermark, Zum österreichischen Nationalfeiertag – 24. Oktober 2015

Das politische Projekt des eigenständigen Österreich und die Eliten

Vor 60 Jahren, am 26. Oktober 1955, proklamierte das österreichische Parlament die immer­währende Neutralität unseres Landes – „aus freien Stücken“. Letzteres traf nur teilweise zu, wie wir gleich hören werden. Die politische Klasse war damals keineswegs zur Gänze vom Sinn dieser Ausrichtung überzeugt. Österreich, oder vielmehr seine politische Führung, musste zu seinem Glück gezwungen werden.

Die Neutralität wurde in Österreich für historisch kurze Zeit die eigentliche Staatsraison, der Kern des politischen Projekts österreichische Nation. Nicht nur außerhalb hat man dies nicht wirklich begriffen. Auch in Österreich selbst gab es Probleme. Die Intellektuellen waren in ihrer großen Mehrzahl stets deutsch-national gewesen. Nun, in der Zweiten Republik, ver­stummten sie für kurze Zeit. Heute sind sie wieder umso lautstärker zu hören – und zwar wieder anti-österreichisch.

Allerdings hat sich das Klima geändert. Die deutschen Intellektuellen, seinerzeit in ihrer überwiegenden Mehrzahl auf Seiten der Herrschenden, ob diese schwarz-rot-gold oder braun waren, sind globalistisch geworden. Die österreichischen Intellektuellen waren seit je abhän­gig und wenig originell, äfften ihren deutschen Confrères nach. Der latente Deutschnationa­lismus verkleidete sich heute also. Er wurde auch globalistisch. Das Ganze erinnert sehr an eine Situation im Kärnten der Ersten Republik. „Deutschland durften wir nicht rufen, Öster­reich wollten wir nicht sagen; so wurde unser Kampf eben Kärnten“ – diese Feststellung von Hans Steinacher (1943) aus der Nazizeit braucht nur wenig geändert zu werden, um die intel­lektuelle Situation seit 1990 zu kennzeichnen. Heute heißt dieses Motto der hegemonialen und machtorientierten Intellektuellen: Österreich wollen wir nicht sagen, Deutschland dürfen wir nicht; so sagen wir eben Europa. Es gibt allerdings auch vereinzelt welche, die direkt für den Anschluss optieren, etwa Robert Menasse.

Ich möchte drei Situationen aus Wendepunkten unserer Geschichte ansprechen. Sie zeigen: Das nationale Projekt Österreich musste ersetzt werden, weil es ein Projekt der sozialen und politischen Bescheidung war. An seine Stelle sollte und musste das Großmacht-Projekt Europa treten. Das neue Imperium soll den Eliten ihre unbeschränkte Herrschaft garantieren. Den von ihnen abhängigen Intellektuellen kann es aber endlich wieder als Projektionsfläche für ihre platoni­schen Träume vom Philosophenkönig im Weltstaat dienen.

1918 / 1920

Vor einem halben Jahrhundert, noch zur Zeit der Großen Koalition, erschien in Wien das Buch eines Journalisten über die Erste Republik: „Der Staat, den keiner wollte“ (Andics 1962). Es ist die Variation eines anderen Buchtitels; der stammt allerdings kennzeichnender Weise – der Journalist kam aus großdeutschem Haus – aus der Nazizeit: „Der Staat wider Willen“ (Lorenz 1940). Die Titel sind zumindest eine Irreführung, wenn nicht eine Lüge. Vielleicht aber auch nicht: Denn die Eliten und ihre Intellektuellen sind es schließlich, welche den Staat konstituieren. Das war somit die Auffassung der Eliten von damals.

Es ist wahr: Im Gründungsakt vom 12. November 1918 beschlossen die Parteien einstimmig: „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik… Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“ (StGBl. 5). Und die Bevölkerung? Noch im August 1918 hatten nicht wenige Verblendete von einem Sieg der Mittelmächte gefaselt. Es erinnert an die Göt­terdämmerung im Führerbunker von 1945. Die Niederlage ungeschehen machen war sowohl 1918 als auch 1945 ein Anliegen der Eliten ebenso wie vieler Teile der Bevölkerung. Aber der Zugang war in beiden Situation ganz unterschiedlich. Es entstand jeweils ein völlig unterschiedliches politisches Projekt aus dieser Haltung.

Geschichtsschreibung ist die Aufarbeitung des Geschehens vonseiten der Herrschenden. Es gibt also wenig an Belegen über die Stimmung in der Bevölkerung. Aber vereinzelt haben wir doch etwas. Otto Bauer war damals bekanntlich Außenminister. Er schickte seinen Freund und Partei-Genossen L. M. Hartmann als Botschafter nach Berlin. Hartmann war ein glühender Deutschnationaler. In Berlin glaubte er, dies ausleben zu müssen. Er erzählte allen, die es hören wollten: Österreich werde eben eine Volksabstimmung abhalten und dann auf alle Fälle Teil von Großdeutschland sein. Das kam der Regierung in Wien in die Quere, die sich in Paris eben mühte, erträgliche Friedensbedingungen auszuhandeln. Otto Bauer schrieb also am 15. Juli 1919 einen unwirschen Brief an seinen Freund. Und da gibt es eine hoch interessante Stelle: „Auch auf die Form des Plebiszites möchte ich mich nicht festlegen. Die Christlichsozialen machen ständig gegen den Anschluss Stimmung, und auch innerhalb der Arbeiterschaft ist die Begeisterung für den Anschluss unleugbar schwächer geworden … “ (Reiterer 1993, 116). Er fürchtete also, die Volksabstimmung zu verlieren. Wenige Jahre später wird er erklären: „Die Masse der Arbeiter stand damals [Ende 1918] dem Anschluss­gedanken noch kühl gegenüber; sie hatte den deutschen Imperialismus während des Krieges allzu tief gehasst, als dass sie sich nun für den Anschluss an dasselbe Deutschland hätte begeistern können“ (Bauer 1923).

Worum ging es? Der Anschluss war für die Eliten eine Möglichkeit, den Großmacht-Traum weiter zu verfolgen. Es war die SD, welche dies schon damals zu ihrer verstümmelten Form des Internationalismus gemacht hatte. Sie konnte sich auf Friedrich Engels berufen. „Eine Nation, die 20.000 bis 30.000 Mann [an Truppen] höchstens stellt, hat nicht mitzusprechen“ (MEW 27, 268 – Brief an Marx). Der Großmacht-Nationalismus war von ihm in einer Brutalität vertreten worden, der schon wieder erstaunlich ist. Man hat Engels auch den ersten Revisionisten genannt. Gerade an dieser Stelle kommt dies besonders deutlich heraus.

Mit dieser Orientierung auf das im Ersten Weltkrieg spektakulär gescheiterte Projekt der übernationalen Großmacht verzichteten die habsburgischen und die deutschen Eliten aber auch auf ein gangbares Projekt Österreich. Wie hätte es anders sein können? In der „Öster­reichischen Revolution“ (Bauer 1923) hatte Bauer dies theoretisiert und ideologisiert: Für ihn war alles, was dunkel war, österreichisch. Sein Zukunftslicht sah er nur in Deutschland. Diese Haltung war der letzte Grund für das Scheitern der Ersten österreichischen Republik.

Intellektuelle und Politik: zwischen Hegel und Kant

Einige grundsätzliche Bemerkungen sind hier wohl angebracht. Als sich der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft entwickelte, lief sozial eine parallele Entwicklung ab. Aus einem plebeischen Impuls wurden wurde die revolutionäre Bewegung zu einer ausgearbeiteten Strategie.

Es gab viele plebeische Aufstände in der Geschichte, von den Roten Augenbrauen im China der Chin über die mitteleuropäischen Bauernaufstände bis zur sardischen Macchia. Alle scheiterten. Oft genug mündeten sie nach kurzfristigen Erfolgen sogar in noch schlimmere restaurative Regime. Denn plebeische Bewegungen kennzeichnen sich durch das Fehlen eines Alternativ-Entwurfs.

