"Nein" beim Referendum
Anti-EU-Forum Athen 26.-28. Juni 2015
Sinkende Lohnquote
Weder Draghi, noch Troika, noch Euro.
"Nein" beim Referendum
Anti-EU-Forum Athen 26.-28. Juni 2015
Sinkende Lohnquote
Weder Draghi, noch Troika, noch Euro.
Souverän und sozial. statt EURO liberal
 

DER DEUTSCHE KAMPF GEGEN GRIECHENLAND: Die Ideologie wird selbständig

Die Springer-Presse übertrifft sich selbst. Seit mehreren Monaten ist die S. 2 von BILD weitgehend der Hetze gegen Griechenland und seine Regierung reserviert. Da will sich auch das „seriöse“ Flagschiff für Dr. Lieschen Müller nicht lumpen lassen. „Die Welt“ schickt ihren Kultur-Chef auf Entdeckungsreise und wird auch fündig. Herr Berthold Seewald enthüllt am 11. Juni 2015 in einem langen Artikel allerdings eine Haltung, über die wahrscheinlich selbst die meisten Konservativen nicht glücklich sein werden. Das ist nicht mehr eigentlich braun. Das ist tiefschwarz, in einem italienischen Sinn. Das ist vorbürgerliche Reaktion, für die man auf bestimmte Theoretiker des Konservatismus aus dem 18. und 19. Jahrhundert zurück gehen muss, auf die „Petersburger Nächte“ (Les Soirées de Saint-Pétersbourg) des Joseph de Maistre von 1821 etwa.

Die falschen Liberalen und die Pseudo-Linken reagieren wütend, wenn man die EU mit der Heiligen Allianz vergleich. Nun, dieser Herr Seewald von der Welt macht gerade dies in höchst affirmativen Sinn. Er wirft den Griechen vor, dass sie schon einmal „Europas Ordnung“ zerstört hätten. Und was meint er damit?

Der griechische Unabhängigkeitskrieg seit 1821 wurde nach einigem Zögern von Großbritannien und Frankreich unterstützt. Mit der Seeschlacht von Navarino vom Oktober 1827 war die Niederlage der Osmanen besiegelt. Und das „brachte die Ordnung Europas zum Einsturz“, wie der „Welt“-Journalist voll Empathie mit der Wut des Mettrernich und des Friedrich Gentz schreibt.

Auf diese wahrlich erstaunliche Stellungnahme für Metternichs Absolutismus und die Heilige Allianz setzt der Herr noch einen fast versteckten rassistischen Tupfer drauf. Er schreibt da von den Griechen als „einer Mischung aus Slawen, Byzantinern und Albanern„, und das heißt natürlich in seiner Feder nur das Übelste.

Um das zu verstehen, muss man ein wenig ausholen. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es ein kleines akademisches Skandälchen, das jedoch durchaus einen ernsthaften politischen Hintergrund hatte.

Die Philhellenen aus Frankreich, England und dem deutschen Sprachraum hatten die Griechen mit der Brille ihrer Gymnasialbildung betrachtet. Das waren für sie die Nach­kommen des Leonidas, des Themistokles und des Perikles. Sie sahen, ganz wie die Tiermondisten des 20. Jahrhunderts, da ein Volk, das jenen Kampf führte, den sie selbst nicht führen konnten oder wollten; dass jene Freiheit errang, welches sie selbst zu Hause außer Reichweite sahen.

Doch da trat plötzlich ein deutscher Professor auf, ehemaliger Reisebegleiter eines russischen Adeligen durch den Vorderen Orient, und erklärte allen, die es hören wollten:

Die heutigen Griechen haben mit den alten Griechen nichts zu tun. Sie sind eingewan­derte Slawen, welche assimiliert und schließlich eine Variante des Griechischen über­nahmen, welche mit dem klassischen attischen oder ionischen Griechisch von einst wenig gemeinsam hat.

Es war gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts, als dieser bis dato unbekannter Südtiroler Sprachwissenschafter diese These publizierte. Sie machte ihn schlagartig berühmt. Johann Jakob Fallmerayer (1790 – 1861) provozierte ganz bewusst die philhellenische deutsche und westeuropäische Öffentlichkeit seiner Zeit, die eben tatkräftig, finanziell und durch Druck auf ihre jeweiligen Regierungen, die Gründung eines neugriechischen Staats und in der Folge seiner Nation betrieben hatte. Doch er meinte es nicht nur als Provokation, er meinte, was er sagte. Und er wünschte damit den Griechen kein Kom­pliment zu machen. Er lässt keinen Zweifel daran: Für die Slawen hatte er nichts übrig.

Dabei verarbeitete er seine Erfahrungen aus der ausgedehnten Orientreise in eine Kritik an den gängigen Auffassungen. Der eigentliche Witz ist: Jakob Philipp Fallmerayer brachte eine Reihe valider Argumente gegen diese Kontinuitätsthese seit der Antike vor. Doch er tat dies aus der Denkweise des damaligen frühen auf Biologismus begründeten Ethno-Nationalismus. Er lässt die Griechen von den „Slawen“ abstammen. Und das ist in seiner Sicht ganz und gar nicht schmeichelhaft gemeint. Er wird schließlich in eine reine Geschichtsmystik abgleiten. Den Nazis gefiel dies und sie sandten während des Zweiten Weltkriegs ihren Soldaten Heftchen mit Fallmerayers Schriften an die Front nach (Fallmerayer 1943).

Gegen „den Hellenenglauben jener Deutschen …, welche die Gemütsbewegung der Jahre 1821 – 27 geteilt und empfunden haben“, ruft Fallmerayer (1845, 379 und 277) die eigene Erfahrung zum Zeugen: „Hätten wir denn umsonst der Reihe nach alle Provinzen des byzantinischen Reiches durchwandert und besucht?“ Die griechische Nation ist also ein hellenisierendes westeuropäisches Missverständnis, welches von der Aufklärung und ihren Intellektuellen auf den Balkan exportiert wurde. Die Entwicklung dieser Nation war dann – in diesem extrem überspitzten Sinn – ein reiner Zufall aus einer Kombination von westeuropäischen Stimmungen, osmanischem Modernisierungsversagen und politischen Strukturtendenzen im Bereich des größeren Europa. Fallmerayer hat da gar nicht so unrecht. Ähnliches ließe sich allerfdings von den meisten Nationen sagen. Die Rumänen wurden in Paris erfunden, die Slowaken im Mittleren Westen der USA; usw.

Die Akteure in der Geschichtsauffassung Fallmerayers sind „Übernationen“, nämlich tatsächlich Sprachfamilien: die Germanen, die Slawen, usw. Das ist der Intellektuelle des 19. Jahrhunderts, wo im Hintergrund auch eine rassistische Grundannahme steht. Wie aber kommt er eigentlich zu einer solchen Auffassung, die er im übrigen mit vielen Intellektuellen seiner Zeit und manchen Nationalisten von später, ja bis heute, teilte? Die Frage ist umso mehr angebracht, als zu seiner Zeit, so um die 1840 herum, die eigentli­chen politischen Akteure noch die Dynastien und ihre kleine Hilfsgruppe (der „Hof“) war. Etwas später wollten es „die Nationen“ werden und wurden es auch, nämlich die Intellektuellen und die entsprechenden oberen Mittelschichten, die sich in Europa paradigmatisch in den Liberalen wieder fanden, die ein enges Bündnis mit den alten Eliten, dem Adel und den Höfen, eingingen. Niemals aber waren die Sprachfamilien aktiv, weder in einer Elite noch gar als Volk. Fallmerayers und seiner Geistesverwandten Auffassung war somit pure historische Ideologie. Er war konservativer Ideologe mit katholischen ebenso wie mit biologistischen Wurzeln. So konnte er denn auch in der europäischen Nationen-Entwicklung nicht den Staatsaufbau aus der traditionalen Gesellschaft heraus und seine Prozesse erkennen und den darin ausgetragenen Widerspruch zu einer heraufziehenden Moderne. Ein bisschen grotesk wirkt es, wenn er ständig vom großen Gegensatz von Rom und Byzanz spricht. Allerdings findet man dies auch heute noch bei konservativen Politikern und Ideologen. Wenn wir allerdings heute solche Entwicklungs- und Kultur-Gegensätze schon an konfessionellen Grenzen festmachten, würden wir eher von Luther gegen Rom und Byzanz sprechen.

Fallmerayer ist heute daher in Westeuropa weitgehend vergessen. Aber viele Griechen tragen ihm seine Behauptungen von ihrer slawischen Herkunft bis heute nach. „Nicht so wie Fallmerayer!“ dürfe er die griechische Geschichte behandeln, forderte die Wirtin eines griechischen Restaurants in München einen Osteuropa-Experten auf, als dieser erzählte, dass er sich auch mit Griechenland befasse.

Was ist so schlimm an Fallmerayer These? Vor allem aber: Was ist dran aus einer analyti­schen Sicht? Wo hat er recht? Oder liegt er völlig falsch?

Er setzt Nation mit Abstammung, ja mit „Rasse“ gleich. Dass eine politische Körperschaft eine lange Abstammungstradition hat, ist üblich. Dass sie dadurch definiert wird, ist schlichtweg Rassismus. Wie gesagt: Es war kein Zufall, dass die Nazis Fallmerayer schätzten.

Griechenlands Existenz als Nationalstaat begann 1828. Aber wann entstand die griechi­sche Nation? Woodhouse (1998) beginnt die Erzählung in seiner “Short History of Greece” – so hieß die erste Auflage des Buches 1960 – mit der Gründung von Konstantinopel. Bei Vakalopoulos (1986) kommt dieses Datum auch; aber er beginnt tatsächlich noch früher und wiederholt im Grund die Kontinuitäts-These. Alle müssen also eine Kontinuität Griechenlands und der Griechen durch die ganze byzantinische Ära annehmen. Die Vorstellung ist auch im deutschen Sprachraum unter dem Einfluss altsprachlicher („humanistischer“) Bildung, d,. h. konservativer Ideologie, weit verbreitet. Das Problem vieler Griechen bis heute ist, dass sie auf diese Mythologie nur zu gerne einsteigen.

Nun kommt also ein extrem reaktionärer deutscher Journalist und kramt diese ganze Geschichte wieder hervor, um ein aktuelles politisches Kampf-Instrument daraus zu machen. Das dürfte zweierlei besagen: Die Herrschenden fürchten sich wirklich vor dem griechischen Neuansatz. Das ist nun ziemlich wichtig. Daher versuchen sie, zweitens, die Angelegenheit auf eine höhere Ebene, auf die kulturelle zu heben. Es geht nicht mehr nur um die Interessen, z. B. der deutschen Exportwirtschaft oder der griechischen Bevölkerung an einem Ende der Austerität und an Wachstum. Es geht um mehr. Es geht um „Europas Ordnung“, es geht offenbar um die Kultur des Abendlands.

Wenn solche Töne heute angeschlagen werden, ist das ein ziemlich sicheres Zeichen einer gewissen Verzweiflung. Insofern könnte uns diese retrograde Publizistik fast optimistisch stimmen. Leider sind die Kräfteverhältnisse so ungleich, dass dies wohl ein Überoptimismus wäre. Was bleibt, ist reiner, schmutziger Kampf mit allen Mitteln.

Literatur

Fallmerayer, Johann Jakob (1845), Fragmente aus dem Orient. Stuttgart/Tübingen: Cotta

Fallmerayer, Johann Jakob (1857), Das albanesische Element in Griechenland. München: Verlag der königlichen Akademie.

Fallmerayer, Johann Jakob (1943), Hellas und Byzanz. Weimar: Böhlau.

Vakalopoulos, Apostolos (1985), Griechische Geschichte von 1204 bis heute. Köln: Romiosini.

Woodhouse, C. M. (1991), Modern Greece. A Short History. London: Faber & Faber.

 

Diskussion „Griechenland nach Referendum“

Nach dem Referendum – Neubeginn jenseits der Eurozone?

“Ein Ausscheiden aus der Eurozone ist nicht vorgesehen.” Diese Worte hörte man in den letzten Wochen nicht nur von den Gläubigervertretern im Sinne ihrer TINA (”There is no alternative”)-Ideologie. Auch die griechische Seite
betonte, dass man das Land nicht einfach aus dem Euro drängen könne. Jenseits des Euro scheint eine Zukunft nicht denkbar, zu groß die Risiken, zu unkalkulierbar die Ereignisse. Wie ein revolutionäres Abenteuer wirkt der
mögliche Bruch mit der Währungszone.

Die Gläubigerseite hat ihren Standpunkt klar gemacht: friss-oder-stirb. Die griechische Bevölkerung ist trotz aller Leiden und Angriffe geteilt. Der Ausgang des Referendums ist offen.

Ein NEIN ist eine große Chance, die Tür zu einer offenen Zukunft für Griechenland und Europa aufzustoßen. Dahinter aber warten enorme Herausforderung für Syriza, die griechische Linke und alle fortschrittlichen
Anti-Euro-Kräfte in Europa.

Das Personenkomitee EuroExit gegen Sozialabbau lädt zu einer Diskussion über die Situation in Griechenland und ihren Einfluss auf die Eurozone mit der österreichischen Delegation zum Athener Anti-EU-Forum
(www.antieu-forum.org).

Montag 6. Juli 19.00 Uhr, Gußhausstraße 14/3, 1040 Wien

Sie lügen sobald sie den Mund aufmachen

Frans Timmermans, niederländischer Sozialdemokrat und Vizepräsident der EU-Kommission war gerade rechtzeitig in Wien, vor zwei Tagen. Der ORF lud ihn ins Mittags-Journal, um ihm die richtige Plattform zu verschaffen. „Wir müssen versuchen, für die Bevölkerung auf­zutreten. … Wenn ein Partner einfach weggeht und eine Volksabstimmung macht, da kann man nicht weiter. … Man kann nicht einfach nein sagen. … Die griechische Regierung darf nicht nur nein sagen… Bisher haben wir nur wenig gesehen. … Wir machen keinen Wahlkampf“ – nur hat eben Juncker gesagt, die Griechen müssten JA stimmen; wie er ja auch schon vor dem Jänner gesagt hat, sie dürften nicht SYRIZA wählen; etc.

Der ORF und praktisch alle anderen Medien schlucken dies nicht nur. Sie legen stets noch ein Schäuferl drauf. Sie lügen und verbreiten Schreckensmeldungen, dass man meinen könnte, es gehe um einen Wahlkampf in Österreich.

Die Journalisten lügen genauso, wie die EU-Kommissare und die nationalen Politiker. Die griechische Regierung hat keine Vorschläge gemacht? Sie willdas Besteuerungssystem nicht ändern? Es habe keine Verschlechterung für die Rentner / Pensionisten gegeben?

Sehen wir uns in wenigen Details an, was die taz vor einer Woche aus dem Wallstreet Journal übernahm und auszugsweise veröffentlichte (eine ausführlichere Fassung findet sich auf www.taz.de/SparGR).

 

Schwarz ist der griechische Vorschlag. Die Troika, die jetzt eben anders heißt, hat durchge­strichen, und ihre Befehle daneben geschrieben. Die Körperschaftssteuer darf also nicht so erhöht werden, wie es die griechische Regierung möchte. Eine einmalige Sondersteuer auf Profite über 500.000 Euro wird ebenfalls ersatzlos abgelehnt. Das sei „wachstumsschädlich“ – ein blutiger Hohn seitens einer Institution, welche die griechische Wirtschaft seit vielen Jahren nach unten drückt. Die Mehrwertsteuer soll nicht auf Grundnahrungsmittel ermäßigt werden, auf Brot z. B.; shttps://www.euroexit.org/wp-admin/media-upload.php?post_id=356&type=image&TB_iframe=1ondern auf „unverarbeitete Lebensmittel“; das wäre z. B. Kaviar.

Der Primärüberschuss zwecks Schuldenrückzahlung soll Jahr für Jahr steigen und 2018 und Folgejahre 5 % (fünf Prozent) des BIP erreichen – in einer Wirtschaft, in der ohnehin nicht mehr investiert werden kann.

Das Pensionsalter soll 67 Jahre betragen: in einer Wirtschaft, wo die Arbeitslosigkeit gegen 30 % zu geht, und wo diese Verlängerung ausschließlich weitere Arbeitslose schaffen wird. Und die „Unterstützung der bedürftigsten Rentner“ dürfe erst ab diesem Alter einsetzen. Man hofft offenbar, dass die Leute bis dorthin ohnehin krepiert sind.

Überhaupt: „Es wurden keine Rentenkürzungen mehr verlangt“ (Juncker). Nur werden die Beiträge zur Krankenversicherung um ein Drittel erhöht, und insgesamt soll bei den Pensionen ein weiteres Prozent des BIP heraus gerissen werden. usw.

Die griechische Regierung lag schon auf den Knien. Aber sie sollte auf dem Bauch liegen und die Stiefel lecken.

Und übersehen wir nicht: Diese verbrecherische Organisation, die sich EU nennt, hat ihre Verbündeten nicht nur in Griechenland, sondern auch in der SYRIZA. Spyros Sagias, meldet die Süddeutsche Zeitung unter Berufung auf griechische Zeitungen, Generalsekretär der Regierung, sei insgesamt gegen das Referendum und soll bereits den sofortigen Rücktritt von Varoufakis als Zeichen der Unterwerfung verlangt haben. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schädlichste ist: Die Regierung Tsipras selbst nährt noch immer die Illusion: Wir werden nach einem NEIN ein besseres Abkommen heraus handeln. Wir bleiben in der Eurozone und in der EU.

SYRIZA kann mit dieser Haltung nur scheitern. Die EU im Allgemeinen und die Eurozone im Besonderen hat es auf die Kraftprobe ankommen lassen. Unter den gegenwärtigen Umständen wird sie sie gewinnen, wenn diegriechische Politik nicht endlich konsequent ist.

Zuerst allerdings geht es um das NEIN. Und da braucht diese Regierung trotz aller Kritik die volle Unterstützung, wie schwach diese immer sein mag, der europäischen Linken.

Albert F. Reiterer – 3. Juli 2015.

Laut für ein griechisches NEIN

Gemeinsamer Kampf der europäischen Völker gegen die Austerität
Der Sieg eines NEINS in dem Referendum wird ein Sieg für alle Völker Europas sein und ein Zeichen der Hoffnung, des Widerstands und der Würde. Ein NEIN wird eine Stimme für eine Konfrontation mit der EU sein und nicht für erneute Verhandlungen mit ihr. Die Delegationen und Teilnehmer des Athener Anti-EU-Forums rufen zu einem deutlichen NEIN des Volkes zu den alten und neuen Memoranden, zu Arbeitslosigkeit, Austerität, der Verletzung sozialer und politischer Rechte und der Abschaffung der nationalen Souveränität auf: NEIN zu Schulden, dem EURO und der EU! Wir rufen für eine gemeinsam Front des Kampfes aller demokratischen und Volkskräfte auf, für einen Sieg der Stimmen für ein NEIN.

Der Zusammenbruch der Verhandlungen Griechenlands mit der EU zeigen in aller Klarheit die wahre Natur der EU und ihrer assoziierten Institutionen (EZB und IWF): Sie repräsentieren die Interessen der Kapitalisten und Banker. Sie zwingen neoliberale Maßnahmen auf. Sie untergraben die Demokratie. Sie unterdrücken die nationale Souveränität und die Volkssouveränität.

Die offene und demütigende Erpressung der griechischen Regierung, trotz der schmerzhaften Zugeständnisse, welche sie bereits gemacht hat und ihrer Akzeptanz einer milderen Version des Austeritätsprogramms der Troika, ist eine Beleidigung nicht nur des griechischen Volkes sondern aller Völker und der Arbeiterklasse in Europa.

Jetzt ist es mehr als offensichtlich, dass es kein Ende der Austerität und der sozialen Zerstörung innerhalb der Eurozone geben kann, innerhalb des Eisenkäfigs der neoliberalen EU-Verträge. Das Scheitern der Verhandlungen zeigt den unrealistischen Charakter der Position der griechischen Regierung und anderer Regierungen in der Eurozone für einen „ehrlichen Kompromiss“ mit der EU, denn die Eurozone und die EU kann nicht „reformiert“ werden. Die Eurozone ist das Problem – der Austritt die Lösung. Das ist die einzige realistische Lösung zu Gunsten der Volksklassen!

Jetzt ist die Zeit für die Volkskräfte, die demokratischen und fortschrittlichen Kräfte aus ganz Europa und der ganzen Welt ihre Solidarität mit dem griechischen Volk und seinem Kampf gegen die EU und den IWF auszudrücken. Das griechische Volk ist nicht allein. Die Blicke der Völker und ihrer Bewegungen sind auf Griechenland gerichtet.

Schlusserklärung des Athener Anti-EU-Forum 29.6.2015

Wie breit wird die Front für das griechische Nein?

von Willi Langthaler

 

Bericht vom Anti-EU-Forum am entscheidenden Wochenende

 

Vom 26.-28. Juni 2015 fand in Athen ein von europäischen demokratischen Anti-Euro-Kräften organisierte Treffen statt, das für den Austritt aus dem Euro und aus der EU aufrief.

 

Als wir am Freitag, den 28.6., in der Schule der Schönen Künste, untergebracht in einer schon ziemlich heruntergekommenen ehemaligen Fabrik, eintrafen, herrschte gedämpfte Stimmung. Man musste davon ausgehen, dass die Syriza-Regierung das Diktat der Troika nach schwerem Ringen doch angenommen hatte. Allein auf die Kräfte der Linken außerhalb Syrizas gestützt und vielleicht mit der Unterstützung einiger vom linken Flügel der Regierungspartei wäre es unrealistisch gewesen, den neuen Angriff der Gläubiger zu verhindern.

 

Auf der anderen Seite fühlen sich einige in der griechischen Linken bestätigt, dass von Syriza nichts als heiße Luft und letztlich Verrat zu erwarten wäre. Die ideologische Ausstrahlung der Kommunistischen Partei KKE, die hinter sozialistischen Phrasen passiv bleibt, ist da zu spüren.

 

Doch dann in der Nacht der Paukenschlag: Die Verhandlung mit der EU-Oligarchie gescheitern, weil diese auf die totale Kapitulation und Demütigung beharrt hatte. Tsipras ruft zu einem Referendum auf. Zur Abstimmung steht das Austeritätsdiktat und damit letztlich der Bruch mit dem Euro-Regime.

 

Am Samstag im Verlauf des Tages änderte sich die Stimmung und drehte ins Kämpferische. Über 500 vorwiegend junge Menschen versammelten sich in Unterstützung des NEIN und hörten den Aufruf eines Vertreters der Syriza-Linken für eine Einheitsfront an alle linke Gruppen wie Mars (die Hauptorganisatoren des Forums), Antarsya (ein antikapitalistisches Bündnis, das außerhalb Syrizas verblieben war und gemeinsam mit Mars erfolglos zu den letzten Wahlen angetreten war) und selbst die KKE.

 

Doch der Widerspruch in Syriza und der Mehrheit des griechischen Volkes selbst sorgt weiterhin für Schwierigkeiten und politische Differenzen. Syriza war mit einem unmöglichen Programm angetreten und hatte just dafür das Mandat des Volkes bekommen: Austerität beenden, im Euro verbleiben. Die quälenden Verhandlungen seit Februar und die Härte der Gläubiger erlauben keine auch nur so geringfügige Dämpfung der Absenkung des Lebensniveaus – das liegt in der monetaristischen Logik der jahrzehntelangen deutschen Währungspolitik. Syriza hätte viel akzeptiert, aber eben nicht die totale Unterwerfung, auch weil weite Teile des Volkes das nicht akzeptieren würden.

 

Doch ein Nein beim Referendum heißt mit großer Sicherheit auch den Austritt aus der Euro-Zone. Die noch laufenden Geplänkel zwischen Athen und dem Zentrum drehen sich eher um die politische Schuldzuweisung. Die Extra-Syriza-Linke warnt indes vor einem möglichen Versuch der Regierung das Referendum nur als Verhandlungsmasse zu benutzen, um doch noch zu einem Kompromiss zu kommen.

 

Wir halten das für unwahrscheinlich, weil die Oligarchie dann nachgeben müsste. Es schaut nun vielmehr danach aus, dass sie alles dazu tun wird, ein JA beim Referendum zu erreichen und damit Tsipras zu stürzen. Bei einem NEIN ist der Austritt quasi fix. Aber auch dann sind Verhandlungen notwendig zu den Bedingungen des Austritts, nämlich insbesondere die Stabilisierung der neuen Währung und damit verbunden ein Schuldennachlass. Denn die Erklärung der Nichtzahlung ist eine ernst Waffe.

 

Die Hauptgefahr besteht nun darin, dass der halbe Austritt durch die Sperrung der Banken und die Kapitalverkehrskontrollen, das Trommelfeuer der Oligarchie und ihrer Medien einschließlich der griechischen, die Angst- und Terrorkampagne dazu führen, dass die Mittelklassen den Mut verlieren. Gegen das Diktat der Troika hatten sie sich hinter Tsipras gestellt. Da nun alles auf einen Bruch und eine massive Abwertung hinausläuft, werden wohl einige, die tatsächlich oder vermeintlich noch etwas zu verlieren haben, kalte Füße bekommen.