Dazu bedurfte es, in einem bestimmten Sinn (Gramsci 1971 bzw. 1975), der Intellektuellen. Die proletarische Bewegung war stets ein politischer Verbund von Unterschichten, Arbeitern und anderen, mit Intellektuellen. Aber Intellektuelle kennzeichnet eine Ambivalenz. Sie sind eine privilegierte Gruppe. Und sie können der Versuchung der Macht nicht widerstehen. „Power corrupts.“ Die sozialistische Bewegung braucht Intellektuelle. Aber diese dürfen die Bewegung nicht kontrollieren. Das ist ein weites Feld, ein zu weites für hier.

Intellektuelle berufen sich stets auf Traditionen, denn sie müssen von irgendwoher lernen. Solche intellektuelle Kontinuitäten werden dann zu politischen Strategien.

Engels und mit ihm der Marxismus fand sein Leitbild in Hegel. Aber Hegel war der Staatsphilosoph, der Intellektuelle des aufsteigenden preußisch-deutschen Imperialismus. Er war der Ideologe der Herrschaft und der Großmacht.

Auch im deutschen Idealismus, dem der junge Marx entstammt, gibt es eine andere Tradition. Warum nützen wir heute, nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahrhunderte, nicht Kant und seinen „Ewigen Frieden“? Dort entwarf der späte Kant eine Struktur des internationalen Sys­tems, welches diametral gegen die Tendenzen der Gegenwart geht. Hier finden wir eine menschliche Dimension gegenüber dem „Weltgeist“ und dem entseelten Apparat des Welt­staats. Es ist ein Entwurf, welcher politische Alternativen noch zulässt – und deswegen gegenwärtig den Eliten zuwider läuft. Setzen wir dem globalen Machtstaat des G. W. F. Hegel ein lokales, nationales und regionales Feld der politischen Aktivität gegenüber! Ein solcher Paradigmenwechsel ist in der konsequenten Linken längst fällig.

1945

Nach der Götzendämmerung des Tausendjährigen Reichs war es das erste Anliegen des neu gegründeten Österreich und seiner Regierung, sich von der deutschen Katastrophe abzukop­peln (Reiterer 1988). Einige aus dem Anhang der neu-alten Parteien wollten dies nicht. Sie beteiligten sich auch nicht am neuen Aufbau. Es waren wenige prominente Sozialdemokraten, die in London den Krieg überstanden hatten. Der angeblich Linke Friedrich Adler war unter ihnen der bekannteste. Er wollte in dieses neue Österreich, das er so sehr verachtete, gar nicht zurück kehren. Karl Czernetz kam zurück und wurde politisch aktiv. Er wird national vorerst schweigen und mühsam umlernen. Später profilierte er sich auf einer anderen Schiene. Er nützte eine SArt Pseudo-Marxismus für seine Artikel vorwiegend in der „Zukunft“. So nannte man ihn den „Chefideologen“ der SPÖ. Unnachahmlich war wieder Karl Renner. Der alte Opportunist hatte sich 1938 den Nazis angedient (Renner 1991 [1938]), obwohl ihn niemand gefragt hatte. Nun war er wieder wer: Bundespräsident.

Die Suche nach einer neuen Identität und einem neuen Programm wurde nach 1945 – neben den Kommunisten – eher von den Konservativen gepflegt. Aus ihrer vorerst taktischen Bewegung wurde bald eine Strategie. Sie wäre allerdings um ein Haar gescheitert. Diesmal kamen die Widerstände von Außen. Die USA hatten die NATO gegründet und wollten die Welt säuber­lich eingeteilt wissen. Eine Neutralität passte nicht in dieses Konzept. So wurden die Verhandlungen um den Staatsvertrag, die im Grund bereits Ende 1948 in allen wesentlichen Punkten abgeschlossen waren, über sieben Jahre verschleppt.

Aber die USA hatten ihre Hilfskräfte auch in Österreich. Es waren wieder die Sozialdemo­kraten. Ich möchte hier nicht auf die Einzelheiten eingehen (Stourzh 1988). Faktum ist jeden­falls, dass sich insbesondere Bruno Kreisky, damals Staatssekretär im Außenministerium, zusammen mit Vizekanzler Schärf in der Delegation bei den Moskauer Verhandlungen, heftig gegen die Neutralitäts-Erklärung wandte. Noch bei den letzten Verhandlungen in Moskau 1955 drohte er laut Ludwig Steiner und Botschafter Bischoff mit seiner Abreise wenn die Neutralität beschlossen würde, wie Ludwig Steiner und der Botschafter Norbert Bischoff berichten. Die Konservativen, Raab zuvorderst, ließen ihn ins Leere laufen und setzten sich durch. Raab soll ihm auf seine Drohung gesagt haben: „Na, dann fahren S‘ halt, Herr Staats­sekretär!“

Die Neutralität wurde zum Banner des neuen Österreich. Sie war ursprünglich nur als völker­rechtliche Finesse gedacht. Doch die Österreicher fassten sie sehr schnell ganz anders und politisch integral auf. Sie wurde zur Weigerung, sich auf das Spiel der Großmächte einzulas­sen. Das Wohl der Bevölkerung sollte im Vordergrund stehen. Es war in Hinkunft keine Tugend, unbedingt das Fünfte Rad am Wagen irgend eines Bündnisses zu sein.

Aber ganz ging man der Versuchung der Großmannssucht nicht aus dem Weg, und das sollte später bedeutsam werden. Da waren die Altkonservativen. Sie pflegten den Habsburger-My­thos, der den „Völkerkerker“ von damals in ein fröhliches Miteinander in einem friedlichen übernationalem Staat umdeutete. Wir kennen die Masche von heute: die EU als „Friedens-Projekt“, da die Menschen ihre schädlichen sozio-ökonomischen Wirkungen nicht mehr übersehen wollen.

Das war aber auch nicht zuletzt ein Kennzeichen der Ära Kreisky. Derselbe Kreisky, der sich so erbittert gegen die Neutralität ausgesprochen hatte, wurde nun ironischer Weise zu ihrem Standarten-Träger. Allerdings garnierte er dies mit Versuchen, Konfliktvermittler zu spielen, wo die maßgeblichen Konfliktparteien meist kein Interesse an einer solchen Mediation hatten. Immerhin: Dies schärfte bis zu einem gewissen Grad das Bild dieses Kleinstaats. Zu Hause aber bot dies der Sozialdemokratie einen gewissen Ersatz für den Habsburger-Mythos, Speziell einige der extrem-konservativen Kreise (für sie steht u. a. der Name Coudenhove-Kalergi) hatten sich aber bereits umorientiert. Sie hatten sich, zusammen mit Otto Habsburg, Abgeordneter der CSU im Europäischen Parlament, schon auf die E(W)G festgelegt.

1990 / 1994 und danach

Gehen wir wieder eine Generation weiter!

1985 kam es zu einem innerparteilichen Putsch in der SPÖ. Die Träger der alten politischen Kreisky-Linie wurden entfernt. Außenpolitisch traf dies den damaligen Außenminister Erwin Lanc, der gewissermaßen das Kreisky-Erbe in der Außenpolitik verwaltete. Gesamtpolitisch war dies die Festlegung auf den neoliberalen Kurs, der anderswo mit den Namen Thatcher, Reagan und Delors verbunden war. In Österreich stehen dafür Vranitzky und Lacina.

Bei den Christlichsozialen aber fand die entschiedene Orientierung auf die EG statt. Sie wurde von allen Flügeln mitgetragen: Die Alt-Konservativen des Partei-Obmanns Mock wurden flankiert von den rechten Neokonservativen des Schlags Andreas Khol und den angeblich Liberalen des Heinrich Neisser. Eine Extratour versuchte eine Zeitlang Erhard Busek, der den Habsburg-Mythos „Mitteleuropa“ gerne mit der EWG gekoppelt hätte. Das hätte dann dazu dienen sollen, Österreich in diesem Gebiet wieder eine Führungsrolle zu verschaffen. Aber die Višehrad-Staaten waren gar nicht neugierig darauf. Der EG-Beitritt wurde für alle diese Tendenzen zum strategischen Ziel: Sie hatten insbesondere nach den Wahlen von 1986 begriffen: In Österreich selbst würden sie auf demokratischen Weg keine Chance haben, den neoliberalen Paradigmenwandel durchzusetzen. In diesem Ziel trafen sie sich bald mit der Mehrheit der Grünen, verkörpert durch Alexander van der Bellen.

Mit Franz Vranitzky hatten SPÖ+ÖVP die passende Figur gefunden. Gegenüber dem biede­ren und beschränkten Mock und seinen Nachfolgern war der ehemalige Androsch-Sekretär und nun Bankdirektor imstande, die SPÖ auf den neuen Weg festzulegen. Den Weg dazu ebnete ihm Fred Sinowatz, der sich gerade politisch gegen Waldheim massiv verkalkuliert hatte und übrigens bald wegen falscher Zeugenaussage strafrechtlich verurteilt werden sollte.

1990 war es dann soweit. Im ersten Golfkrieg kam die neue Außenpolitik zu Ehren, und die Neutralität wurde in einer Nacht und Nebel-Aktion weitgehend entsorgt. Schon vorher, am 17. Juli 1989, schickte man den „Brief nach Brüssel“ ab, das Gesuch um EG-Beitritt. In der Volksabstimmung von Mitte 1994 aber wurde insbesondere die Basis der SP, nicht zuletzt in den Betrieben, einer wahren Terror-Kampagne unterzogen. Man erreichte damit und mit einer Propaganda-Walze, die nur noch mit der Nazi-Volksabstimmung für den früheren Anschluss, den von 1938, verglichen werden kann, zwei Drittel der Stimmen. Wieder spielte der Bezug auf Großmacht-Illusionen eine Rolle. Die paar verbliebenen Kreiskyaner, die sich als Linke sahen, aber verließen die Partei: Egon Matzner etwa, der frühere Programm-Koordinator; oder Erwin Weissel mit seinem berührenden Anklage-Brief an die neue SPÖ-Führung.

Die Gegenwart

Die österreichische Neutralität ist tot, wie auch das Projekt Österreich, die österreichische Nation als eigenständige Politik, nicht mehr existiert. Wie könnte es auch anders sein? Das westeuropäische Imperium, der postnationale Staat der Eliten und in ihrem alleinigen Inter­esse verfolgt eine neue Politik des Supra-Imperialismus: Kautsky’s Idee (1914) des Ultra-Imperialismus, von Heinrich Cunow und seiner Gruppe zu einem bewussten proletarischen Imperialismus verschärft, ist dabei eine Synthese mit dem klassischen Imperialismus des 19. Jahrhun­derts eingegangen. Mit den USA steht dieser Supra-Imperialismus zwar in ökono­mischer Konkurrenz und Konflikt. Gleichzeitig ist er aber bestrebt, deren militärische und politische Kapazitäten in den globalen Antagonismus zu nützen. Folge ist, dass sich insbeson­dere die Brüsseler Bürokratie in oft peinlicher, vor allem in gefährlicher Weise, den Marsia­nern jenseits des Ozeans unterwirft – sosehr, dass sogar andere Fraktionen der EU-Bürokratie dies korrigieren wollen, Das Urteil des EuGH C 362/14 zum Daten-Transfer vom 6. Oktober 2015 ist die Dokumentation eines solchen Dissenses innerhalb der verschiedenen Fraktionen der EU-Bürokratie..

In Österreich heißt das Gesicht dieser Unterwerfung Sebastian Kurz. Manche meinen, dass man diesen Schnösel damit zu hoch einschätzt. Aber seine totale Unterwerfung unter die österreichische außenpolitische Bürokratie ist schließlich eine wesentliche politische Ent­scheidung. Denn die unterwirft sich in ihrer Unfähigkeit selbst wieder total allen Brüsseler und Berliner Regungen. Der junge Mann mit seiner inzwischen entwickelten Fähigkeit, dies nach außen hin zu verkaufen, zeigt besonders deutlich den Charakter solcher Politik: Österreichische Außenpolitik ist zur reinen PR-Aktion für Berlin und Brüssel geworden.

Ist also das österreichische Projekt nun schon Vergangenheit, wiederum von den Eliten verspielt, wie in der Ersten Republik? Leider ist diese pessimistische Sicht ziemlich realistisch. Aber noch ist dieser konservative Durchmarsch nicht ganz am Ziel. Gerade die Grazer KP und die steirische KP insgesamt zeigt, dass ein linkes Projekt auch in Österreich nicht völlig chancenlos ist. Wir werden allerdings noch viel zu tun haben, bis wir auf der gesamtösterreichischen Ebene damit durchdringen. Es ist Zeit, dass wir damit beginnen. Brechen wir auf: Zurück in die Zukunft!

Literatur.

Andics, Helmut (1962), Der Staat den keiner wollte. Freiburg: Herder.

Bauer, Otto (1923), Die österreichische Revolution. Wien: Volksbuchhandlung.

Gramsci, Antonio (1971), Quaderni del carcere. Introduzione di Luciano Gruppi. Roma: Riuniti (6 vol.). Bzw.: Gramsci, Antonio (1975), Quaderni del carcere. Edizione critica dell’Istituto Gramsci. A cura di V. Gerratana. Torino: Einaudi.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1995[1822/30]), Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Frankfurt / M.: Suhrkamp.

Hilger, Andreas / Schmeitzner, Mike / Vollnhals, Clemens (2006), Hg., Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945 – 1955. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht darin vor allem Steiniger)..

Kant, Immanuel. (1795 / Reprint 1987). Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Stuttgart: Engelhorn.

Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.

Lorenz, Reinhold (1940), Der Staat wider Willen. Österreich 1918 – 1938. Berlin: Juncker und Dünnhaupt.

Reiterer, Albert F. (1986), Vom Scheitern eines politischen Entwurfs. Der ‚österreichische Mensch‘ – ein konservatives Nationalprojekt der Zwischenkriegszeit. In: ÖGL 31, 19 – 36.

Reiterer, Albert F. (1987), Die konservative Chance. Österreichbewußtsein im bürgerlichen Lager nach 1945. In: Zeitgeschichte, 14. Jahr, 379 – 397.

Reiterer, Albert F. (1993), Österreichische Identität – deutsche Kultur – europäische Integration? In: Novotny, Helga / Taschwer, Klaus, Hg., Macht und Ohnmacht im neuen Europa. Zur Aktualität der Soziologie von Norbert Elias. Wien: Wiener Universitätsverlag, 107 – 122.

Renner, Karl (1991 [1938]), Die Gründung der Republik. Deutschösterreich, der Anschluss und die Sudetendeutschen. Dokumente eines Kampfs ums Recht. Mit einer Einführung von Eduard Rabovsky. Wien: Globus.

Steinacher, Hans (1943), Sieg in deutscher Nacht. Ein Buch vom Kärntner Freiheitskampf. Wien: Wiener Verlag.

Stourzh, Gerald (1975), Geschichte des Staatsvertrags 1945-1955. Österreichs Weg zur Neutralität. Graz: Styria.

Statement of the International anti-EU Forum of left and popular forces

Athens, Oct 18, 2015

 

1. After the 2013 Cyprus events, when the unanimous “no to the Memorandum” of the Cypriot parliament was turned to a “yes” into a week’s time under ECB’s threat of halting economic support, the violent reversal of the popular „no“ at the referendum of July 5th into a „yes“ by A. Tsipras comes as a confirmation that staying at the E/Z-EU directly counters democracy. The third memorandum signed by Syriza also demonstrates that even modest attempts to challenge austerity policy cannot stand in the E/Z-EU context.

2. The events on Cyprus and Greece are thus added to the long list of violations of the will of the peoples by Eurozone / EU and various governments. Characteristic instances in this respect are the bypassing of the rejection of the “euroconstitution” that the Treaty of Lisbon reintroduced from the back door, the forced reversing of the Irish referendum with regard to the Lisbon Treaty, the required fiscal adjustment programs with the participation of the IMF at the Baltic countries, the attempt to blackmail the people of Iceland and the mandatory programs in a number of countries to rescue the euro.

3. The conclusion that all the peoples of Europe have to draw from these is that a struggle against the Eurozone / EU is the key element of the fight against austerity / Memoranda. It is a process paramount for the articulation of any exit plan from the crisis in favor of the popular classes and a key point for altering the existing equilibrium of power in favour of the popular classes. This is the key lesson to be learned from the recent developments in Greece – that resulted in a temporary parliamentary prevalence of the view that „there is no alternative”: ​​if you do not question the Eurozone -EU from the part of the popular movements, you cannot have progressive change

4. EU and eurozone’s orientation is not negotiable. They are both structured so as to serve the interests of capitalists, bankers and powerful countries, while in the years of the crisis they have created an iron grid of undemocratic tools and procedures that bind member states till the complete abolition of their popular sovereignty and national independence. The supervision institutionalized by these mechanisms, along with the assignment of monetary and exchange rate policy to the ECB, in reality abolishes the governments and neutralizes any potential pressure that working people could exercise with regard to economic policy. Any radical change is thus inextricably linked with the breach, withdrawal and dissolution of these unions and the creation of mutually beneficial and coequal relations between states.