 

Sollte sich eine seriöse Kompromissmöglichkeit anbieten, kann Tsipras gar nicht anders, also diese anzunehmen, denn sonst würde er mit Sicherheit die Mehrheit verlieren. Bleibt die Troika hart, dann gibt es die wirkliche Chance auch bei einem Bruch die Mehrheit zu halten. Dazu bedarf es allerdings eines Plan B, um das Land nach der Abstimmung so schnell wie möglich aus der Schockstarre zu holen. Von dem ist allerdings noch nichts zu sehen und zu hören. Dabei wird der Syriza-Linken, deren Programm so zur Realität werden kann, die entscheidende Rolle zukommen.

 

Von den internationalen Delegationen aus Deutschland (einschließlich des MdB Inge Höger von der Linken), Frankreich (Partei der Emanzipation des Volkes PEP), Italien (Linke Koordination gegen den Euro einschließlich einiger Ökonomen und Gewerkschafter), Spanien (Podemos), Österreich (Euroexit), Ukraine (Borotba) sowie Russland gab es massive Unterstützung für das Nein und Unterstützungsaktionen wurden angekündigt.

 

Am Sonntag endete das Forum mit einer Demonstration für das NEIN vor der Vertretung der EU hin zum griechischen Parlament. Zu den knapp tausend TeilnehmerInnen zählten auch Teile der Syriza-Jugend. Hoffentlich ein Fanal für eine breite Einheitsfront.

All out for a Greek NO

Common European Popular Struggle against austerity

Call adopted by the Athens Anti-EU forum June 28, 2015

 

The victory of the NO vote in the referendum will be a victory for all people of Europe and a message of hope, resistance and dignity. The NO vote will be a vote for confrontation with the EU and not for a renegotiation with it. The delegations and the participants of the Athens anti-EU Forum call for a massive popular NO to old and new memoranda, to unemployment, to austerity, to the infringement of social and political rights, to the abolition of national sovereignty, a NO to debt, to euro and the EU! They call for a common front of struggle of all the popular and democratic forces for a victory of the NO vote.

 

The breakdown of the negotiations of Greece and the EU prove beyond doubt the true nature of the EU and its companion institutions (the ECB and the IMF): They represent the interests of capitalists and bankers. They impose neoliberal policies. They undermine democracy. They suppress popular and national sovereignty.

 

The open and humiliating blackmail of the Greek government, despite the painful concessions the latter had already made and its acceptance of a milder version of the Troika austerity program, is an insult not only to the Greek people but to all peoples and working classes in Europe.

 

Now, it is more than obvious there can be no end to austerity and social devastation inside the Eurozone, inside the iron cage of the neoliberal EU treaties. The negotiations’ breakdown demonstrates the unrealistic character of the position of the Greek government and other governments in the Eurozone for an ‘honest compromise’ with the EU, because the Eurozone and the EU cannot be ‘reformed’. Eurozone is the problem – Exit is the solution! This is the only realistic solution in favor of the popular classes!

 

Now is the time, for the popular, democratic and progressive forces all over Europe, all over the world, to express their solidarity to the Greek people and its struggle against the EU and the IMF. The Greek people are not alone. All the eyes of peoples and movements are turned towards Greece.

Declaration of Athens against the EU

The international anti-EU Forum moves forward with the meeting in Athens on 26-28th of June. Our goal is the proliferation of popular and forces of the Left that fight for social transformation , which are coordinated through the anti-EU forum, as well as the proliferation of the struggles against EU for the withdrawal of the European states from the Eurozone and the imperialist EU.

1. Seven years since the outburst of the financial crisis, we see the European Union becoming even more reactionary, anti-popular and neoliberal. Austerity is the pan-european recipe, and no-one is allowed to question it. The most anti-popular policies are today inscribed in the EU flag and the euro-constitution. This is not just a coincidental direction. Neoliberalism, austerity, the cancellation of social rights, the degradation of the world of work are deeply inscribed in the nature of EU. European Union was at the center of the global crisis and it proved once again that it cannot change, be reformed or be improved. On the contrary, the member states of EU are imposing increasingly harsher policies for the social majority, and increasingly favorable policies for the banks, the large corporations and the oligarchy. Placing our “hope” on the oncoming recovery and the exit from the financial crisis would conceal the fact that all the policies of ECB and eurozone (Draghi’s package, Juncker’s package, the Fiscal Compact) are just postponing the crisis until a more severe episode in the upcoming years.

2. The official statistics regarding poverty, unemployment and social exclusion are all on the rise. Social inequalities are increasing. Job insecurity is worsening. Wages become stagnant and in reality they are devalued. democratic rights are being eliminated. National and popular sovereignty is being reduced. The gap between the EU leadership and the peoples, who are being socially and financially destroyed, is widening. In today’s European Union there is nothing left to remind the legacy of the European enlightenment, the welfare state, the social protection, the liberal democracy, the friendship and cooperation among the peoples. Working classes and European nations have nothing to lose, instead they have already lost a lot and they will lose even more if they keep on following the catastrophic one-way path of EU.
3. The permanent policies of the European Union are those of a tough and rigid neoliberalism: privatizations, austerity, financial deregulation, attack against workforce, support on the capital, corporate subsidies, shrinkage of the public sector and reduced provision of social services. These policies are at the core of EU and they cannot be reformed. They are imposed either with or without social consensus: through financial blackmail and the constant threat of default. There is not anymore such thing as the democratic pretext of voluntary consent of the national parliaments. Under the pretext of sustainability of banks and continuing to be part of the eurozone, the leadership of EU is blackmailing the peoples of Europe in order to keep them at the slaughterhouse of European Integration.

4. Along with social inequalities, inequality between nations continues to increase. Powerful and weak states, states that blackmail others and states that are being blackmailed, define the image of modern-day Europe. Popular sovereignty is eradicated and national sovereignty is undermined by the supranational capital. The goal of maintaining competition leads to an extermination procedure for the weaker nations and convergence gives its place to divergence. E.U. has all the traits of an imperialistic union: contrasts and competition, social and national repression, the survival of the strongest being enforced using modern financial means, the EU’s stringent regulations, the Brussels bureaucracy, as well as the European Central Bank, which is independent of either governments or parliaments.

5. The euro is the most essential tool for the subordination of the states and peoples of Europe. It is by nature a neoliberal currency, as it is based on the hard-core neoliberal provisions of the Stability and Growth Pact. As the recent public debt crisis has shown, especially for the peripheral states of the Union, membership of the Eurozone equals the complete cession of all financial policy tools to the bureaucracy in Brussels and to the dictatorship of the banks. The euro is thus more than a currency. It is the institutional entrenchment of hard-core neoliberalism in the member-states of the Eurozone. Staying in the Eurozone prolongs social dead-ends, increases the national inequalities and equals the destruction of the working class.

6. The absence of an alternative forms the central dogma of the European Union. Social-democratic and labour parties early on accepted the neoliberal hegemony, introducing policies essentially identical to those of conservative, right-wing and Christian-democratic parties. The participation of the communist and radical Left in such governments proved disastrous for the popular classes, while at the same time blurring the historic divide between the Left and the Right. The EU framework never allowed for any policy shifts benefiting the popular classes. At the same time, the support for both the EU and the euro from the part of the vast majority of radical and communist left parties cleared the way for the rise of the far-right and of populist and fascist-leaning parties, who have tried to masquerade themselves as supposed champions of national independence and dignity against the social and economic destruction brought on by the EU. Those parties are also those that appear most Eurosceptic and critical towards European integration. This can explain their dramatic rise in the past few years.

7. The non-negotiable European policy of austerity, financial constriction, primacy of the market and of capitalist interests has been clearly demonstrated in the case of the new Greek government. Despite its statements for moving Greece (and the whole of Europe) to the left, and despite being elected on an anti-austerity and anti-Memoranda platform of ending austerity and putting an end to the “Memoranda” policies, the SYRIZA government tried to compromise with the EU. It accepted the core principles of the Troika austerity program with privatizations, social security cuts, wage cuts, increases of indirect taxes that hit the poorest classes. It accepted fiscal budget surpluses that aggravate economic depression and deepen austerity. The Greek government entangled in its myth about progressive solutions within the EU failed to challenge its framework, did not fight for the exit and disengagement of Greece from the EU and condemned Greece to follow neoliberal policies. However, even this ameliorated version of the Troika austerity program was unacceptable for the EU. The simmering popular discontent against these capitulations obliged the SYRIZA government to break the negotiations and call for a referendum against the Troika proposals. The referendum presents a very important opportunity for a massive vote of NO, not only to the creditors proposals but also to the Euro and EU and send a message of hope and struggle all over Europe.

8. We need a program in behalf of the rights of nations, people and the working classes:

I. Exit from the eurozone, enforcement of barriers on capital flows, price control policy.

II. Radical redistribution of income and wealth, in favor of the working classes, peasants, and middle classes and against big capital.

III. Economical social planning by the state, productive reconstruction, nationalization of banks and of strategic enterprises. Improvement of public health, social security, public service, natural environment

IV. Recuperation of popular and social sovereignty. Abolition of every regulation, institution and law that removes from the people the possibility to decide.

V. Denial and cancellation of the public debt

VI. No to the TTIP agreement.

VII. No to the imperialist policies of the EU and NATO against the peoples. Solidarity with the struggling people in Donbass, Ukrain. Solidarity to the anti-imperialist struggles for national liberation in the Middle East.

VIII. Exit from suprarnational organizations that preserve the neoliberal status quo such as NATO, IMF, World Bank, the WTO and of course the European Union and the Eurozone. Soli

9. The International anti-EU Forum that took place in Athens is committed to the further development of coordination initiatives between movements, fronts, political parties and organizations that fight against the European Union. Such an initiative for the next few months could be working towards a a pan-European campaign called „EU dissolves Europe- dissolve EU“ that will be completed at the next meeting of the International anti-EU Forum that will be organized the winter of 2015-2016.

Die Troika fordert die Unterwerfung

von Stefan Hinsch, 17.6.2015

Nach dem Scheitern der „5 vor 12“ Verhandlungen, steigt am Donnerstag den 18.6. eine neue Griechenland Verhandlungsrunde der Eurogruppen Finanzminister. Diese wird ebenfalls scheitern, am Wochenende gibt es dann einen Not-Gipfel der Staatsoberhäupter. Eine „5 nach 12“ Einigung erscheint immer noch möglich, wird aber zunehmend unwahrscheinlich. Die Verhandlungen, ebenso wie die mediale Begleitmusik, werden zunehmend absurder.

Die Regierungen der Euro-Zone, ebenso wie die großen Medien, werden nicht müde die Geschichte der vertragsbrüchigen Griechen zu wiederholen, die ihre Aufgaben immer noch nicht gemacht haben, Vereinbarungen nicht einhalten, Reformen zurückweisen… Tatsächlich wurde das Land einer neoliberalen Rosskur der Sonderklasse unterzogen: Zwischen 2009 und 2014 verbesserte sich das Primärdefizit des Budgets (vor Zinszahlungen) um 12 Prozentpunkte. Das strukturelle Defizit verbesserte sich sogar um 20 Prozentpunkte – steckte die griechische Wirtschaft nicht in einer gigantischen Katastrophe, würde ein unglaublicher Budgetüberschuss (von etwa 10 Prozent des BIP) ausgewiesen. Die Leistungsbilanz verbesserte sich um 12 Prozentpunkte. Die Probleme der neoliberalen Rosskur sind mittlerweile auch bekannt: Seit 2009 ist das BIP um 27 Prozent gefallen, die inländische Nachfrage um 35 Prozent und die Arbeitslosigkeit hat 25 Prozent erreicht.

Die liberale Medizin hat den Patienten praktisch umgebracht, durch Not und Elend wurde aber tatsächlich eine Anpassung der griechischen Wirtschaft erreicht: Weder zur Finanzierung des staatlichen Budgets, noch zur Finanzierung von Importen bräuchte es im Augenblick „Hilfspakete“ und Kredite aus dem Ausland. Das Geld der Eurozone braucht man nur für den Schuldendienst.