5. In that context Eurozone constitutes a neoliberal program that not only inflicts severe losses on labour but also boost the surpluses of powerful countries at the expense of others that are forced to absorb these very surpluses in the form of lending thus further deteriorating their account balance. By blocking liquidity, the laws of modern Debtocracy are imposed within Europe from creditor countries to debtor countries. With liquidity being used as a weapon, ecomomies are forced to adapt measures and neoliberal reforms are imposed that on the one hand lead to an intentional reduction of the popular classes’ living standards and on the other aggravate public debt. Using the euro and liquidity as weapons, they impose a crisis exit strategy beneficial for capital. Labor costs decrease for the profitability of capital, self-employed are led to suffocation, small and medium enterprises are sacrificed for the benefit of multinational-big companies. Consequently, any alternative program cannot but have exit from the eurozone and the nationalization of the banking system as its starting point. It’s vital, though, to see the overall picture: The euro is not just a currency with wrong architecture. It is an imperialistic tool aiming to specific ends; it represents a coalition of national capitals that want to remain afloat both in the international level and in their own competition at the expense of the working class and the popular strata. That is why the fight against austerity cannot be consistently enacted neither at a national nor international context if breaking with this mechanism of neoliberal enforcement is not set as a key objective.

 

6. This debate is finally opening amid the European left based on the lesson tought by SYRIZA’s fatal capitulation. Initiatives such as the one of Mélenchon, Fassina and Lafontaine are very characteristic in this respect. We welcome the discussion. However, the European left for decades fared with illusions about the character of the EU, with disastrous results. It gave space both for social democrats to implement neoliberalism and for the far right to emerge as the only force willing to defend popular sovereignty. We cannot continue like this. We need an alternative plan, able to interact with social movements in each country, to effectively organize the struggle against austerity policies and the structural adjustments, and to confront the euro and the EU. Such an alternative will be the axis of international cooperation and solidarity, in case they try to punish a country opting for an alternative policy orientation via the use of liquidity as in the cases of Cyprus and Greece (e.g Portugal). The Left and the popular forces must claim a new political space after the tragic outcome of SYRIZA’s strategy to denounce austerity. A space of ​​popular sovereignty and social justice in opposition to the domination of monopoly capital and its international associations. These are not possible within the eurozone and the EU.

7. The EU treaties cannot be revised because they have been created to extend neoliberalism and dehydrate popular sovereignty and democracy. To the voices that insist on contemporary international problems (e.g. the refugee issue) and the need for international cooperation, we must insist on the fact that the EU and the dominant imperialist powers have the main responsibility for the situation in the Middle East as well as the fact that the imperialist EU is different from the indeed necessary international cooperation. Our goal is not the isolation of each country but a new partnership for European -and not only- peoples and countries, into a basis of mutual cooperation.

8. The wars of the West and the implementation of structural adjustment programs that lead to poverty and cause the collapse of states are behind the millions of refugees and migrants at the gates of Europe. We oppose the policies of ‘Fortress-Europe’ that are responsible for the deaths of thousands of refugees and migrants at the borders of Europe. We support the movements of solidarity to refugees and demand that the right of asylum and safe arrival is respected. We work for a broad anti-war and anti-imperialist movement in Europe, in order to stop the imperialist interventions that make people leave their countries. We struggle against racism and the policies and ideology of the reactionary xenophobic Far-Right.

9. We must act immediately, united and coordinated. With pan-European campaigns and initiatives, with a pan-European dialogue between social movements, leftist and in practice antineoliberal political forces. For popular sovereignty. For social justice and a crisis exit strategy in favour of labour and not capital. For another way of cooperation between european peoples that goes beyond the undemocratic and unpopular EU. The dissolution of the eurozone is the first step to that end.

10. To set this in motion, we propose to organize in the near future a forum of discussion in order to develop an alternative to the Euro-regime. We want to work together and coordinate our action with all forces and campaigns that want to breach with the ruling elites’ formula ‘There Is No Alternative’.

NUR DER EURO?

Oskar Lafontaines Brief und seine Vorstellungen einer neuen Politik

Oskar Lafontaine hat am 11. Oktober 2015 in il manifesto einen Offenen Brief an die italienische Linke geschrieben, dessen deutsche Fassung am 14. Oktober in der Jungen Welt vom 14. Oktober erschien. Der Brief könnte eine kleine Sensation darstellen. Wir müssen uns mit ihm auseinandersetzen – kritisch, aber ohne Häme und Bösartigkeit.

Oskar Lafontaine stellt die Frage, ob es eine Möglichkeit linker Politik „im Rahmen der Europäischen Union“ gebe. Seine Antwort ist eindeutig: NEIN. Und daraus zieht er die Folgerung: Es ist an der Zeit, den Aufbau einer Neuen Linken über- bzw. international anzustoßen. Sie soll sich nicht mehr als Gefangene des Eurosystems gerieren, wie die bis­herige alte (reformistische) Linke. Dazu gehört ganz offenbar auch die deutsche Partei DIE LINKE. Aber diese Neue Linke muss die Massen-Basis der alten Linken bewahren und ausbauen. Dazu gehört vorrangig auch die „Begegnung mit neuen Kräften jenseits des traditionellen Parteienspektrums“.

Das könnte eine Wende darstellen – wenn es richtig verstanden wird. Die Nennung von Bepe Grillo in einem Atemzug mit Silvio Berlusconi dämpft allerdings die Hoffnung gewaltig, die man auf diesen innovativen Politik-Vorschlag setzen könnte.

Damit sind wir bei den analytischen und politischen Schwächen dieses Weckrufs angelangt.

Oskar Lafontaine weist auf wesentliche strukturelle Faktoren des Euro-Systems hin. Zentral ist die Rolle der unverantwortlichen EZB und ihre Entschlossenheit und Möglichkeiten, jede Alternative zur gegenwärtigen Politik abzuwürgen. Aber unmittelbar darauf folgt die Fest­stellung, „dass die europäischen Verträge und das europäische Währungssystem fehlerhaft konstruiert sind. Das ist ein altes Motiv nicht nur Oskar Lafontaines, sondern der ganzen Richtung, für die er immer noch steht. Es ist der Stil, die Formulierung, die mehr als die nüchterne Aussage hier entscheidet. Denn die legt immer noch die Vermutung nahe: Das Euro-System war im Grund eine gute Idee, nur schlecht ausgeführt.

Aber der Euro ist nicht „fehlerhaft konstruiert“. Er ist so gewollt wie er ist. Das will Oskar Lafontaine nicht einsehen. Möglicherweise hängt er noch an seiner Vergangenheit. Immerhin war er deutscher Finanzminister, als die Transformation in den Euro erfolgte. Vor allem aber: Er hat seine Position ganz offenbar nicht zu Ende gedacht. Das zeigt sich an einem ganz fundamentalen Punkt-

Oskar Lafontaine schlägt nämlich als Ersatz für die heutige Einheitswährung die Rückkehr zu einem verbesserten EWS vor. Dieses System der „Schlange“ reduziert aber die Problematik des Euro auf die Fragen der fixen Wechselkurse. Die sind wichtig genug. Aber sie sind keineswegs alles und sie sind inzwischen nicht mehr der Kern des Euro-Systems. Der Kern sind heute alle Maßnahmen, welche die neoliberale und Austeritäts-Politik zur einzigen Möglichkeit, zum TINA aller Mitglieder in der EU machen. Man sollte nicht vergessen, dass das EWS, diese Schöpfung seines Vorgängers und parteiinternen Widersachers Helmut Schmidt seinerzeit durchaus als Fehlschlag betrachtet wurde. Dabei war allerdings der Gesichtspunkt jener eines Proto-Euro mit endgültig fixierten Kursen.

Trotzdem ist dieser Vorschlag erwägenswert. Aber was weiter? Bleiben wir dann beim EWS und der Schlange stehen, die eben von Zeit zu Zeit re-adaptiert wird?

Das ist vielleicht der fundamentale Punkt, wo sich unsere Vorstellungen und Wege teilen.

Und dann stellt sich eine triviale und gleichzeitig höchst entscheidende Frage. An wen richtet sich der Brief an die italienische Linke eigentlich? Manchmal hat man den Eindruck, es sind immer noch die Demokraten. Dann wieder denkt man doch eher an die Strömungen der Linken, von Fassina angefangen. Das aber ist entscheidend.

Oskar Lafontaines Brief ist eine wichtige Bewegung, könnte es jedenfalls sein. Man soll ihn daher nicht sosehr nach seinen Schwächen beurteilen. Eher ist es sinnvoll, den Brief als einen jener wichtigen Impulse zu sehen, wo endlich an ein breiteres linkes Spektrum die Anforde­rung gestellt wird: Beginnt endlich mit dem Denken! Löst Euch von Euren Illusionen! Spre­chen wir über Alternativen zum gegenwärtigen Bleimantel von Politik und ihrer neoliberal kontrollierten Medien-Öffentlichkeit! Überlassen wir eines der wichtigsten Themen der Bevölkerung doch nicht der Rechten und ihren Rattenfängern!

Aber zu Ende gedacht ist dies nicht. Wir müssen erst noch die Themen dieser Sonate, welche Oskar Lafontaine seit etwa einem Jahr anschlägt, gründlichst variieren und verarbeiten.

  1. Oktober 2015

Zwei Nachträge vom 19. Oktober:

„Der Brief ist von Fassina bestellt.

Es ist eine Medizin für ein Milieu, das bereits starke Resistenzen aufgebaut hat, wo die Medizin nicht wirken kann.

Fassina will das altlinke Milieu um SEL und Rifondazione auf Anti-Euro-Position bringen, dem es in Wirklichkeit darum geht, mehr Gewicht gegenüber der PD zu bekommen um sich dann wieder entsprechend an sie verkaufen zu können.“ (W. Langthaler)

Ein weiterer Hinweis: Im Neuen Deutschland von heute (19. Oktober) findet sich wiederum ein Interview mit O. Lafontaine. Zu den Aussagen von Lafontaine ist nur eine Frage zu stellen. Er bezeichnet sich selbst als „überzeugten Europäer“ und will „die europäische Idee und den europäischen Zusammenhalt retten“. Was bedeuten diese Gemeinplätze, Codeworte aller EU-Turbos, in Lafontaines Mund strategisch und taktisch konkret, welchen Inhalt transportieren sie?

Und noch eine Anmerkung zum Interview: Das eigentlich Interessante ist die Art, wie ND das Gespräch führt. Alle alten Versatzstücke der €- und EU-Retter tauchen da auf. Es ist aber die Linie DER LINKEN. Was will diese Partei wirklich? Wofür steht sie politisch?

DIE NEUE BESCHEIDENHEIT

Ein Blick auf die Wiener Wahlen

„Damit können wir leben“, meinte der Wahlkampfleiter der Wiener SPÖ, als er noch glaubte, das Ergebnis sei 36 % zu 35 % SPÖ : FPÖ. „Damit kann I leben“, wiederholte der Bürger­meister, als er schon wusste, dass es nicht ganz so schlimm war und die Verluste der SPÖ „nur“ rund 5 Punkte, mehr als 10 % des Anteils von seinerzeit, ausmachten. Man muss eben bescheiden sein. Auch Faymann feiert in seinem inoffiziellen Parteiblatt den „Erfolg“ und freut sich, dass es jetzt bis 2018 keine Wahlen mehr gibt. Ich wünsche ihm noch etliche solche „Erfolge“, dann ist die SPÖ dort, wo sie hingehört…

Beginnen wir mit einem taktischen Blick. Die FPÖ hatte ein „Duell“ ausgerufen und damit der SPÖ den größten Gefallen getan, den diese sich wünschen konnte. Es war vermutlich Strache selbst, der diese Linie wählte. Wir wissen ja, er hat kein Hirn, „ka G’spür“, auch nicht in solchen Fragen, die für alle Politiker ganz im Vordergrund stehen. Überall, wo seine eigene Hand erkenntlich wird, geht es ziemlich sicher daneben, von der Einigung mit der Kärntner Bagage bis zur Übernahme der Frau Stenzel. Schon das wäre ein Grund, sich nicht allzu sehr vor ihm zu fürchten.

Aber versuchen wir lieber zu erkennen, was es politisch mit solchen Manövern auf sich hat.

Im Grund versucht hier die FPÖ und Strache persönlich, ein ähnliches Manöver zu fahren, wie vor gut einem Jahrhundert Karl Lueger in Wien: Er möchte die Unzufriedenen um sich scha­ren, aber gleichzeitig bestimmte Kreise der Eliten bedienen und absichern. Er baut also eine Rechts-Partei mit plebeischen Wählerstock auf, die von einer Gruppe von „gut-bürgerli­chen“ Freiberuflern geführt wird. Denn nichts Anderes ist diese sogenannte Burschenschafter-Partie, vom ehemaligen Justiz-Minister Ofner bis zum Fast-Nazi Andreas Mölzer. Strache selbst bildet mit seinem Adlatus Kickl und ähnlichen Figuren das Bindeglied zwischen den beiden Gruppen. Gerade für Wien ist diese Kombination und Strategie besonders offensicht­lich: Den Wahlkampf hat Strache geführt, und zwar fast als eine Ein-Mann-Show. Aber der Kopf der Wiener FPÖ, sowohl vor den Wahlen auch jetzt wiederum ist Johann Gudenus. Der aber kommt aus dem niederösterreichischen Provinz-Adel. Archäologisch Interessierten dürfte die Gudenus-Höhle ein Begriff sein, am Zusammenfluss von Krems und Kleiner Krems und unter der Burg der Familie.

Damit ist aber über den Klassen-Charakter der FPÖ schon ziemlich viel gesagt.

Warum aber fürchten sich die anderen Bürgerlichen so vor dieser Truppe?

Selbst in unserem parlamentarischen System, welches ohnehin durch die EU schon soweit kastriert ist, dass innerhalb des Systems keine Änderung mehr möglich ist, bedeutet ein plebeischer Charakter eine Gefahr. Es ist nie so sicher, dass man eine solche „Bewegung“ – ein Lieblingswort von Jörg Haider – wirklich unter Kontrolle halten kann. Und dann noch diese Unterschicht-Typen! Vor einigen Wochen konnten wir ja im „Profil“ nachlesen, wie eklig diese auf eine Journalisten wirkte, wie sehr sie diese Leute verabscheut.

Und überdies stimmen die Typen nicht zur Gänze in den Halleluja-Chor zur EU ein. Die Journalisten – und leider mit ihnen auch die meisten Strache-Wähler – haben ja übersehen, dass Strache seinen Schwenk schon gemacht hat. Er ist ja keineswegs gegen die EU. Er ist nur dafür, dass die Menschen in ihrem Frust Dampf ablassen können. Also spricht er sich nicht für einen EU-Austritt aus; „die EU von innen reformieren“ will er. Usw.

Wir brauchen dies hier nicht näher ausführen, wir kennen es gut genug. Anderswo, in Italien z. B. mit seiner linken Tradition, hat sich die neue plebeische Strömung nach links gewandt. Zwar sind auch dort viele Ambivalenzen vorhanden, und die M5S hat sozusagen rot und schwarz in ihren Reihen. Aber die Tendenz ist erkennbar. Hierzulande, in einem Kernland des westeuropäischen Zentrums, scheint es selbst den Unterschichten schwer, sich auf eine wirkliche Alternative zu postieren.

Doch zurück zu den Wiener Wahlen. Es gibt noch einige interessante Details, mehr als hier genannt werden können. Die Detail-Ergebnisse stehen noch nicht zur Gänze fest, weil Wahlkarten und Briefwähler noch nicht ausgezählt sind.