Und hier liegt der Kern des Problems und der Absurdität begraben: Griechenland kann diese Schulden nicht bezahlen, sie müssen abgeschrieben werden, wenigstens zur Hälfte. Aber niemand gibt das zu und tatsächlich hat man sich auf einen Rahmen der Absurdität geeinigt: 2015 soll Griechenland einen Primärüberschuss von 1,5 Prozent des BIP aufweisen, 2016 einen von 2,5 Prozent – beides wird nicht möglich sein. Jetzt streitet man über den Weg zu diesem nicht erreichbaren Ziel. Die EU fordert ideologische Strukturreformen (Privatisierungen, Schwächung von Gewerkschaften…), vor allem aber eine weitere Pensionskürzung und ein Anheben der Mehrwertsteuer. Für die griechische Regierung ist das zu Recht nicht akzeptabel: Die Pensionen wurden in 6 Schritten bereits um mehr als 40 Prozent gekürzt (im Schnitt), die Pensionisten bereits völlig verarmt. Und ein weiteres Anheben der Mehrwertsteuer würde auch die Konjunktur noch einmal massiv schädigen: In der Folge liegen den Vorschlägen der Troika viel zu optimistische Wachstumsannahmen zu Grunde. Das ist wahrscheinlich bewusst: Ein Primärüberschuss in der von der EU geforderten Höhe ist im Augenblick nicht machbar – aber scheinbar ist das Ziel gar nicht ein realistisches Programm, sondern eine Demütigung Griechenlands und der Syriza-Regierung.

Die griechische Regierung hat dem „Spar-Ziel“ tatsächlich zugestimmt, will es aber mit echten Strukturreformen erreichen, durch eine effizientere Steuerverwaltung. Die EU hält dem entgegen, dass sich das nicht ausgehen kann, kurzfristig ist auch eine effizientere Steuerverwaltung nicht in der Lage die geforderten Summen aufzustellen. Da hat sie wohl Recht – allerdings sind die Budgetziele im Augenblick gar nicht zu erreichen.

Schulden von 175 Prozent des BIP sind für ein Land wie Griechenland nicht tragbar. Sie können nicht bezahlt werden, müssen abgeschrieben werden. Das war immer schon so: Wer nicht bezahlen kann, wird nicht bezahlen. Alle europäischen Nebelgranaten (etwa niedrigere Zinsen und längere Laufzeiten für die Kredite) helfen nicht wirklich – denn immer hängt das Damoklesschwert eines Zusammenbruchs der politischen Vereinbarungen, einer folgenden Staatspleite und ein mögliches Ausscheiden aus der Eurozone über Griechenland. Unter solchen Voraussetzungen ist keine Stabilisierung möglich, niemand investiert, niemand hält größere Einlagen in einer Bank, niemand vergibt Kredite. Der griechische Haushalt ist ein Zombie, künstlich vor einer Pleite gerettet, indem sich die Gläubiger ihre Zinsen selber bezahlen.

Die Eurozone scheint zu einer rationalen Politik nicht in der Lage. Das politische Gewicht des Neoliberalismus ist zu groß, die befürchtete politische Ansteckung einer vernünftigen Lösung lässt die Troika erzittern. Griechenland muss sich unterwerfen.

Griechenland hätte dem Euro nicht beitreten dürfen. Griechenland hätte 2011 austreten müssen, ordentlich abwerten und ordentlich Pleite gehen – eine isländische Lösung. Wenn sie zurecht nicht bereit ist sich von der Troika demütigen zu lassen und ein Hungerdiktat ablehnt, dann hätte Griechenland und die neue Syriza-Regierung das Primärüberschuss-Ziel bis 2016 nicht akzeptieren sollen – und sollte sich am Wochenende nicht auf einen deutschen Kompromiss einlassen. Denn ohne Schuldenstreichung kann dieser nicht endgültig sein. Und wird deswegen die Unsicherheit nicht aus der griechischen Wirtschaft nehmen

Die Krise der EU

von Annette Groth, Mitglied des deutschen Bundestages (Die Linke)

 

Die Europäische Union befindet sich in einer tiefen ökonomischen und demokratischen Legitimationskrise. Mit der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon wurde ein autoritäres, neoliberales Gesellschaftsbild endgültig vertraglich festgelegt, das vor allem auf die Interessen der transnational arbeitenden internationalen Großkonzerne angelegt ist. Starke Ökonomien in der EU profitieren von dieser Grundlage, während die schwächeren immer weiter ins Abseits gedrängt werden.

Die heutige Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine Folge dieser falschen ökonomischen Grundlage der Europäischen Union. Durch die ständig zunehmende aggressive Exportpolitik vor allem auch Deutschlands, wurden die finanziellen und ökonomischen Grundlagen der schwächeren Staaten, allen voran Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, immer weiter zerstört. Die „griechische Krise“ ist vor allem auch eine Krise des falschen vertraglichen und ökonomischen Grundkonzeptes der Europäischen Union.

Eine wesentliche Ursache für die Krise in den südeuropäischen Ländern ist die drastische Lohnsenkungspolitik der Bundesregierung. Stichwort hierfür ist die Agenda 2010[i], die durch die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder begonnen und seitdem konsequent umgesetzt wurde. Diese fatale Lohnsenkungspolitik hat die „Beggar-thy-neighbor-Politik“ massiv vorangetrieben. Diese protektionistische Politik soll zu einer Erhöhung der Leistungsbilanzüberschüsse führen, mit der heimische ökonomische Defizite auf andere Volkswirtschaften abgewälzt werden. Wirtschaftsnobelpreisträger Stiglitz hat darauf hingewiesen, dass eine solche Politik letztendlich zu einer Importverminderung und damit mittel- bis langfristig auch zu einem Rückgang der Exporte bei gleichzeitiger nachhaltiger Einschränkung der Nachfrage im eigenen Land führt.[ii]

Resultat einer solchen, an Wettbewerbsvorteilen der starken Ökonomien ausgerichteten, neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sind zwar auf der einen Seite riesige Außenhandelsüberschüsse der starken Exportstaaten – so haben sich die Außenhandelsüberschüsse Deutschlands von 2000 bis 2015 auf zwei Billionen Euro summiert[iii] – gleichzeitig sind jedoch die Außenhandelsdefizite bei den schwächeren Ökonomien exorbitant angestiegen. Deshalb ist Grundvoraussetzung für die Lösung der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise u.a. eine neue Wirtschaftspolitik in Deutschland mit dem Ziel, die Kaufkraft in Deutschland zu stärken und zu einer ausgeglichenen Handelsbilanz zu kommen.

 

Demokratie wird zerstört

Spätestens mit dem Ausbruch der Krise sind die demokratischen Defizite der EU eklatant zutage getreten. Griechenland wurden Sparauflagen diktiert, ein mit den EU-Verträgen nicht zu vereinbarendes Gremium, die Troika, wurde implementiert und demokratische Entscheidungen des griechischen Parlaments aufgehoben. Seit dieser Zeit werden griechische Regierungen gezwungen, die Austeritätspolitik der EU-Staaten umzusetzen und durch weitreichende Privatisierungen, Deregulierungen und Haushaltskürzungen Entwicklungsmöglichkeiten für die griechische Wirtschaft einzuschränken. Folge dieser falschen Politik der Troika sind Massenarbeitslosigkeit, Armut, zunehmende Obdachlosigkeit, ein zerstörtes Gesundheitswesen und die systematische Abwicklung des Sozialstaates in Griechenland. Gegen diese Politik hat sich Widerstand formiert, der mit dem Wahlerfolg von Syriza auch im Parlament seinen Ausdruck fand.

Ziel der neuen Regierung ist es, Griechenland von den katastrophalen gesamtwirtschaftlichen Kosten durch die „aufoktroyierte staatliche Schrumpfpolitik“[iv] zu befreien. Die bisherigen Finanzhilfen aus dem Rettungsfonds haben ausschließlich der Finanzierung von auszuzahlenden Staatsschulden an die Gläubiger gedient[v] und damit ein groß angelegtes Umverteilungsprogramm von Privatgläubigern hin zu staatlichen Absicherungen dargestellt. Für die Entwicklung der Infrastruktur in Griechenland und der Stimulierung der Wirtschaft wurden bisher keinerlei Finanzhilfen zur Verfügung gestellt. Die bisherige Politik der starken Staaten der EU ist darauf ausgerichtet, den griechischen Absatzmarkt mittelfristig zu stabilisieren, aber eine eigenständige ökonomische Entwicklung der griechischen Wirtschaft nicht zu fördern, um weiterhin hohe Profite der exportorientierten Nationalkapitale abzusichern. Mit dieser Politik sollen die bisherigen Schulden sozialisiert werden, um gleichzeitig neue private Profitmöglichkeiten für die Großunternehmen möglich zu machen.

Folge dieser falschen Finanzpolitik ist die ständige Zunahme der Staatsverschuldung Griechenlands, die von 2006 (107,3 Prozent des BIP) bis 2015 (179,5 % des BIP) stetig angestiegen ist. Allein im vergangenen Jahr hat aufgrund der falschen Politik der Troika die Neuverschuldung Griechenlands um 7 Milliarden Euro zugenommen.[vi]

Die Troika und die neoliberalen Regierungen haben schon im Vorfeld des Wahlkampfes in die innergriechischen Debatten eingegriffen und sowohl direkt als auch indirekt vor einer Wahl von SYRIZA gewarnt. Ziel war es, die griechischen Wählerinnen und Wähler einzuschüchtern, damit sie auf ihr Recht auf einen Kurswechsel verzichten.[vii] Mit dieser Kampagne sollten Vorbereitungen getroffen werden, im Falle eines Wahlsieges von Syriza eine negative Stimmung in den anderen von der Krise betroffenen Ländern zu erzeugen und zu verhindern, dass dort fortschrittliche Parteien wie z.B. Podemos in Spanien gute Wahlergebnisse erhalten.[viii] Die derzeit Herrschenden fürchten eine Beispielwirkung von Griechenland und setzen alles daran, den Wählenden zu vermitteln, dass auch eine Linksregierung gegen die Macht des neoliberalen Politikkartells keine Chance hat. Sie wollen durch ihre Politik ein Scheitern der Syriza-Regierung fördern und nehmen für die Sicherung ihrer Politik eine deutliche Stärkung von rechtspopulistischen und faschistischen Parteien und Gruppen in Griechenland und anderen Staaten der EU bewusst in Kauf.

Die Troika hat mit ihrer Politik eine katastrophale Entwicklung in Griechenland eingeleitet: „Die griechische Wirtschaftsleistung ist zwischen 2008 und 2014 um rund 25 Prozent kollabiert. Die Inlandsnachfrage brach preisbereinigt sogar um ein Drittel ein (2007-13), das sind 15 Prozentpunkte mehr als in den anderen europäischen Krisenländern. Die Bruttoanlageinvestitionen schmolzen preisbereinigt um 65 Prozent (2007-14), die Beschäftigung fiel um 20 Prozent.“[ix] Auch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) macht deutlich, dass „die nominalen Bruttoeinkommen der griechischen Privathaushalte in nur vier Jahren von 2008 bis 2012 um ein knappes Viertel gesunken“ sind.[x]

Toussaint weist in seinem Artikel weiterhin darauf hin, dass „im Artikel 7 Punkt 9 den Staaten unter struktureller Anpassung vorgeschrieben wird, eine gründliche Prüfung der Staatsschulden vorzunehmen, um zu klären, warum die Verschuldung übermäßig gestiegen ist, und Unregelmäßigkeiten aufzuspüren“[xi]. Er bezieht sich dabei auf die „Verordnung (EG) Nr. 472/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über den Ausbau der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung von Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind.“ In dieser Verordnung werden die Mitgliedstaaten ausdrücklich in Artikel 7 Punkt 9 aufgefordert, dass „ein Mitgliedstaat, der einem makroökonomischen Anpassungsprogramm unterliegt, … eine umfassende Prüfung seiner öffentlichen Finanzen durchführt, um unter anderem die Gründe für die Entstehung des übermäßigen Schuldenstandes zu analysieren und etwaige Unregelmäßigkeiten zu ermitteln.“ Die griechische Regierung hat mit ihrem Reformprogramm eine solche Prüfung ausdrücklich vorgenommen, wird jedoch von der Troika daran gehindert, politisch und ökonomisch sinnvolle Schlussfolgerungen aus dieser Analyse zu ziehen. Würde eine solche Prüfung durch die griechische Regierung akzeptiert, müsste die neoliberale Austeritätspolitik sofort beendet werden.