Die ÖVP ist ihren neokonservativen Junglöwen mittlerweile zu zahm und in kultureller Hinsicht offenbar zu reaktionär. Sie hat, von ohnehin äußerst niedrigem Stand auf fast die Hälfte ihrer Stimmen (106 Ts. auf 59 Ts., allerdings ohne Briefwähler) abgebaut. Die gingen offenbar zum Großteil zu den Neos, wenn man SORA trauen darf. Das Institut hat sich aller­dings in der Prognose der Ergebnisse noch eine Stunde vor den ersten „richtigen“ Ergebnissen nicht ausgezeichnet. Sogar zur SPÖ ging ein doch erheblicher Teil früherer Wähler der ÖVP. Auch das kennzeichnet einen Stimmungswechsel unter den harten Konservativen. Für die ÖVP insgesamt bedeutet dies nichts Gutes.

Die Grünen als SP-Anhängsel, die sich in Wien vor allem dadurch auszeichnet, dass sie die Kern-Klientel der SP stets sein wenig schikaniert, sind Opfer ihrer eigenen Panikmache ge­worden. Dazu kommt: Sie sind nicht mehr unterscheidbar von den anderen Regierungspar­teien. Man muss das Interview des Herrn Ellensohn zu Mittag im ORF gehört haben, um das so richtig zu begreifen. Das war „gekonnt“ wie es eben alle machen, die von einer vor der Wahl abgegebene Stellungnahme schon am Tag nach der Wahl nichts mehr wissen wollen.

Um „Strache zu verhindern“, haben offenbar doch einige der früheren Grünwähler ihr Kreuzerl bei der SP gemacht. Aber es war von Anfang weg klar: Die Wiener SP ist Gefangene ihrer eigenen Strategie vor fünf Jahren, nämlich in der Koalition mit den Grünen nicht nur die billigste Lösung zu wählen, sondern auch damit einen deutlichen Schritt aus ihrer proletarischen Tradition heraus zu treten. Nun haben sie allein von den Zahlenverhältnissen kaum mehr eine andere Wahl.

Und ANDAS? Es gab für Oppositionelle kaum eine Motivation, diesen jämmerlichen Wurm­fortsatz der Grünen zu wählen, die sich zusammensetzt aus der EU-frommen Wiener KP unter dem Einfluss des Walter Baier und mit dem Gesicht des Didi Zach sowie den österreichischen Piraten – über sie brauchen wir wirklich kein Wort verlieren, siehe Innsbruck – mit der Spit­zenkandidatin Juliana Okropiridse, einer politisch unbedarften Physik-Studentin. Sie haben offenbar ernsthaft geglaubt, Chancen zu haben, schließlich aber nicht einmal das Ergebnis der KP von 2010 erreicht, das wiederum unter dem Ergebnis von 2005 lag. Wir haben nicht den geringsten Grund, uns über den Misserfolg dieses Versuchs zu freuen. Im Gegenteil. Das Problem ist nur: Auch mir ist nicht klar, warum ich gerade diese Liste hätte wählen sollen.

Eine Landtags- und Gemeinderatswahl hat selten soviel Aufmerksamkeit erregt wie diese. Doch die Regierungsparteien haben 2007 die Legislaturperiode verlängert, damit sie nicht ständig vom Volk gestört werden. Eine der Folgen ist, dass dieses Volks nun noch mehr als bisher auch andere Wahlen nützt, um der Regierung zu sagen, was es von ihr hält. Die GR-Wahlen wie auch die LT-Wahlen vor zwei Wochen sind also vor allem unter diesem Ge­sichtspunkt zu sehen. Wien ist zwar kein Paradies, und insbesondere die Vize-Bürgermeis­terin Brauner hat mit ihren Finanz-Spekulationen Einiges angerichtet und etliche Hunderte Millionen versenkt. Aber im Vergleich zu westeuropäischen Großstädten ist Wien noch halbwegs akzeptabel, auch wenn sich speziell die Grünen nach Kräften bemühen, dies zu ändern.

Noch eine Bemerkung ist am Platz. Offensichtlich haben viele noch immer nicht begriffen: Man stimmt heute nicht für eine Partei, sondern dagegen. Ein erheblicher Teil der Strache-Wähler hält weder ihn noch seine Partei für besser als die Konkurrenten. Aber die Regie­rungsparteien fürchten nun einmal ihn am ehesten. Also ist es gar nicht so irrational, der FPÖ die Stimme zu geben, wenn man die Regierung abstrafen will.

Und zum Schluss: Wahlen dieser Art sind Ersatz-Handlungen. Ich meine, dass sie immerhin eine, fast die letzte, Möglichkeit bilden, seinen Frust auszudrücken. Aber auch Nichtwählen ist unter diesen Umständen ein politischer Ausdruck. Was wir endlich ernsthaft diskutieren müssen, sind Alternative zu dieser Art von Wahl. Denn es scheint, als ob allein der Gedanke an Alternativen fast vollständig aus unseren Überlegungen verschwunden ist. Politische Tätigkeit auf Wahlen im Parlamentarismus zu reduzieren, ist der entscheidende Schritt zur Aufgabe jeden ernsthaften Anspruchs auf Änderung

12.°Oktober 2015, 14.00

DIE PORTUGIESISCHEN, GRIECHISCHEN, SPANISCHEN WAHLEN UND DIE LINKE STRATEGIE

Die linke Bescheidenheit und die Hegemonie der Eliten

Die konservativen Regierungsparteien in Portugal haben gestern 13 Punkte gegen 2011 verloren, sind von 50,4 % auf 36,8 %geschrumpft, wenn man PSD und CDS von 2011 zusammen nimmt; selbst wenn man nur den PSD rechnet, gab es noch immer einen Verlust von 2 Punkten. Dafür hat die alternative konservative Partei, die Sozialdemokraten (PS) gute 4 Punkte gewonnen, von 28,1 % auf 32,4 % – man muss hier aufpassen, denn die extrem Konservativen des PSD heißen offiziell Sozialdemokraten, der PS nennt sich „sozialistisch“.

Die Linke hat auch einige Gewinne gemacht. Die Kommunisten+Grünen stiegen leicht von 7,9 % auf 8,3 %. Der Linksblock (BE), eine reformistische Gruppe, die der Europäischen Linkspartei zugehört, hat sich verdoppelt, von 5,2 % auf 10,2 %. Daneben gibt es noch eine Kommunistische Arbeiterpartei, die bei 1,1 % stand und steht.

Schlecht?

Man muss schon sehr bescheiden sein, um dies nach sechs Jahren Austeritätspolitik als Erfolg zu betrachten. Ende 2014 stand das BIP um -8 % „real“ hinter jenem von 2008. Die Ungleich­heit hat sich verschärft. Der Bevölkerung geht es gar nicht gut. Und doch wählen vier Fünftel unter den Menschen noch jene Parteien, welche die Austeritätslinie vertreten und an dieser Politik festhalten. Wenn irgendwo, zeigen sich hier Macht und Hegemonie der Eliten. Aber solange Menschen noch wählen dürfen, müssen diese Kräfte auch irgendwo ansetzen.

Man wird sich also wohl fragen müssen, was die Linke falsch macht. Und damit sind wir wieder bei der Strategie-Debatte.

„Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“ Dieser Satz aus dem Kommunisti­schen Manifest von 1847, der vorletzte, war schon damals nicht so völlig richtig. Vergessen wir nicht: 7 Jahrzehnte zuvor schrieb Adam Smith: „Der Palast eines europäischen Fürsten übersteigt die Unterkunft eines fleißigen und sparsamen europäischen Bauern nicht so deut­lich, wie dessen Heim jener vieler afrikanischen Könige, die doch die absoluten Herren über Leben und Freiheiten von Zehntausenden nackter Wilder sind.“ – Er schreibt damals zwar wohlweislich nicht von den elenden Proletariern in ihren Londoner und Birminghamer Löchern. Aber trotzdem ist der Vergleich und ihr Sinn klar: Es geht Euch besser als fast allen Menschen in der Dritten Welt – die damals noch nicht so hieß und heute nach den Spin-Doktoren nicht nur der liberalen Intellektuellen nicht mehr so genannt werden darf.

Die europäischen Unterschichten haben etwas zu verlieren. Das gilt selbst für jene in Portu­gal, wo vielleicht manche sich noch an ihre Soldatenzeit in Angola und Moçambique in der Zeit der Diktatur erinnern. Und heute steht die Dritte Welt wieder vor der Tür, ganz wort­wörtlich, klopft an, bisweilen sogar mit deutlicher Neigung, die Tür aufzubrechen. In Portugal gar wandern manche Menschen nicht in die hoch entwickelten Nachbarn aus, sondern nach Angola, wo sie unter dem korrupten Regime mehr persönliche Möglichkeiten sehen.