In dem „ÖkonomInnenaufruf für Griechenland“ wurde die Troika ausdrücklich aufgefordert, die „Entscheidung des griechischen Volkes, einen neuen Kurs einzuschlagen, zu respektieren und guten Glaubens in Verhandlungen mit der neuen Regierung Griechenlands zur Lösung des griechischen Schuldenproblems einzutreten. Die griechische Regierung besteht zu Recht auf neuen Konzepten, denn die bisherigen sind gescheitert“.[xii]

Die Syriza-Regierung versucht, mit ihrem Politikansatz eine Verständigung zwischen Troika und Griechenland herbeizuführen. Bei ihrem Kampf gegen die neoliberalen Dogmen geht es vor allem auch um die Rückgewinnung von Souveränität des griechischen Staates gegen die Diktatur aus Troika und den Gremien der Eurozone. Ziel ist es, durch eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik die Verbesserung der Lebensverhältnisse der breiten Bevölkerung in den Mittelpunkt der Politik zu stellen und eine jahrelange faktische Fremdherrschaft durch die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF zu beenden.[xiii]

Ziel der Syriza-Regierung ist es, die humanitäre Krise zu bewältigen, die rezessionsgeschwächte Wirtschaft zu stärken, einen Kampf gegen die grassierende Korruption und Schattenwirtschaft in Griechenland zu organisieren und die Einführung eines »gerechten« Steuersystems voranzubringen. Dies soll durch die Verabschiedung eines Vierjahresplans auf den Weg gebracht werden, der zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt führen soll.[xiv] Diese Politik wurde von der Troika von Anfang an torpediert. Die Troika versucht, der neuen Regierung ihre Bedingungen zu diktieren und sie auf den „alten“ Kurs der gescheiterten Regierung zurückzudrängen. Die Strategie der Troika geht offiziell von der Diagnose aus, dass die Hauptursachen der Finanzkrise in Griechenland in einer undisziplinierten Fiskalpolitik, zu hohen Löhnen sowie einem Mangel an Strukturreformen zu suchen seien.[xv] In der offiziellen Behauptung der Troika ist die Krise also vollständig „Made in Greece“.[xvi] Mit dieser Falschbehauptung soll von der wirklichen Ursache der Krise abgelenkt und die Politik der Exportorientierung der Hauptländer der EU weiter gesichert werden.

 

EU braucht radikalen Kurswechsel

Die neoliberale Logik der EU muss beendet werden. Ziel muss ein radikaler Politikwechsel in der EU sein. Hierfür ist eine Neuausrichtung der Finanzpolitik der EU notwendig. Es ist absurd, dass die EZB Banken mit billigem Geld zu Niedrigzinsen versorgt, die dieses Geld dann als teure Kredite an die Staaten weiterverleihen. In Zukunft müssen die Staaten direkt bei der EZB die Finanzierung ihrer Haushalte sicherstellen können. Weiter muss eine weitgehende Demokratisierung der EZB durchgesetzt werden, bei der demokratisch gewählte Parlamente die Politik der EZB überwachen und auch beeinflussen können.

Die bisherige Politik der Troika muss endlich beendet werden. Die Akteure der Troika „erpressten Minister, spielten sich zum Gesetzgeber auf und machten gemeinsame Sache mit den reichen Eliten. Die als Kontrolleure eingesetzten Technokraten aus IWF, EZB und EU-Kommission hatten in den Krisenstaaten eine Macht jenseits aller demokratischen Kontrolle“[xvii]. Dieses undemokratische Instrument der Herrschenden muss seine Arbeit einstellen und die Verhandlungen zwischen Regierungen müssen in die demokratischen Institutionen zurückverlagert werden. Dafür braucht es eine grundlegende Reform der Eurozone und der EU-Verträge.

[i] Siehe dazu: Michael Schlecht. Michael, Klartext zu Griechenland, 07.05.2015, S. 2 ff.
[ii] Siehe dazu: Joseph E Stiglitz, Carl E Walsh, Mikroökonomie: Band 1 zur Volkswirtschaftslehre, Oldenbourg Verlag, 2010, S. 508ff.
[iii] Siehe dazu: Michael Schlecht. Michael, Klartext zu Griechenland, 07.05.2015, S. 2 ff.
[iv] Hickel, Rudolf, Das Beispiel Griechenland: Die Rettungspolitik Finanzhilfen aus dem Rettungsfonds gegen staatliche Schrumpfpolitik ist gescheitert: Schuldenbewältigung durch Stärkung der wirtschaftlichen Wachstumskräfte, S. 1, o.Jahr.
[v] Ebd.
[vi] Ebd.
[vii] Toussaint, Eric, Und wenn Syriza die Europäische Union beim Wort nehmen und Griechenlands Schulden prüfen würde?, 31.01.2015.
[viii] Ebd.
[ix] : Priewe Jan/Stachelsky, Phillip, Griechische Depression – wenn die Chefärzte versagen, März 2015, S. 1.
[x] Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung: Tassos Giannitsis, Stavros Zografakis: Greece: Solidarity and Adjustment in Times of Crisis (pdf), Studie gefördert vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung; IMK Study 38, März 2015.
[xi] Ebd., S. 2.
[xii] ÖkonomInnenaufruf für Griechenland,
[xiii] Redaktion Sozialismus: Syrizas Erfolg hängt auch vom gesellschaftlichen Druck ab, Zwischen Konfrontation und Kooperation, 01.02.2015
[xiv] Ebd.
[xv] Siehe dazu: Priewe Jan/Stachelsky, Phillip, Griechische Depression – wenn die Chefärzte versagen, März 2015.
[xvi] Ebd.
[xvii] Harald Schumann, Harald, Die Troika: Macht ohne Kontrolle, in: Tagesspiegel, 24.02.2015.

DER €-STAAT UND SEINE ALTERNATIVEN. II

II. Die Gesellschaft der Gegenwart und ihr Staat

Unterscheidet etwas die Gesellschaft der Gegenwart von der Tradition, so ist es ihr Charakter als Gesamtsystem der Menschheit. Die Einheitlichkeit dieses Systems in seinem gesellschaft­lichen Charakter bedeutet: Wir alle spüren die Auswirkungen von Prozessen und Geschehnis­sen in anderen Teilen der Welt schnell im Alltag. Ein Putschversuch in Gambia und die fol­gende Repression treibt dort die Auswanderung weiter an. Österreichische Sicherheitskräfte auf der Inntal-Eisenbahn werden in einigen Wochen oder Monaten verstärkt Afrikaner aufgreifen und nach Italien zurückschicken. Und wenn die EU in der Ukraine eine Krise anzündelt, führt dies zu Kursverschiebungen zwischen dem € und dem US-$, und das wirkt auf die Schuldensituation Argentiniens zurück.

Aber dieser Charakter als Gesamtsystem bedeutet keineswegs Homogenität. Es ist vielmehr ein System von Differenzen. Differenzen heißt: unterschiedliche Lebens-Chancen und unter­schiedlicher Wohlstand. Überdies hat das System unterschiedliche Perspektiven und Aspekte. Das politische Weltsystem besteht aus Staaten, die sich durch Diplomaten vertreten lassen. Die verstehen sich bei allen Meinungsverschiedenheiten untereinander meist ganz gut. Sie sind gemeint, wenn das Propaganda-Vokabel von der „internationalen Gemeinschaft“ einge­setzt wird; sie bilden in vieler Weise ja wirklich eine Gemeinschaft gegen ihre Bevölkerun­gen. Sie haben auch einen eigenen Benimm-Kodex und nennen dies hochtrabend Völkerrecht.

Doch es gibt auch ein sozio-ökonomisches Weltsystem. Dies entstand und entsteht keines­wegs rein spontan. Es erwächst aus dem politischen Willen der Eliten in einem über Jahr­zehnte geführten multilateralen Verhandlungsprozess auf globaler und regionaler Ebene. Es wird dementsprechend auch in ganz spezifischer Weise strukturiert.

Diesen politischen Prozess des Aufbaus eines globalen Finanzkapitalismus meinen wir, wenn wir von Globalisierung sprechen.

Seien wir klar: Die EU ist nicht eine einzigartige Entwicklung, gewisser Maßen eine neue Gottheit der Menschheitsgeschichte. Sie ist schlicht die europäische Ausprägung und Einkleidung dessen, was wir Globalisierung nennen. Globalisierung ging und geht, u. a. als Regionalisierung vor sich.

II.0 Globalisierung: Der Finanzkapitalismus heute ˗ Trend und Brüche

Über Globalisierung lässt sich seriös nur mit größter Vorsicht sprechen. Das ist das Schicksal aller solcher Begriffe, die ˗ zu früh? zu allgemein? ˗ aus der analytischen Sphäre in den politi­schen Kampf abwandern. Sie werden zu militanten Slogans mit oft fast beliebigen Inhalten. Selbst die politische Einvernahmung durch ganz andere, gar nicht progressive Kräfte passiert. Auch außerordentlich konservative, ja reaktionäre Autoren gerieren sich heute als Globalisie­rungskritiker (Mayer 2014). So sollen denn die folgenden kurzenstärker etwas konkretisiert werden.

Die ökonomische Dynamik, „the perfect world envisioned by economists“ (Rajan), geht von einem Weltsystem aus. Aber es wird so schematisch und dogmatisch aufgefasst, dass es wahr­lich nur mehr professionelle Ökonomen erkennen, welche die Welt mit ihren Lehrbüchern verwechseln. Staaten verhalten sich in diesem Weltsystem wie Personen-Unternehmer auf einem überschaubaren Markt. Aber wenig überraschend: Das ist nicht so. Staaten bzw. Regierungen haben mit höchst komplexen Systemen zu tun.

Globalisierung, nämlich politisch voran getriebene Transnationalisierung / Transstatalisie­rung, ist ein Prozess, der von mehreren Zentren mit rechtunterschiedlichen Charakteren aus­geht. In Europa haben die hoch entwickelten Gesellschaften mit der EU einen supranationalen Staat aufgebaut und lagern ihr nunmehr die Peripherien aus dem seinerzeitigen „sozialisti­schen“ Lager an. Die USA verfolgen in ihrem nationalen Interesse ein Globalisierungs-Pro­jekt, das sie zu den unbefragten Herren der Welt machen soll. Aber kann man hier noch den Begriff national einsetzen? Nicht zu Unrecht hat man die USA einen „kosmischen“ Staat genannt, welcher jedes Weltgeschehen als ihre innenpolitische Frage betrachtet. Mit erhebli­chem Erfolg betreiben sie es, dem Rest der kapitalistischen Welt ihr inneres Rechtssystem aufzuzwingen. Und politische Eliten auch aus der schlecht entwickelten Welt schielen mit Neid nach Europa und versuchen, zumindest die Terminologie nachzuahmen: „Afrikanische Union“, etc.

Allein das bringt es mit sich, dass Globalisierung als Regionalisierung auftreten muss. Der Prozess, welchen wir als Globalisierung bezeichnen, und welcher die globale Welt heute konstituiert, kann also gar nicht als homogene Gesamtheit gesehen werden. Eine solche, weit verbreitete Auffassung ist eine hegelianische Irrlehre und ganz offenkundig falsch. Unglückli­cher Weise hält sich der Hegelianismus noch immer recht zäh, und zwar hauptsächlich in den Resten der Linken in der marxistischen Tradition.

Das hat, u. a., zur Folge, dass dort Globalisierung grundsätzlich positiv beurteilt wird, nach dem Muster alter sowjetischer oder DDR-Lehrbücher, die auch die Sklaverei „objektiv“ als „Fortschritt“ gegenüber Sammler-/Jäger- und Ackerbau-Gesellschaften sahen. Dieselbe Hal­tung finden wir heute bei nicht wenigen Linken, von der linken Sozialdemokratie, wie sie sich heute z. B. in der bundesrepublikanischen Partei Die Linke findet, bis zu manchen Abkömm­lingen der alten sowjetorientierten Kommunisten. Das hat aber dann auch zur Folge, dass die vorgeschalteten Analysen von ganz unzulänglichen Konzepten ausgehen. Wir kämpfen immer wieder die Kämpfe der Vergangenheit und versäumen damit nicht selten die Probleme der Gegenwart und der Zukunft.

Verstehen wir uns recht! Wir können nicht tabula rasa machen und völlig aus dem Nichts neu beginnen. Wir müssen die Instrumente verwenden, welche bisher schon entwickelt wurden, und müssen daraus auch neue Denk- und Analyse-Instrumente entwickeln. Überdies macht dies politisch viel Sinn. Die Eliten haben nach ihrer „Wende“ mit großem Erfolg versucht, die sozialistische Gedankenwelt, und insbesondere die marxistische Tradition von Grund auf zu zerstören. Dazu hatten sie alle Ursache. Wenn man die heutigen Zeitungen liest, begreift man nur zu gut, wie sehr sie sich dadurch noch immer bedroht fühlen. Wir aber stehen damit auch ein wenig in einer Doppelmühle. Wir müssen nicht nur die Probleme der globalen Welt heute mit Begriffen zu begreifen versuchen, die sich bestens bewährt haben. Wir stehen auch vor der Tatsache, dass sich auch jene Menschen, die wir ansprechen wollen, in dieser Terminolo­gie vielfach nicht mehr erkennen, ja, sie strikt ablehnen.