Und in Österreich?

Nach der für die Regierungsparteien so völlig offensichtlichen Katastrophe der oberöster­reichischen Wahlen trat der Bundesgeschäftsführer der SPÖ, ein gewisser Schmidt, im ZIB 2 auf. Es war ein jämmerliches Bild. Er nahm einfach die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis, die Unzufriedenheit der ehemaligen Kern-Klientel der SPÖ. Er versuchte, den Auftritt für die jetzt schon gescheiterte Linie des Wiener Wahlkampfs zu nützen: Augen zu und durch, und ja nichts ändern! In wenigen Tagen wird er ja sehen, was dies gebracht hat.

Ich kann mir nicht helfen. Mich erinnert dieser jämmerliche Auftritt an unsere eigenen Debatten innerhalb der konsequenten Linken. Unsere Frage heißt meist auch: Wie können wir unsere Inhalte an die Menschen bringen – „besser kommunizieren“ heißt dies bei den Apologeten der Regierung. Aber wir müssen uns doch wohl auch fragen: Treffen wir die Erfahrung der Menschen? Ist vielleicht an unserer Analyse etwas defizient?

Und es gibt einen Punkt, einen entscheidenden Ausgangspunkt, wo wir falsch ansetzen: Die Erfahrung vieler Menschen und ihr Gefühl, implizit wie oft auch explizit, ist: Es ist uns noch nie so gut gegangen. Und hier setzen die Ängste ein: Dieser bescheidene Wohlstand soll erhalten bleiben. Ein Linker, der dies nicht ernst nimmt, ist ein Zyniker.

Die Antwort der Linken ähnelt jener in den Anfang-1970er. Damals kamen Leute wie Ernest Mandel nach Wien, und erzählten uns: Die Weltrevolution steht vor der Tür. In Schottland wird eben wieder gestreikt. Und sogar die österreichischen Arbeiter bei Hukla im Süden von Wien stellen sich auf ihre Füße und streiken.

Wenn wir Wahlergebnisse wie jene in Portugal als Vorzeichen einer politischen Wende nehmen, dann sind wir bereits ganz und gar im hegemonialen Sumpf der Eliten und ihrer Intellektuellen versunken. Um nicht missverstanden zu werden: Solche bescheidenen Zeichen des Aufbegehrens sind nicht gering zu schätzen. Aber eine Wende zeigen sie nicht notwendig an. Sie verschwinden mit dem nächsten Konjunktur-Aufschwung, und den wird es auch wieder geben, wenn er auch bescheidener sein wird, als es alle möchten.

Es geht u. a. auch darum, die Leistungen des Kapitalismus richtig einzuschätzen und seine Flexibilität zu erkennen. Nur nebenbei: Das war auch der Startpunkt des Marxismus. Seine Aussage war ja nicht: Wir alle verelenden immer mehr. Diese Behauptungen gab es auch, aber sie haben sich für uns, die Bürger der Ersten Welt, als vollkommen falsch erwiesen. Marx selbst hat ziemlich kräftig dagegen argumentiert, z. B. in „Lohn, Preis und Profit“. Aber immer wieder konnte er doch der taktischen Versuchung nicht widerstehen. Wir finden tatsächlich auch bei ihm immer wieder einmal eine Verelendungs-These.

Die entscheidende Aussageaber war: Der Kapitalismus hat inzwischen die Grundlage geschaffen, dass es allen gut gehen kann. Und der Sozialismus – was immer das ist und sein soll – muss die Gesellschaft so umbauen, das dies auch eintritt.

Dem haben sogar manche aus den Eliten zugestimmt. Sicher, da gab es die Malthusianer und sonstige extreme Reaktionäre, die dies einfach nicht wünschten. Aber da gab es auch die Leute wie Alfred Marshall, den britischen Professor, welcher Generationen von Ökonomen erzogen hat: „Mittlerweile stellen wir uns ernsthaft die Frage, ob es sogenannte ‚untere Klassen‘ überhaupt geben soll: d. h., ob wir eine große Zahl von Menschen brauchen, die von ihrer Geburt an zu harter Arbeit verdammt sind, um für andere die Erfordernisse eines verfeinerten und kultivierten Lebens zu erbringen“ (Marshall 1977 [1920], 2 f.).

Es geht also um eine neue Strategie. Sie muss aber in aller Klarheit festhalten, was wir ändern wollen, aber auch, was wir festhalten wollen – die Leistungen eines Systems bei der Innovation einerseits, aber auch in seiner Fähigkeit, die Menschen zu motivieren. Die sogenannten „realsozialistischen“ Systeme glaubten u. a., dies wegreden zu können. Das Ergebnis kennen wir.

  1. Oktober 2015

MIGRATION 2: Politische und moralische Voraussetzungen einer linken Debatte

Das Wort „Moral“ hat in der marxistischen Linken einen schlechten Klang. Man will nur von Politik sprechen. Die aber wurde in einer ziemlich vulgären Auffassung stets als Vollzug historisch unumstößlicher Gesetze gesehen. Die „historischen Notwendigkeiten“ hätten mit Moral nichts zu tun. Das ist eine Art linkes TINA („There is no alternative“ – M. Thatcher). Aber jedes TINA ist von Grund auf konservativ, ja reaktionär. Denn in der menschlichen Entwicklung und in der Politik geht es immer um Alternativen, zwischen denen man sich zu entscheiden hat. Die Wahl zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten beruht aber immer auf Werturteilen. Wenn wir über Werte rational debattieren wollen, müssen wir offen an sie heran gehen.

Nicht zuletzt die Frage der Migration, der Zuwanderung, ist unentwirrbar mit politischen Werten verknüpft, dem Problem der Ungleichheit ebenso wie – bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung – mit identitären Fragen. In diesem Beitrag geht es mir darum, zumindest einige unserer politischen Grundlagen anzusprechen. Ohne das kommen wir beim Migrations-Problem nicht weiter.

(1) Jede Gesellschaft und ihr Staat hat das Recht, über den Eintritt anderer in sie selbst zu entscheiden, d. h. auch: über die Einwanderungspolitik.

Manchen Genossen stößt diese Grundsatzfrage sauer auf. Sie folgt direkt aus der Grundidee: Jede Gesellschaft hat über ihre eigene Entwicklung zu entscheiden, will sie diese nicht völlig unreguliert und unkontrolliert dem Spiel anonymer Mächte überlassen. Was ist wichtiger als der Ein- und Austritt aus der Gesellschaft? Dass es dabei gilt, individuelle Ansprüche und Rechte zu beachten, versteht sich von selbst. Aber das ist der nächste Schritt.

Geht man von einem Leitbild der Politik aus, welche die autonome Planung ihres Weges in irgend einer Form als Grundlage sieht, dann wird dies noch selbstverständlicher. Wenn wir schon die Ein- und Ausfuhr von Waren planen wollen, dann ist die Planung des eigentlichen Produktionsfaktors, der Arbeitskräfte, erst recht eine Basis dafür.

(2) Doch wir stehen auch auf dem Boden eines Universalismus. Was also ist mit der Welt­gesellschaft, der „Weltrevolution“? Bewusste politische Arbeit kann nicht oder nur marginal auf globaler Ebene stattfinden. Das gilt jedenfalls, wenn wir Demokratie, Basis-Orientierung und eine gewisse Alltags-Verbundenheit als wichtige Faktoren einschätzen, ganz egal, wie wir selbstpersönlich agieren. Die Lebenswelt der großen Mehrheit ist nicht global.

Ich gehe somit von der Notwendigkeit selbständiger, autonomer politischer Gemeinschaften aus. Das bedingt politische Grenzen. Die gegenwärtig (noch) sinnvolle Form dessen ist der Nationalstaat. Was in fünf Jahrzehnten sein wird, ist eine andere Frage.