Die Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise ist eine Krise der Globalisierung und der darauf ausgerichteten politischen Strategie.

Die Finanzkrise entstand aus einer Bankenkrise vitalen Ausmaßes in den USA 2007/2008. Aber die Finanzkrise hat einen noch viel ausgeprägter globalen Aspekt, als dieser Verweis auf die USA es ohnehin schon erkennen lässt. Man kann sie ohne weiteres als eine fundamentale Entwicklungskrise des globalen Kapitalismus sehen. Wählt man diesen Blickwinkel, dann wird auch der Zeithorizont nochmals länger. Dabei erlebt man einige Überraschungen. Abläu­fe werden nun zum Teil dieser Krise, die man gewohnt ist, durchaus als eigenständig und gesondert zu betrachten. Die Ostasienkrise der Jahrtausendwende stellt sich nun neben die Euro-Krise, und letztere wird noch besser als die europäische Ausformung eines verallgemei­nerbaren Mega-Prozesses sichtbar.

„Bail out“

Dementsprechend tauchen auch Begriffe in ein neues Licht, welche wir untrennbar mit der Euro-Krise verbunden glauben. Bail out, die Verstaatlichung und Vergesellschaftung privater Verluste aus überzogenen Projekten auf Grund von massiv falschen Anreizen, finden wir nun nicht mehr nur in Griechenland und Spanien, sondern auch in Thailand und Malaysia (Stiglitz / Yusuf 2001; Sharma 2003). Und die Beschreibung des Ablaufs damals erinnert in Manchem an Griechenland.

Sehen wir etwas genauer hin! Bail out als Folge des „too big to fail“ ist im Grund nichts An­deres als die Feststellung: Der Kapitalismus der Gegenwart organisiert eine derart hoch ver­netzte Gesellschaft, dass es unverantwortlich wäre, strategische Organisationen, Unternehmen oder auch Staaten, bankrott gehen zu lassen. Das könnte das gesamte globale System gefähr­den. Ist das aber richtig und schieben wir einmal die Trittbrettfahrer dieser Feststellung beisei­te, die schäbigen Teilhaber und Spekulanten, dann heißt dies aber selbstverständlich: Die Vernetzung ist mittlerweile so hoch, dass eine private Organisierung der Wirtschaft eine Verantwortungslosigkeit ist. Denn Bankrotte wird, ja muss es immer geben. Ob man sie aber in der katastrophalen Form des Bankrotts ablaufen lässt, oder ob man unter den vielen Fällen von Versuch und Irrtum die vielen ganz unvermeidlichen Irrtümer auf eine geordnete Weise und zivil bereinigt, wird unter dieser Perspektive zur Systemfrage.

Denn die Debatte in der mainstream-Ökonomie über die notwendige Internalisierung der Kosten, der Verluste von Unternehmen und Banken etwa, ist unter diesem Blickwinkel reine Ideologie altliberaler Ökonomen. Die Unternehmen alle Folgen ihrer Handlungen selbst tra­gen zu lassen, wie die schöne Erklärung von Internalisierung lautet, ist in einer Gesellschaft wie der unseren gar nicht mehr wirklich möglich. Das gilt für die Wirtschaften der Entwick­lungs- und Schwellenländer ebenso wie für die hoch entwickelten Länder.

Das gilt nicht zuletzt auch für die Bemühungen um höhere Sicherheit des Finanzsystem durch, z. B., bessere Kapitalisierung der Banken. Dazu gehören vorrangig auch die Regel­systeme Basel I, II und III. Selbstverständlich ist es eine Verbesserung, wenn die Eigen­kapital-Anforderungen an Banken erhöht werden. Aber wie wenig dies allein nützt, zeigen die Vorschläge, die von manchen besorgten Ökonomen kommen, und die wesentlich weiter gehen: 20 % bis 30 % Eigenkapital schlagen etwa Admati / Hellwig vor. Aber im Grund reicht auch dies nicht. So gibt es andere, die zu einem alten System zurück kehren wollen und eine Golddeckung befürworten. Das Problem, welches dahinter steht, ist im Grund recht einfach: Ein einzelnes Unternehmen kann die notwendige Sicherheit nicht gewährleisten. In der heutigen hoch vernetzten Welt ist es die Gesellschaft als solche, welche diese Bürde zu übernehmen hat. Das tut sie ja leider auch. Allerdings geschieht dies nur zum Nutzen der winzigen Oligarchie.

Wie wenig die vielleicht gut gemeinten Bemühungen wirklich gefruchtet haben, zeigt ein Detail: Seit 2008 hat sich das „too big to fail“-Problem verschärft, nicht entspannt. Viele Banken sind heute deutlich größer als vor dem Ausbruch der Krise.

Der „Crony-Kapitalismus“, der Kapitalismus der persönlichen Beziehungen in den Schwel­lenländern, wird von Apologeten umgeschrieben zum gemanagten Kapitalismus. Dieser Ausdruck ist überhaupt aufschlussreich. Er erinnert akut an dem Organisierten Kapitalismus des Maurice Dobb (1966), der es vor einem dreiviertel Jahrhundert allerdings in einer ganz anderen Weise kritisch meinte. Halb polemisch, halb analytisch könnten wir auch sagen: Das ist eine List’sche Entwicklungs-Strategie für Schwellenländer im Spätkapitalismus, die Entwicklung unter staatlichen Schutz, der allerdings die klientelistischen Formen der traditionalen Gesellschaft annimmt.

Von all diesen Begrifflichkeiten ist es nicht mehr weit zum STAMOKAP der hoch entwickel­ten westlichen Gesellschaften, zum Staatsmonopolistischen Kapitalismus aus dem Theorie-Fundus der moskau-orientierten kommunistischen Parteien der 1970er und 1980er. Was hat es nun mit dem auf sich, und ist er für unsere Interessen anwendbar?

II.0.1 Finanzkapitalismus

Die Finanzkrise hat dazu geführt, dass auch vielen Verteidigern des Systems unbehaglich wurde. Es geht ihnen darum, dieses System durch Reformen zu stabilisieren. Kennzeichnend ist die Argumentation bei Rajan 2011, einem ehemaligen Chef-Ökonomen des IMF. Nachdem er klargestellt hat, dass er das „freie Unternehmertum“ für die besten aller Welten hielte, wenn sie entsprechend gestaltet ist; in manchmal erstaunlicher Weise analysiert er „Bruchlinien“ der heutigen Welt. Allerdings muss man auch da hinsehen. Er betont, dass nicht die Wirtschaft, sondern die Politik die Verantwortung für die Finanzkrise trägt, und wiederholt zweimal nacheinander, dass „wir alle“ mitschuld sind. So schwenkt er wieder voll auf die Ideologie des Finanzkapitalismus ein.

Der Finanzsektor, so schreibt er (p. 106), ist das Hirn der modernen Ökonomie. „Wenn er gut funktioniert, weist er die Ressourcen effektiv zu, sorgt für Wachstum, … bietet breite Mög­lichkeiten und bringt Privilegien zu Fall…“ Diese Elogen klingen schon verdächtig. Tatsäch­lich ist Geld der Regelmechanismus einer Marktwirtschaft. Die Organisation des Finanzsek­tors aber macht den institutionellen Rahmen für das Geld aus. Soweit die nüchterne Tatsache. Wenn Länder schlecht entwickelt sind, ist in der Regel auch das Finanzsystem schlecht entwickelt. Crony-Kapitalismus setzt sich nun aber am liebsten im Finanzsystem fest, weil dort die Korruptions-Möglichkeiten noch größer sind als im Produktions-System.

Doch allein, dass dieser zentrale Institutionen-Verbund privat organisiert ist und ausschließ­lich auf zugespitzten Profit-Interessen aufbaut, auf Profit-Interessen, die zum Paradigma aller Schäbigkeiten des Kapitalismus wurden, kennzeichnet am besten das System. Der Zugang zu Kredit ist in einer hochkomplexen arbeitsteiligen Wirtschaft wahrlich von fundamentaler Bedeutung. Allein die Bemühungen um die Mikro-Kredite in Entwicklungsländern zeigen die Schlüsselfunktion für die wirtschaftlichen Prozesse. Aber bei der Regulierung dieses Mons­ters, des Finanz-Sektors, geht es um eine Reihe von Eigenschaften dieses Systems.

II.1. Einkommen und Einkommens-Ungleichheit: der zentrale Punkt

Das Einkommen und seine Verteilung in den letzten Jahrzehnten ist eine Frage, die für man­che sehr technisch klingt. Aber hier gibt es eine neue Aufmerksamkeit. Der Sensations-Erfolg des Thomas Piketty (2013, deutsch 2014) hat auch die dominanten Kräfte alarmiert, soweit sie ein bisschen Hirn aufbringen. In Österreich ist eine der Antworten darauf die Steuer-Reform. Sie wurde und wird dazu benützt, um die Ungleichheit zu vergrößern und die Bevölkerung eine Zeitlang zu kalmieren.

In der Nachkriegszeit hatte Simon Kuznets (1955), ein Ökonom, der noch ein wenig von der Tradition der alten Politischen Ökonomie samt ihrer marxistischen Ausformung mitbekam und dadurch befähigt wurde, maßgeblich die VGR mitzuentwickeln, begonnen, sich um die Einkommensverteilung Gedanken zu machen. An der britischen Geschichte konnte man ablesen: Im Lauf der Industriellen Revolution stieg die Einkommens-Ungleichheit gegenüber der vorherigen sogar noch an. Erst im 20. Jahrhundert sank sie dann deutlich. Diese Bewe­gung, die Kuznets-Kurve, interpretierte er als allgemeines Gesetz. Er zog daraus die tröstliche Gewissheit: Im Kapitalismus wird letztendlich doch alles wieder gut.

Kaum zwei Jahrzehnte später konnte er es besser sehen. Erst langsam, mit der Nixon-Präsi­dentschaft von 1969 ˗ 1975, dann unter Reagan aber umso schneller, wandelte sich die Kuznets-Kurve zur Großen U-Kurve („the Great U-turn“). Die Ungleichheit allgemein (z. B. der Gini-Koeffizient), aber insbesondere die Anteile ganz oben des obersten Prozents und des obersten Promilles, stiegen in unglaubliche Höhen.

Die politische Förderung der Oligarchie seitens des Reagan-Regimes verstärkte die wider­sprüchlichen Verhältnisse in den USA. Das angeblich reichste Land der Welt hat eine Ein­kommensstruktur, wie wir sie sonst nur in Entwicklungsländern sehen. Dem entsprechen auch die wesentlichsten Wohlstands-Indikatoren, etwa die Lebenserwartung bei Geburt: Sie ist viel niedriger, als es einem hoch entwickelten Land entspräche, niedriger als in Westeuropa, wo das BIP p.c. offiziell deutlich niedriger liegt.

 

Graphik: Der Anteil des obersten Prozent am Gesamteinkommen, in %

QuellePiketty

Quelle: Piketty

Die USA spielen den Vorläufer und geben den Ton an. Hier liegt der Anteil des obersten Prozents tatsächlich bereits höher als 1915 (17,6 %). 2007, unmittelbar vor Ausbruch der Finanzkrise aber stand er auf 23,5 %, und 2010, mitten in der Krise, wieder bei 19,8 %. Nur einmal in der Zwischenzeit, im Jahr 1928, direkt vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise mit ihren Katastropen, lag er mit 23,9 % auf derselben Höhe. Diese Parallele in der extremen Ungleichheit und der Explosion der Krise ist kein Zufall, wie der konservative Rajan (2010) betont.

Großbritanniens aristokratisch-bürgerliche Gesellschaft hielt länger an. Daher hatte der Anteil der Superreichen noch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einen besonders hohen Wert (1940: 15,4 %). Aber auch dort sank er danach beträchtlich. Direkt vor Thatcher erreichte der Anteil mit 5,7 % (1978) einen untersten Wert, und seither geht es nahezu unaufhaltsam in die Höhe (2010: 14,7 %).

Schweden schließlich ist zwar noch immer gegen die beiden anderen Gesellschaften vergleichweise egalitär. Aber die allgemeine Ungleichheit steigt noch schneller als dort. Hier ist der Anteil der Superreichen mit 7,1 % im Jahr 2008 fast schon bescheiden, aber im Vergleich zu 4,4 % 1990 um so stärker gestiegen. Schweden hat ein etwas eigenes Modell: Die dortigen politischen Eliten haben nicht zuletzt die Ungleichheit im Rahmen der Mittelklasse gefördert.

 

Wir können den Unterschied zwischen der Vor-Reagan-Zeit und des heutigen neoliberalen Zeitalters, zwischen, sagen wir: 1975 und 1999, an den Ideologen und Ideologien nicht schlecht erkennen. 1975 argumentierte ein US-Ökonom in einem danach weit verbreiteten und viel zitierten Büchlein: Un­gleichheit ist notwendig, damit die Anreizstruktur für Leistungen stark genug ist, und alle dadurch gewinnen, auch die unteren Schichten (Okun 1975): Unequality and efficiency ˗ the big trade-off. Es geht mir hier nicht um die Richtigkeit des Arguments. Es geht um die Gegenüberstellung zu einem andern Text gut zwei Jahrzehnte später. 1999 heißt es von einem sehr prominenten anderen US-Ökonomen: „Ungleich­heit als solche ist kein Problem… Politik sollte sich nicht um Ungleichheit, sondern um Armut kümmern“ (Feldstein 1999). Und er wendet sich ausdrücklich gegen das „funktionelle Argument“, wie er es nennt. Und er schreibt weiter: „…“ Auch hier geht es vorerst nicht um die Argumente selbst. Es geht nur um die Stimmung. Seinerzeit bemühte man sich noch, die Ungleichheit zu rechtfertigen. Später und heute sagt man nur mehr: Die hohen Einkommen der Superreichen sind per se gut. Feldstein war Reagan-Berater. Diese Aussagen vom ihm ist heute in der EU gang und gäbe. Man könnte das Glaubensbekenntnis der Europäischen Kommission kaum kürzer zusammenfassen.

In einem umfangreichen Interview in der Zeit vom 15. Jänner 2015 positioniert sich Mario Draghi in der Zeit seines Studiums im „liberalen Sozialismus“, d. h. der Sozialdemokratie. Wie könnte man letztere besser charakterisieren als mit der Person Draghi?

 

Graphik: Ungleichheit im internationalen Vergleich

Quelle: Piketty, website

An diesem Vergleich kann man die unterschiedlichen Modelle der Ungleichheit erkennen. Die USA stechen in allen Kategorien heraus. Von den Entwicklungsländern, die gewöhnlich eine besonders hohe Gesamt-Ungleichheit zeigen, unterscheiden sie sich dadurch, dass sie ihre Unterschichten nicht verhungern lassen. Aber sie bilden das Muster der Ein-Viertel-Gesellschaft. Die Früchte des Produkti­vitätsgewinns gehen ausschließlich an die obersten Gruppen. Von jedem Dollar, den sie seit 1976 zusätzlich erwirtschaftet haben, gingen 58 Cent an das oberste Prozent, und der Rest fast zur Gänze an die 9 % darunter.

De Europäer, die BRD, Frankreich, Schweden, sind ein gewisses Alternativ-Modell. Hier bevorteilt die Ungleichheit die gesamte Obere Mittelschicht. Allerdings wachsen auch hier die Anteil des obersten Prozents bzw. des obersten Promilles. Das US-Modell setzt sich langsam durch.

China ist aus Datenmangel nicht unmittelbar vergleichbar. Soweit man erkennen kann, nimmt dort die Ungleichheit aber langsam die Ausmaße von Chile, Brasilien und Südafrika an.

 

Die britische Regierung beeilte sich ab 1980, dem US-Vorbild nachzueifern. Tatsächlich hat sich dort danach auch der Anteil des obersten Prozents fast verdreifacht.

An der Oberfläche ist Westeuropa keine Einheit. Aber die Entwicklungs-Tendenzen sind doch überall dieselben. Ein Wunder? Gehört doch die Region inzwischen fast zur Gänze zur EU. Auch die einzig nennenswerten Ausnahmen, die Schweiz und Norwegen, bemühen sich, „autonom“ dieselbe Politik nachzuvollziehen. In beiden Staaten wollten die Eliten sich formell dem Brüsseler / Berliner Zentrum unterwerfen. Im letzten Moment gelang es der Bevölkerung, dies mehrheitlich in Volksabstimmungen abzuwenden. Aber die Eliten führen doch die Politik, welche sie wünschen.

Trotzdem hat sich die Entwicklung in Westeuropa um ein- bis eineinhalb Jahrzehnte gegen­über jener in den USA verschoben. Erst als die Lissabon-Strategie zur strategischen Ziel­setzung der Bürokratie avancierte, war dies nicht mehr aufzuhalten. Mitte der 1990er begann die Ungleichheit auch in Frankreich, den BeNeLux-Ländern und in Skandinavien zu steigen. Gerade dort ist die Schub-Umkehr ausgeprägt. Deutschland ist wegen des Anschlusses der früheren DDR ein Fall für sich. Wir werden noch darauf zurück kommen.

II.1.1 Ungleichheit und Finanzkrise

So, wie die Finanzkrise sich zuerst in den USA manifestierte, war sie nicht zuletzt auch ein Ergebnis der rapid wachsenden Ungleichheit in dieser Gesellschaft. Die Immobilienblase und die daraus erwachsende Subprime-Krise entstand aus dem Versuch, die Einkommen nach oben zu den Bestverdienenden zu verschieben, und doch den Unterschichten zu ihrer Beruhi­gung etwas zukommen zu lassen. Es war ein ökonomisch-politisches Perpetuum Mobile. Die Einkommen der Unterschichten bis in die unteren Mittelschichten hatten aufgehört zuzulegen, für die unteren Unterschichten sanken sie sogar. Der „amerikanische Traum“ kam ins Wanken.

Das geschah nicht zum ersten Mal. Schon früher hatte die Politik reagiert, indem sie sich vor allem einer Komponente dieses Traums annahm. Zumindest ein Haus sollten alle Familien haben. Was dies freilich in den USA häufig bedeutet, muss einmal in einer Containerschachtel ein paar Wochen gewohnt haben, die man dort Haus nennt. Egal. Bereits Mitte des Jahrhun­derts waren Fanny Mae (FNMA ˗ Federal National Mortgage Association) und Freddy Mac (FHLMA ˗ Federal Home Loan Mortgage Corporation) gegründet worden. Sie sollten leist­bare Kredite auch an Personen vergeben, welche als Schuldner nicht allererste Güte verkör­perten (über die Gründung, sehr kurz und ideologisch-polemisch, vgl. Rajan 2010). In den 1990er beschloss der Kongress, die niedrigen Einkommen und ihr Sinken mit Krediten aufzu­bessern (1992 Federal Housing Enterprise Financial Safety and Soundness Act ˗ FHEFSSA).

Nun entdeckten aber die Banken, dass man das viele Geld, welches auf Grund der steigenden Einkommen oben eine Anlage suchte, auf Grund der höheren Zinsen profitabel und ˗ wie sie glaubten ˗ ohne Risiko in solche Kredite stecken konnten. „Kundenberater“, d. h. von ihren Vorgesetzten gedrängte Makler, gaben Kredite an Personen ohne Einkommen, ohne Jobs, ohne irgendwelche Sicherheiten, selbst ohne ausreichende Dokumentation über die Verhält­nisse („liar-Kredite“) nur auf die Annahme hin, dass die Hauspreise ewig weiter steigen würden. Um die Risiken außer Haus zu haben, bündelten sie diese NINJA-Hypotheken und -Kredite in eigenen Derivaten (Wertpapieren) und verkauften sie auf dem Finanzmarkt (securitization). Aber selbst kauften sie auch solche Papiere von anderen Banken.

Die Polemik des heutigen indischen Nationalbank-Präsidenten Rajan gegen die US-Politik rund um die Subprime-Krise ist trotz der grundlegenden und lesenswerten Einsicht in den Zusammenhang von Ungleichheit bzw. fallenden Einkommen der Unteren und Unteren Mittelschichten durchaus ideolo­gisch. Er schiebt die eigentliche Verantwortung ausschließlich auf die Politik ˗ und exkulpiert damit den privaten Banken-Sektor. Nun steht die politische Verursachung dieser Krise in gewisser Hinsicht außer Zweifel. Doch gleichzeitig hätte es diese Krise nur durch das Handeln von „Fanny“ und „Fred­dy“ vermutlich nicht gegeben. Sie entstand erst aus dem Versuch der privaten Banken, diese Politik zu instrumentalisieren und vor allem das implizite bail out-Versprechen der Politik zu nutzen. Das ist wichtig genug, und wir werden gleich noch darüber sprechen. Aber die Stoßrichtung des konservati­ven Autors ist klar: Es geht gegen eine Politik, welche versucht, die Unterschichten in irgend einer Weise doch noch zu berücksichtigen.

 

Graphik: „Let Them Eat Credit!“

 

Quelle: OECD

Bei den Privatschulden handelt es sich zum größten Teil um Hypotheken für Haus bzw. Wohnung. Es sind langfristige Schulden, die aber gröbste Folgen haben, wenn sie „notleidend“ wären, also die Schuldner mit der Rate in Verzug kommt. Die Folge ist faktisch Enteignung und nicht selten Obdachlosigkeit. Der Versuch, mittels Krediten über fallende Einkommen hinwegzutäuschen, ist ebenfalls ein gewöhnliches Phänomen einer sich aufbauenden Krise.

 

In einer fast drolligen Weise spricht er dann einmal (107) von einer notwendigen „Demokratisierung des Kredits“. Wäre das ernst gemeint, so müsste es die langfristige, über ein Leben gerechnete Einbindung der gesamten Bevölkerung in den geordneten Ablauf des wirtschaftlichen Lebens, die Teilhabe aller an den gesellschaftlichen Ressourcen sein. Das gesagt, ist klar: In dieser Eliten-Marktwirtschaft, dem Finanz-Kapitalismus, ist dies ein Traum. Am nächsten heran kam daran der Sozialstaat Ende des 20. Jahrhunderts. Nun aber geht die Reise seit geraumer Zeit wieder weg von ihm. Eine solche Vorstellung ist unter diesen Umständen ein Widerspruch in sich.

Zinsen sind und waren in diesem Prozess eines der Probleme, in den USA und erst recht in Europa, in der Eurozone. Die Zinsen z. B. für die Staatsschuld, aber selbstverständlich auch die Zinsen für die privaten Unternehmen waren in der Vor-€-Zeit enorm hoch. Da auch die Inflation hoch war, waren die Realzinsen gemäßigt, solange man sich innerhalb des Wäh­rungsgebiets befand. Aber das galt für einen erheblichen Teil der Staatsschuld nicht.

Bereits mit der Aussicht auf die Währungsunion begannen die Inflationsraten und auch die Zinsen in den 1990er auch in Südeuropa zu sinken. Und damit begannen auch die Probleme.

Zinsen sind ein Teil des Profits, und zwar ein besonders parasitärer Teil. Was kann man sich also Besseres wünschen als niedrige (Real-) Zinsen?

Aber das Problem ist: Zinsen sind gleichzeitig eines der wenigen Lenkungsinstrumente, wel­che die Wirtschaftspolitik hat und einsetzt. Sie sind ein Regulator des Wirtschaftsablaufs überhaupt. Mit der Höhe der Zinsen werden auch die Ressourcen und ihre Allokation, ihr Einsatz in der Produktion, gelenkt. Solange eine kapitalistische Marktwirtschaft existiert, sind Zinsen in gewissem Ausmaß ein notwendiges Steuerungselement. Wenn also die Zinssätze auch für jene sinken, welche ein erhöhtes Kredit-Risiko bilden, oder aber, welche in der Produktivität nicht mit den fortgeschrittensten Sektoren mithalten können, wird es bald Probleme geben.

Nicht so ganz nebenbei muss man hier allerdings dazu sagen: Als Lenkungs-Instrument wer­den Zinsen und Zinssätze überschätzt. Die Zins-Sensitivität der Unternehmen ist für gewöhn­lich keineswegs besonders hoch. Im Aufschwung übertönt sie der Optimismus der Unterneh­mer. Und im Abschwung bzw. in der Krise können die Zinsen noch so niedrig sein. Wenn die Unternehmen keine Profitgelegenheit sehen, z. B. wegen Mangel an Kaufkraft des Publikums, werden sie auch nicht investieren. Die Nullzins-Politik der Gegenwart zeigt dies gut genug.

So nebenbei: Dies ist auch eine Politik, um den Banken ihre Gewinne zu sichern und zu stei­gern. Wenn sie von den Haushalten zu 0 % Geld bekommen ˗ „Haushalte“ ist der ökonomi­sche Jargon für alle Akteure, die nicht als Unternehmen auftreten, auch wenn sie es vielleicht sind ˗ , es aber zu relativ hohen kosten weiter verleihen können, dann ist es geradezu unmöglich, nicht erhöhte Gewinne zu machen.