(2.1) Einzelstaaten im Rahmen eines Weltsystems sind nicht nur pragmatische Angelegen­heiten. Sie sind auch die einzige gangbare Möglichkeit, Machtkonzentration und somit „Machtmissbrauch“ zu verhindern. Jede Machtausübung ist Macht“missbrauch“, weil damit – per Definition! – Menschen zu etwas gezwungen werden, was sie selbst nicht anstreben. Großgesellschaft kommt jedoch ohne Organisation, Koordination, somit: Machtausübung, nicht aus. Es geht darum, dies unter möglichst strikter Kontrolle der Bevölkerung zu halten. In diesem Sinn ist der abgegriffene und unter uns wenig beliebte Satz „Small is beautiful“ von grundlegender Bedeutung. Wir sollten auf den anarchistischen Impuls in der sozialistischen Bewegung nicht vergessen!

(2.2) Ein Weltstaat bedeutete das unvermeidbare Abgleiten in einen Totalitarismus, gegen den sich die historischen Totalitarismen der Orientalischen Despotien oder des rezenten und gegenwärtigen Imperialismus menschenfreundlich ausmachen. Überdies wäre dies auch eine Sackgasse der Geschichte. Jede historische Entwicklung beruht auf Versuch und Irrtum. Dies wäre damit blockiert.

(2.3) Für den Großteil der Bevölkerung stellt die National-Gesellschaft und der Nationalstaat die Lebenswelt des Alltags dar. Wenn überhaupt was, hat er noch eine gewisse Übersichtlich­keit und damit die Möglichkeit, ihn zu beeinflussen. Er stellt einen brauchbaren Kompromiss dar zwischen den Notwendigkeiten der Großorganisation und ihrer Kontrolle in Selbstbe­stimmung. Es sind die Eliten und ihre Intellektuellen, welche den Weltstaat anstreben. Der wurde inzwischen denn auch zum eigentlichen Ziel der Oligarchie, wenn auch auf ihre Weise, als „Privatstaat“ der Reichen und Mächtigen.

(3) Die enormen Unterschiede im regionalen Wohlstand / Einkommen entstanden, als vor gut zwei Jahrhunderten zum ersten Mal realiter Weltgesellschaft hergestellt und politisch-militä­risch durchgesetzt wurde, im „klassischen“ Imperialismus. Heute proklamieren auch die Eliten mit viel rhetorischem Aufwand, dass diese riesige Divergenz abgebaut und die Schere geschlossen werden müsse. Es ist kein Zufall, dass diese Eliten in ihrer Rhetorik (Agenda 2030 der UNO) ausgerechnet jene Struktur dafür einsetzen wollen, welche das Problem erst erzeugt hat. Ihr Standpunkt ist reiner Zynismus. Doch die mainstream-Intellektuellen springen darauf an: Es ist eine unglaubliche Naivität, so sie die Bestrebungen der Eliten nicht teilen.

(3.1) Aus dieser Ecke kommt nun der implizite Gedanke, dieser Ausgleich könne durch ein verallgemeinertes Wanderungs-Geschehen erfolgen. Doch alle, die Augen haben, sehen: Diese globale Wanderung dient dazu, die regional-horizontale Ungleichheit in eine weltsystemisch-vertikale Ungleichheit überzuführen. Die Ungleichheit wird durch Wanderung nicht aufgehoben, sondern verstärkt. Ungeplante, ungelenkte und unkontrollierte Massen-Wanderung verschärft die Zentrum-Peripherie-Struktur. Sie ist keine Lösung, sondern ein wesentlicher Teil des Problems. Dazu sei noch auf Punkt 6 verwiesen.

(4) Das Problem der individuellen Wanderung – sofern man die umfangreichen Ströme so nennen kann – ist damit freilich nicht gelöst. Sich gegen Wanderung als politisch-ökonomi­sche Strategie auszusprechen, hilft uns nicht unbedingt weiter, um unsere Haltung zu den Migranten zu definieren. Ich will auch nicht behaupten, dass ich hier die Lösung gefunden und den Stein der Weisen anzubieten habe.

Trotzdem muss ganz am Beginn doch ein wesentlicher, wenn auch sehr abstrakter Punkt genannt werden:

(4.1) Die Abhängigkeiten der armen Länder durch die Politik ihrer Eliten einerseits und der Interventionismus der Metropolen und hier in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich; der USA steht an der Wurzel eines Großteils der Probleme, ja des Problems selbst. Ohne dies zu beheben, wird es schlichtweg unlösbar bleiben.

(5) Es geht also – vor dem Umbau des Weltsystems, den wir nicht so bald lösen werden – um einige vereinzelte Ansätze, die hoffentlich im weiteren Verlauf der Diskussion etwas systema­tischer und umfassender erkenntlich werden. Nochmals: Die folgenden paar Punkte sind als Beispiel gedacht, keineswegs als systematischer Ansatz. Ich möchte nur zwei Beispiele bringen und damit illustrieren, wie man m. E. auch an die Migration heran gehen könmnte:

(5.1) Solange es Armuts-Wanderung gibt, gilt es, zumindest die üblen Folgen dieser Wande­rung zu mildern. Es muss Entschädigungen für brain drain und „activity drain[1] geben. Wie dies zu gestalten ist, wäre sehr sorgfältig zu überlegen. Multilaterale Entwicklungshilfe ist sicher keine Lösung, das heißt den Teufel mit Belzebub austreiben; sie dient nur der Korruption der Eliten.

(5.2) In den Zielländern selbst muss der Anreiz beseitigt werden, Migranten als Lohndrücker einzusetzen. Strikteste Kontrolle und ein Malus-System für Unternehmen mit besonders hoh­en Anteilen von migrantischen Beschäftigten wäre ein möglicher Zugang. Eine Überlegung wäre auch, bei migrantischen Arbeitskräften, welchen die Unternehmen den vollen Lohn ohne jede Trickserei zu gewähren haben, eine Art (geringfügigen) Solidaritäts-Beitrag für die Herkunftsländer bzw. einen dementsprechenden Fonds einzuheben.

 

Handelsblatt, 30. September 2015: Das Blatt des Großkapitals lässt seine Leser sagen, was es selbst weniger gern so offen schreibt. Denn bereits gibt es in der BRD Forderungen, Migranten (gesagt wird: „Flüchtlinge“) vom Mindestlohn auszunehmen – nicht von irgend jemand, sondern von CDU-Ministerpräsidenten und ähnlichen Kalibern: „Wer mit geringer Wochenarbeitszeit und vollem Lohnausgleich, bezahltem Urlaub und hohem Stundenlohn sein Dasein bestreitet, muss Angst haben vor jedem, der mehr für weniger Geld arbeiten will. Somit dürfte die Herrschaft des ’nimmersatten Deutschen‘ bald vorbei sein.“

 

(6) Da hier, absichtlich und unabsichtlich, mit Sicherheit Missverständnisse kommen werden, zum Schluss dieses Beitrags – er wird nicht der letzte sein – noch ein Hinweis: Flucht vor Verfolgung und Asyl für Schutzbedürftige sind von diesen Überlegungen nur am Rand betroffen. Sie sind auf jeden Fall und möglichst großzügig zu gewähren. Quantitativ macht dies gewöhnlich sowieso nur einen kleinen Teil des Migrations-Geschehens aus. Das bedingt, nüchtern besehen, allerdings auch, diesen Kanal von jenen frei zu halten, die ihn für andere Zwecke nützen wollen. Dass Migranten ihn nützen wollen, ist verständlich, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen. Wir müssen uns nur klar sein, und es auch aussprechen: Das zerstört auf die Dauer den dringlich notwendigen Schutzweg. Wieso wir dafür Sympathien haben sollen, ist mir nicht einsichtig.

(7) Zum Abschluss schließlich: Was wir derzeit miterleben, ist der Beginn einer neuen Entwicklung. Ob es uns gefällt oder auch nicht: Das sozio-ökonomische und das politische Weltsystem tritt damit in eine neue Phase ein. Es ist eine Antwort von unten, unorganisiert, die Probleme verschärfend, auf die von oben forcierte Globalisierung. Die Verdammten dieser Erde versuchen, ihr Schicksal individuell in ihre eigenen Hände zu nehmen. Wir wissen, dass dies nicht funktioniert. Aber es ist ein Fanfarenstoß. Die Herrschenden haben dies ganz gut begriffen. Werden wir, wie so oft, dies nicht begreifen?

3.°Oktober 2015

[1] Ich verstehe darunter die Tatsache, dass es vor allem die jüngeren, motivierteren und damit tendenziell produktiveren Menschen sind, welche nachweisbar abwandern.