Aber es gibt einen „Sektor“, der vergleichsweise zinsempfindlich ist: die privaten Haushalte. Das hat insbesondere in den USA beigetragen, die Immobilienblase besonders stark aufzu­blähen und die Subprime-Krise aufzubauen. Aber auch in Europa gibt es Länder, welche eine hohe private Verschuldung aufweisen, die nicht zuletzt durch die niedrigen Zinsen getrieben war und ist, Spanien, Schweden, Dänemark. Ungarn ist insofern ein Sonderfall, als die Menschen dort in besonders riskante Kredite hinein gelockt wurden, auch wenn der Kennwert gesamtwirtschaftlich nicht so hoch erscheint.

Doch auch in Europa begann in der Zwischenzeit die Ungleichheit zu wachsen. Und die Entwicklung, die sich daraus ergab, war strukturell nicht ganz so unterschiedlich zu der in den USA. Sie wurde hier aber durch zwei entscheidende Prozesse geformt und erhielt die uns vertraute Gestalt. Die südliche europäische Peripherie, der Olivengürtel, war nach dem Sturz der Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien in den 1980ern in die EG aufgenom­men worden. Italien war seit Anfang Mitglied. Die Idee hinter dieser Süderweiterung war doppelt: Zum Einen wollte das nordwesteuropäische Zentrum seinen Anspruch auf diese Zone dokumentieren und sichern. Das war implizit auch gegen die USA gerichtet.

Dann aber sollte der Olivengürtel im Sinne des Zentrums gestaltet werden. Seine ökonomi­sche Funktion sollte sein, für den Kern neue Märkte darzustellen. Dieser Luxemburg’sche Impuls (nach Rosa Luxemburg, die diesen Aspekt stets betonte) wurde entwicklungspolitisch gerechtfertigt: Diese Länder bzw. Gesellschaften sollten einen „Konvergenz-Prozess“ durch­machen und an das Entwicklungs-Niveau Westeuropas heran geführt werden. Dazu gehörte aber auch die Absicherung der politischen Legitimation durch ein parlamentarisches System. Vergessen wir nicht: Dies spielte sich noch in den 1980ern ab, vor dem Zusammenbruch des Sowjet-Systems und dem forcierten Kurs auf einen supranatio­nalen Staat. Noch war die EG ein doch einigermaßen funktionierendes supra-imperialistisches Staatenbündnis. Die Einheitliche Europäische Akte wurde erst beginnend mit 1986 entwickelt, dem Jahr, als Griechenland beigetreten war.

Die Wirtschaftsstruktur des Südens war gekennzeichnet durch einen ziemlich hohen Agrar-Anteil, niedriges Pro-Kopf-Produkt und eine klientelistische Rolle für den Staat. Die Zinsen sowohl für die Privaten wie auch die Staatsschulden waren hoch.

Der Kurs auf die Einheitswährung änderte mittelfristig sehr viel. Die Bundesdeutschen hatten die Maastricht-Kriterien durchgesetzt. Die hatten zwar mit der Eignung für eine Währungs­union kaum etwas zu tun. Aber sie sollten einerseits die dogmatischen deutsche Ökonomen und Politiker beruhigen und mit ihnen auch die Bevölkerung. Zum anderen waren sie als Disziplinierung für die peripheren Staaten gedacht. Die „innere Abwertung“ war damit bereits entworfen.

 

NZZ, 9. Juni 2010

“ Es war das billige Geld, das unter der Ägide beiderlei politischer Couleur den Boom antrieb und zum Absturz in die Schuldenfalle führte. Sowohl die privaten Haushalte als auch der Staat ließen es sich gut gehen. … Das leichte Geld war der Treibstoff zum Aufschwung der letzten Dekade. Es blähte vor allem die Bauwirtschaft, die Infrastruktur und den Staatsetat auf. … Analysten schätzen, dass mehr als ein Drittel der ausstehenden Hypotheken wackelig sind. … Planerische Sünden wie Cumbre del Sol und eine Vielzahl weitere Ungeheuerlichkei­ten sind nur durch das Virus der Korruption zu erklären…“

Wenn knochenkonservative Zeitungen über das „billige Geld“ jammern, ist Vorsicht am Platz. Das gehört zum altbackenen Konservativismus, weil der am liebsten einen Geldmechanismus, einen Goldstandard hätte. Doch die Baublase und -korruption in Spanien ist tatsächlich Folge der EU und €-Politik „at its best“. Die angebliche Konvergenz, u. a. der Zinssätze, erwies sich längerfristig als optische Täuschung.

 

Aber das Finanzsystem fasste dies anders auf. Für die Banken stellte dies ein Bail out-Ver­sprechen dar ˗ und wie es sich später zeigte, war diese Einschätzung korrekt. Die enorm hohen Zinsen begannen also schnell zu sinken. Kreditaufnahmen wurden damit möglich, welche vorher in diesem Umfang nicht gegeben waren. Das galt mindestens ebenso für die Privaten wie für den Staat. Letzteres lässt sich nicht zuletzt damit belegen, dass die Staats­schulden Anfang der 1990er höher waren als 2007. Das eigentliche Problem waren also nicht sosehr die öffentlichen Schulden. Aber sowohl private wie öffentliche Schulden wurden eingesetzt, um die Bevölkerung über die fatale Entwicklung der Produktivität hinwegzu­täuschen, welche durch die steigende Ungleichheit geschaffen wurde. Und der Wahnsinn des gemeinsamen Währungsrahmens erlaubte nunmehr keine adäquate Reaktion mehr darauf.

In diesem Sinn haben die konservativen Zyniker und ihre publizistischen Kettenhunde recht, wenn sie schreien: „Die Griechen haben über ihre Verhältnisse gelebt!“ Das verfügbare Ein­kommen der privaten Haushalte in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland ˗ nicht in Italien ˗ stieg verhältnismäßig stark seit der Mitte der 1980er. Und besonders zu beachten ist: In den nördlichen und westlichen Ländern war es das Einkommen der Oberen Mittelschicht und vor allem der Oberschichten, das stieg. Dort nahm die Ungleichheit in diesem Zeitraum bereits zu, besonders schnell seit Ende des Jahrtausends. Im Olivengürtel ˗ mit Ausnahme Italiens ˗ aber nahmen auch die Haushalts-Einkommen der Unterschichten zu, und zwar sogar geringfügig stärker als die der Oberen Mittelschicht. Die Oberschicht, die Elite, das oberste 1 % (Perzentil) freilich konnte auch dort abräumen. Aber die Unterschichten versuchte man für das politische Projekt „Europa“ einzukaufen.

Und man hatte rund zwei Jahrzehnte damit Erfolg. In der Zwischenzeit hat die Troika den Fehltritt steigender Einkommen für die Unterschicht freilich behoben. Die Geschichte hat sich umgekehrt. Seit 2008 haben zwar alle Schichten (vielleicht mit Ausnahme der Eliten ˗ das wissen wir nicht so genau) verloren. Aber die Unterschichten verloren sehr viel mehr als die Oberen Mittelschichten und sind mittlerweile zum Teil sogar am Rand des Hungers.

 

Graphik: Die angebliche Homogenität des Euroraums

Quelle der Daten: EUROSTAT-Datenbank Die Zinssätze sind neben der Inflationsrate und natürlich der längerfristigen Stabilität des Wechselkurses ˗ und längerfristig heißt nicht zwei Jahre, sondern mindestens fünf ˗ die einzigen sinnvollen Kriterien, die spezifisch das Währungsproblem betreffen. Denn sie leiten die Kapitalströme und sind damit entscheidend für die Stabilität. Ein Blick auf die Abbildung genügt, um die Verrücktheit einer Einheitswährung im Sinne der eigenen sonst so hoch gehaltenen Theorien der Befürworter zu erkennen. Zwischen 2000 und 2006 allerdings funktionierte die Angelegenheit, weil die Banken auf das Bail-out  setzten. Und das kam auch, gegen jede Vereinbarung und das eigene EU-Recht.
Quelle der Daten: EUROSTAT-Datenbank 

Quelle der Daten: EUROSTAT-Datenbank

Die Zinssätze sind neben der Inflationsrate und natürlich der längerfristigen Stabilität des Wechselkurses ˗ und längerfristig heißt nicht zwei Jahre, sondern mindestens fünf ˗ die einzigen sinnvollen Kriterien, die spezifisch das Währungsproblem betreffen. Denn sie leiten die Kapitalströme und sind damit entscheidend für die Stabilität. Ein Blick auf die Abbildung genügt, um die Verrücktheit einer Einheitswährung im Sinne der eigenen sonst so hoch gehaltenen Theorien der Befürworter zu erkennen.

Zwischen 2000 und 2006 allerdings funktionierte die Angelegenheit, weil die Banken auf das Bail out setzten. Und das kam auch, gegen jede Vereinbarung und das eigene Recht der Herrschaften.

 

Es war im Grund derselbe Mechanismus und derselbe Vorgang wie in der Subprime-Krise der USA. Die Kanäle waren freilich etwas anders, und teils anders war dementsprechend auch das Versprechen. In Europa war es nicht der Perpetuum Mobile-Charakter, der Münchhausen-Charakter von steigenden Immobilienpreisen und steigenden Konsumentenschulden, der wirkte. Hier war es das u. a. Versprechen des Staats, z. B. in Griechenland: Ihr kriegt bei mir einen sicheren Job, wenn ihr für die Regierung stimmt.

Die „Staatsschuldenkrise“ wurde freilich erst erfunden, als man sie 2008 / 10 kreierte, um von den wesentlicheren Problemen abzulenken ˗ und um sie zu instrumentalisieren.

Bleiben wir vorerst in Österreich. Wir könnten auch nach Deutschland oder nach Schweden gehen. Dieses Land hat der hiesigen Sozialdemokratie jahrzehntelang als Vorbild gedient; jedenfalls berief man sich stets darauf. Dort ist der Prozess vielleicht noch deutlicher. In Österreich verlief er bisher etwas diskreter. Aber wir leben nun einmal hier, und damit sind uns die hiesigen Verhältnisse am nächsten.

Die Einkommen der Unterschichten und auch der unteren Mittelschichten sinken real, also wenn man die Kaufkraft berücksichtigt. Je weiter man in der Verteilung nach oben geht, umso geringer ist der Einkommens- und Kaufkraft-Verlust. Etwa ab dem letzten Viertel beginnen die Einkommen im Vergleich vor 10 Jahren sogar etwas zu steigen. Das oberste Prozent (Perzentil) gewinnt ganz erheblich. Die darunter liegenden 10 % immerhin auch noch. Der eigentliche Wendepunkt in der Entwicklung ist das drittel Viertel (das 3. Quartil).

Wir sprechen also mit gutem Grund von der Ein-Viertel-Gesellschaft, und das ist keineswegs einfach Polemik. Die Zeiten, wo man von der Zwei-Drittel-Gesellschaft sprach und mit gutem Gewissen sprechen konnte, sind lang vorbei.

 

Literatur

Admati, Anat R. (2014), The Compelling Case for Stronger and More Effective Leverage Regulation in Banking. J. of Legal Studies, forthcoming (Jan 2015).

Dobb, Maurice (1966), Organisierter Kapitalismus. Fünf Beiträge zur Politischen Ökonomie. Frankfurt: Suhrkamp.

Feldstein, Martin (1999), Reducing Poverty, not Inequality. In: The Public Interest 137 (www.nber.org/feldstein/pi99.html ˗ download: 16. Januar 2015)

Kuznets, Simon (1955), Economic Growth and Income Inequality. In: AER 45, 1-28.

Kuznets, Simon (1958), Long Swings in the Growth of Population and in Related Economic Variables. In: Proceedings of the Am. Phil. Society 102, 25 – 52.

Meyer, Henning / Watt, Andrew (2014), Die Zehn Mythen der Eurokrise. … und warum sie falsch sind. IMK SE Publishing.

Okun, Arthur M. (1975), Equality and Efficiency: The Big Tradeoff. Washington, DC.: The Broo­kings Institution.

Rajan, Raguram G. (2010), Fault Lines. How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy. Princeton: Univ. Press.

Sharma, Shalendra (2003); The Asian Financial Crisis. Crisis, Reform and Recovery. Manchester: University Press.

Stiglitz, Joseph E. / Yusuf, Shahid, eds. (2001), Rethinking the East Asian Miracles. Oxford / World Bank: University Press.